Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Lektüre und Meditation
Auseinandersetzung
Wer nicht einen Standpunkt behaupten und aufzwingen, sondern auf jene Tiefe in den Menschen, aus welcher alle schöpferischen Impulse hervorgehen, wirken und damit ihr Sein fördern will, kann nicht umhin, ein Feind der Auseinandersetzung zu sein. Diskutieren bedeutet kämpfen, wer kämpft, schließt sich innerlich vor seinem Gegner ab, denn gäbe er innerlich zu, dass dieser vielleicht, zum Teil wenigstens, recht hat, dann könnte er nicht mit Überzeugung weiterkämpfen, und dem gilt es vorzubeugen. In der Umkehrung des gleichen Verhältnisses will der Zwingherr nur seine Auffassung dem entweder betäubten oder entleerten Geist der anderen aufoktroyieren; er will sich nur im wörtlichen Verstande des so farbigen deutschen Wortes durchsetzen
. Beide Vorgänge sind letztlich mechanischer Art, denn wo nichts als Druck ausgeübt oder solchem nachgegeben wird, dort kann nichts Neues entstehen, keine schöpferische Entwicklung eingeleitet werden. Ein zeugerischer Einfluss der Art, wie wir ihn in unserer vorletzten Betrachtung bestimmten, kann dann allein erfolgen, wenn die Strahlen des Geistes nicht, bevor sie die Tiefe erreichen, wie es in der Optik heißt, total reflektiert werden. Das Wort Reflexion ist sinnvoll genug gebildet: beim Reflektieren im ins Geistige übertragenen Sinne handelt es sich, genau wie im Falle des Lichts, um ein Zurückwerfen der Strahlen, hier auf die Fläche der Vorstellungswelt. Was einmal auf diese projiziert ist, gelangt nicht mehr in die Tiefe des Menschen hinein und kann in ihr folglich keine Wirkungen auslösen. Wer deshalb das Wesen beeinflussen will, muss solche Vorkehrungen treffen, dass schon rein äußerlich einer schädlichen Einstellung vorgebeugt erscheint. In diesem Sinn sah Lao Tse das Ideal darin, zu wirken, ohne zu streiten. In eben dem Sinne forderten alle Religionsstifter und Apostel Glauben; sie forderten Glauben nicht, nachdem sie ihre Hörer überzeugt hatten, sondern vorher; nicht einer von ihnen ist je gegen verschlossene Türen angerannt. Glauben bedeutet eben unbedingte Geöffnetheit, und sie meinten mit Recht, dass ihr geistlicher Samen nur von geöffneten Seelen empfangen werden könne. Im wiederum gleichen Sinne haben schöpferische Staatsmänner mit Recht zeitweilig das Merklichwerden von Gegenbewegungen verhindert; ihrem Plane gemäß wandeln konnten sie ihre Völker nur, wenn diese sich ihnen hingaben, und dazu waren sie nicht immer von vornherein bereit; sie mussten zunächst, wie man sagt, zu ihrem Glück gezwungen werden. Gleichsinnig endlich gestattet der gute Lehrer nicht allein keinen Widerspruch während der Lehrstunden, sondern er lässt sich auf Auseinandersetzung überhaupt im Unterschied von Erläuterung nur in sehr beschränktem Maße ein.
Das hier an einigen Beispielen Ausgeführte nun gilt in schlechthin jeder Lage, in welcher der eine gibt und der andere aufnehmen sollte. Sobald einer sich darauf einstellt, Gehörtes verstandesgemäß zu diskutieren, schiebt er unwillkürlich ein einer Reflexionsscheibe Vergleichbares vor seine Seele, die ihm allerdings ermöglicht, Vernommenes so wahrzunehmen, wie es am besten intellektueller Verarbeitung fähig erscheint, ihn andererseits jedoch unabwendbar um den inneren Gewinn bringt. Was einmal herausgestellt ist, kann nicht mehr innerlich wirken, es sei denn, es werde ins Innere zurückgeleitet; bei diesem doppelten Prozesse aber wird der größte Teil der ursprünglich vorhandenen Strahlkraft des Geistes, welcher auf einen einwirkte, absorbiert, bevor sie sich sinngemäß auswirken konnte. Schöpferisches Fortwirken eines Impulses, d. h. eine Verwandlung seiner in Neues und vielleicht Höheres ist unter allen Umständen unmöglich, sobald das Bewusstsein sich überhaupt auf verstandesgemäße Diskussion seiner einlässt; fortan ist nur Zergliederung und Differenzierung möglich; alles scheinbare Fortschreiten bedeutet dann nur ein Zurückführen des Unbekannten auf bereits Bekanntes im Sinne der Definition, als welche nie mehr sagt, als in ihren Voraussetzungen bereits enthalten ist. Darum habe ich es bei persönlicher Begegnung mit anderen als Geistern Ernstzunehmenden zeitlebens so gehalten, dass ich, so oft ich überhaupt über den Stil des Verkehrs entscheiden darf, entweder rede oder zuhöre; entweder ich strahle mit meinem ganzen Wesen aus, oder aber ich gebe mich ebenso total mit meinem ganzen Wesen hin. Im ersten Falle haben die andern, sofern sie sich mir öffnen, so viel von mir, als ich ihnen geben kann und sie von mir zu empfangen fähig sind, im zweiten habe ich entsprechend viel von ihnen. Jedes Hin- und Herreden betrachte ich als Übel, wo es anderes bedeuten soll, als ein geistreiches Gesellschaftsspiel, zu welchem überdies unbedingt Geist gehört, über welchen bekanntlich längst nicht alle verfügen. Für den zumal, der sich mit einem bedeutenden Menschen, von dem er viel haben könnte, bloß unterhalten
möchte, fehlt mir jedwedes Verständnis. Unterhalten kann man sich mit unbedeutenden Leuten auch und meistens besser. Auseinandersetzen muss man sich letztlich doch mit sich selbst, nur selbst-Denken und selbst-Urteilen kann Klärung zeitigen. Hier kann einem kein anderer etwas abnehmen; nimmt man geistige Fertigware mit dem Gedächtnis auf, dann bleibt das Innerliche auf alle Fälle unbeteiligt. Überdies und vor allem aber bedeutet es Anmaßung, sich selber das Recht zuzugestehen, von anderen Aufklärung zu fordern, wie dies so viele völlig unbedenklich tun. Doch von allem diesem Besonderen abgesehen: der ganze Sinn persönlichen Einwirkens liegt darin, dass dieses das Wesentliche unmittelbar gibt, während es aus Büchern durch den Leser nachgeschaffen werden muss, welches Nachschaffen nur wenigen fehlerlos gelingt. Der persönlich Wirkende strahlt sein eigenes Verstehen aus und überträgt es damit; darum geht beinahe alles Verstehen nicht jedem ohne weiteres zugänglicher Tiefen auf Erden nicht auf die Schrift, sondern auf die mündliche Tradition zurück als der Überlieferung einer bestimmten Art, wie das Geschriebene verstanden werden soll. Im Willen zur Empfängnis sehe ich darum die einzige Rechtfertigung des Wunsches, mit einem bedeutenden Menschen persönlich in Berührung zu kommen. Jeder bedeutende Mensch nun gibt und befruchtet von Herzen gern. Er fühlt sich jedoch missbraucht, wenn diskursive Einstellung der anderen ihn hindert, sein Bestes mitzuteilen. Man gedenke des Ausspruchs in Goethes Wanderjahren:
Jeder weiß nur für sich, was er weiß, und das muss er geheimhalten; wie er es ausspricht, sogleich ist der Widerspruch rege, und wie er sich in Streit einlässt, kommt er in sich selbst aus dem Gleichgewicht, und sein Bestes wird, wo nicht vernichtet, doch gestört.
Diskursive Einstellung ist im Zusammenhang geistig-seelischen Höherstrebens verderblich überhaupt
: sie ist es sogar dort, wo es sich nicht um Wesens-, sondern um Verstandesfragen handelt. Auch der Verstand hat seine geistigen Wurzeln in Tieferem, in den im Unbewussten wirkenden Bildekräften des Geistes und der Seele; wer denkend nicht aus diesen schöpft, sondern andauernd auf der Bildfläche der fertigen Gedanken weilt, kommt nie hinter deren tieferen Sinn; ein solcher erschöpft sich in logischer Zerarbeitung, als welche noch keinen tieferer Einsicht zuführte. Darum halte ich diskussionsloses Aufnehmen auch im Fall von Intellektuellem für einzig förderlich, solang man zulernen und nicht kämpfend seinen Standpunkt durchsetzen oder behaupten will. Man braucht ja nicht zuzuhören, von anderen aufzunehmen. Tut man es aber einmal, dann sollte man sich von vornherein so einstellen, dass man schlechthin alles erfasst; nicht bloß, was der Betreffende ausdrücklich sagt, sondern auch, was er meint, ja was ihn aus ihm selber meistens unbewusster Tiefe heraus gerade zu dieser Meinung bewegt, so dass er sie aus innerem Müssen
äußert. Stellt man sich nun dem Geratenen entsprechend ein, dann dringt das Wesen des anderen ungehemmt in das eigene ein, wirkt dort befruchtend, und der Erfolg sind — nicht fremde, sondern eigene Gedanken. Damit bedeutet reines Aufnehmen, im Gegensatz zur üblichen Meinung, den kürzesten Weg zur Originalität. Niemand befürchte, durch solche Hingabe sich selbst zu verlieren. Zeitweilig erscheint er natürlich beeinflusst, warum auch nicht. Bald jedoch setzt sich das Empfangene in ursprünglich-Eigenes um oder löst dieses aus, was von der Diskussionseinstellung aus niemals erfolgt, aus dem sehr einfachen Grund, dass das Eigene gar nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Dies wäre denn der entscheidende Punkt: wer sich reflexiv einstellt, verhindert nicht allein das Fremde am Ein-, sondern auch das Eigene am Hervorbrechen. Die dazwischen gestellte Scheibe oder Linse, um auf das optische Bild zurückzugreifen, schließt nicht bloß nach außen, sondern auch nach innen zu ab.