Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Kritik und Offenbarung

Welterklärung

Warum in aller Welt bedeuten Welterklärungen, welche darzustellen nicht zwar alle Systeme der Philosophie beanspruchen, doch als welche sie fast immer von ihren leidenschaftlichen Anhängern aufgefasst werden, dermaßen viel? Weil sie Sicherheit zu schaffen scheinen. Wohl ist der Mensch das problematische, das niemals stillestehende, das auf den Daseinsebenen von Geist und Seele ebenso wandelbare und plastische Tier, wie es die Amöbe, die ihre Organe Mal für Mal ad hoc bildet, auf derjenigen des Körpers ist. Nichtsdestoweniger wird auch er immer noch in der Mehrzahl der Fälle von den untersten Tiefen seiner Erdnatur beherrscht, und dies zwar gerade auch als nach Erkenntnis Strebender. Und zwar nimmt diese Beherrschtheit zur Zeit, da ich dieses schreibe, im letztgenannten Zusammenhang nicht ab, sondern zu: je weniger die fortschreitende Wissenschaft ein Ende des Forschens und Endgültigkeit der Ergebnisse absehen lässt, desto größer wird die Rolle, welche das früheste Motiv alles Lebens, die Ur-Angst im Menschen spielt. Schwach und leicht zerstörbar, wie es ist, möchte das Leben an erster Statt gegen die Übermacht der ihn umringenden und bedrängenden Natur gesichert werden. Das entsprechende Gefühl gewährleistet ihm allein die Unantastbarkeit des Lebensraumes, welchen es einnimmt. Diese Sicherung schafft ihm zuunterst das anerkannte Besitz-Recht, später das Gefühl, überhaupt im Recht zu sein und sein Recht anerkannt zu wissen. Alles Recht wird ursprünglich als endgültiges Recht verstanden. Auf der Stufe des Menschen, in welchem religiöses Gefühl erwacht ist, schafft gleiche Sicherheit die Rechtfertigung durch den Glauben: absichtlich verwende ich hier diesen seinem Ursprung nach spezifisch lutherischen Begriff, denn wie kein anderer ordnet er den Gewissheit schaffenden Glauben überhaupt dem Gesamtzusammenhang des Lebens richtig ein. Wer da glaubt, zweifelt nicht, darf nicht zweifeln, Glaube schafft damit unbedingte innere Sicherheit: das ist das psychologisch entscheidende Moment. Der Glaube an einen noch so grausamen Gott, welcher kleine Vergehen mit ewiger Verdammnis ahndet, schafft für das Bewusstsein auf alle Fälle Gewissheit; es weiß, woran es ist; solche Sicherheit ist aber das Eine, woran dem von der Ur-Angst beherrschten Urleben vor allem liegt. Solch selbstverständlich sichernden primitiven Glauben kennt der geistig Erwachte nicht mehr. Glaubt ein solcher, dann bedeutet sein Glaube ganz Anderes und Höheres, nämlich ein ja-Sagen zum letzten und äußersten Risiko und damit nicht Sicherung, sondern das Gegenteil der Forderung nach ihr: Überlegenheit über das primordiale Sicherheitsbedürfnis. Doch zu derart hohem Glauben sind gerade in dieser Zeit nicht viele fähig. Heute suchen die meisten die gleiche Sicherheit, welche der Primitive in seinem Köhlerglauben und in seinem guten Rechte findet, als vornehmlich denkende Wesen, die sie geworden sind, in den Ergebnissen der Wissenschaft. Und da eine Wissenschaft vom Weltall nur als Philosophie denkbar ist, in irgendeiner festumrissenen Weltanschauung. Möge diese den Bedürfnissen der Seele ebensowenig Rechnung tragen wie ein grausamer Gott — man denke nur an den Darwinismus und den ökonomischen Materialismus mit ihren schauerlichen Konsequenzen für unser Würdegefühl, oder an eine beliebige Lehre vom baldigen Untergange des Abendlandes oder der Welt —, auf alle Fälle schafft sie dem Geiste Sicherheit. Denn im Reiche der Verstandesbegriffe, und seien es die abstrusesten, unverständlichsten, aller erlebbaren Wirklichkeit fernsten, fühlt sich der heutige Mensch vollkommen zu Hause. Ja, er fühlt sich sogar desto besser in ihm zu Hause, je weniger verständlich und je verstiegener die Begriffe sind: hier gewährt ihm die Unverständlichkeit oder die Unkontrollierbarkeit einen Ersatz für die Unbedingtheit des religiösen Dogmas. Unverständliche Begriffe befriedigen tatsächlich eben die Neigungen und Strebungen der irdischen Urnatur, welche vormals in irrationalen Kulten und Riten ihre Befriedigung fanden. Was sich die Liebhaber bizarrer Nomenklatur, deren es gerade unter Wissenschaftlern so viele gibt, gesagt sein lassen mögen.

Welterklärungen erklären nun in Wahrheit nie das Allergeringste. Verstandesbegriffe sind Werkzeuge der Erkenntnis, sie dienen der Überwältigung und Einverleibung der Natur, nicht deren Spiegelung. Daher sie sich, je besser sie ihren praktischen Zweck erfüllen, als desto verschiedener von der Wirklichkeit erweisen. Die jüngsten Voraussetzungen und Begriffe der modernen Physik betreffen nicht allein Unvorstellbares, sondern auch trotz aller logischen Fehlerfreiheit der Induktion oder Deduktion, welche ihnen zuführte, vollkommen Unverständliches; nichtsdestoweniger verhelfen sie zu praktisch bewährten Erkenntnissen. Die Denksysteme des Menschen bedeuten für ihn biologisch Ähnliches wie das Netz der Spinne. Mittels ihrer fängt er seine Beute ein. Aber verstehen tut er gar nichts durch sie: Begriffe dienen ausschließlich dem Begreifen. Dieses Wort ist gut gebildet, es weist auf eine besondere Art von Greifen hin. Dem Begreifen nun bleibt die Natur immer und ewig ein unfassbares Ding an sich. Darum: je wissenschaftlicher ein Mensch eingestellt ist, desto weniger spiegelt er sie in seiner Seele und in seinem Geist, desto weniger wird er ihres Wesens inne. Mir scheint nun aber: die meisten echten Menschen, welche heute ihre Sicherheit in philosophischen Systemen suchen, wie ihre Väter in religiösem Dogmenglauben, meinen anderes, als sie tatsächlich tun. Sie beseelt wirklicher Erkenntnistrieb. Sie wollen der Wahrheit innewerden, sie wollen das innerlich realisieren, was sie zunächst außer sich vorstellen und dann von außen her begreifen. Ihnen bedeuten die Begriffe damit, obgleich sie sich selten darüber klar sind, nicht Erkenntnisinstrumente, sondern Sinnbilder, wie es die Mythen auch sind. Ihre Begriffe haben damit letztlich keine wissenschaftliche Bedeutung. Sie wollen sich auf dem Wege der Erkenntnis im Zusammenhang der Welt selber verstehen und als Geister im Verstehen verwirklichen. Sie wollen in der Erkenntnis und durch sie ihre reale Erlösung finden. Zu deren besten seien die folgenden Betrachtungen angestellt, die ich wegen der Schwierigkeit des Gegenstandes etwas ausführlicher halten muss, als die vorhergehenden. Aber wohlgemerkt: ich schreibe hier nur für die, welche anderes als Wissenschaft meinen. Ich schreibe nur für solche, welche nach der Lektüre selbständig weiter denken und persönlich vorwärtskommen wollen, die mich sonach also zu lesen gewillt sind, wie ich es in der Betrachtung über Lektüre und Meditation allen Lesern riet. Wem es um nichts anderes zu tun ist, als um einen seinen Verstand möglichst befriedigenden Weltbegriff, der wird im Folgenden wenig Beherzigenswertes finden.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Kritik und Offenbarung
© 1998- Schule des Rades
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