Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Kritik und Offenbarung

Realisieren

Soviel zunächst von der Kritik. Wie kommt nun lebendige und wahre persönliche Einsicht zustande? Durch unmittelbares Innewerden. Den Sinn dieser Diskriminierung verstehen wir am schnellsten, wenn wir zuerst die Frage beantworten: worin unterscheidet sich Einsicht von Ansicht? Der Wortlaut als solcher beantwortet die Frage bereits in erster Instanz: jene entsteht nicht durch Betrachtung von außen her, sondern sie fällt einem von innen her ein. Dieser Prozess ist ein richtiger organischer Geburtsvorgang im Unterschied vom mechanischen Ablaufe des Denkens. Plötzlich tritt aus dem Dunkel des Unbewussten ein Lebendiges heraus, welches Lebendige ein Sinn ist, in dessen Beleuchtung die Bedeutung des Belichteten unmittelbar einleuchtet. Und diese Bedeutung ist, wenn das Licht aus dem Inneren unabgelenkt und unverfälscht in das Bewusstsein durchdrang, der geistige Realgrund des Zusammenhangs, nicht eine Ansicht seiner von außen her, obgleich der Sinn vom Geiste jeweils gegeben und nicht empfangen wird. Handelt es sich nun um Einsicht in den Sinn von nicht-Menschlichem und nicht vom Menschen her Bestehendem, so ist zunächst nie auszumachen, ob die Sinngebung außerhalb unseres Bewusstseins existenten Sinn spiegelt, oder aber ihren Seinsgrund im Sinngeber hat; ebensowenig, welcher Art der gefundene Fremd-Sinn für sich und an sich ist. Hier kann nur Beobachtung vieler Beispiele und Experimentieren mit ihnen, kurzum, genügend weite Erfahrung so hohe Wahrscheinlichkeit schaffen, dass sie der Gewissheit gleichkommt. Es kann ja auch nie exakt bewiesen werden, dass eine Seele eine andere versteht. Handelt es sich hingegen um ein Inne-Werden des unzweifelhaft von innen her wirkenden Geists im eigenen Inneren, dann handelt es sich bei diesem Geist so gewiss, wie bei irgendeiner festzustellenden Wesenheit, um substantielle Wirklichkeit, nämlich die des eigenen tiefsten Wesens; insofern dieses aber unzweifelhaft Teil des Kosmos ist, zum mindesten um einen Teilaspekt kosmisch gültiger Wahrheit. Hier nun fließen Erkennen, Erleben und Leben in seinem Werdens-Aspekt zusammen. Sich selbst erkennen bedeutet sein eigenes Selbst in seiner Wahrheit erleben, und dieses Erleben wiederum ist das eigentliche geistbestimmte Menschenleben.

So bedeutet hier Einsicht recht eigentlich Selbstverwirklichung im Zusammenhang des Weltalls. Daher denn des Menschen tiefes und durch nichts beirrbares Wahrheitsstreben. Dieses ist überhaupt kein Ausdruck von Erkenntnisstreben im Sinn von Neugier oder Wissen-Wollen, sondern von Streben nach innerer Erleuchtung — zu welcher Erleuchtung sekundär auch die Beleuchtung der Außenwelt gehört. Und damit fällt Wahrheitsstreben letztendlich mit Wahrhaftigkeitsstreben zusammen. Wahrhaftig sein, heißt seine eigene Gesinnung und damit sein eigenes geistiges Wesen unverfälscht zum Ausdruck bringen. Aber was bedeutet wesentliche Wahrheit ohne Bezug auf ein sie erkennendes Subjekt? Und wie soll ein sein Erleben verfälschendes Subjekt Wahrheit erkennen? So setzt echte Einsicht Wahrhaftigkeit voraus. Darum gibt es keine Wahrhaftigkeit, die nicht zum Innewerden des eigenen Innern führte. Und dieses Innewerden bedeutet gleichzeitig Verwirklichung des geistigen Selbst, und damit Selbstverwirklichung. Da insofern das Bewusstsein die eigene Wahrheit hat, ist das wahre Ich auch der Ausgangspunkt des Denkens und Handelns, dieses und kein Fiktives drückt sich im Leben aus, und da sich Sinn eben so auf Erden verwirklicht, dass er sich ausdrückt, verwirklicht sich im rechten Innewerden das wahre Selbst. Somit bedeutet Innewerden ein grundsätzlich anderes als Begreifen: ein anders Werden, dank welchem vorher nicht aktualisiertes, ins Leben nicht unmittelbar eingreifendes geistig-Wirkliches sich dem vorherbestehenden Organismus einbildet. Im Prozess des Innewerdens bildet sich recht eigentlich ein neuer Geisteskörper mit ihm entsprechenden Organen, welche geistige Wirklichkeit unmittelbar aufzufassen gestatten. Was diese wahrnehmen, ist in gemeinverständlicher Sprache nur in Begriffsform auszudrücken, aber die fraglichen Begriffe sind überhaupt keine Verstandesbegriffe; sie sind unmittelbare Sinnesausdrücke, wie dies die Ur-Worte der Sprache sind, welche sich nicht auf Äußeres beziehen, sondern unmittelbar einen inneren Gehalt offenbaren und im Falle echter Ur-Worte so tiefsinnig sind, dass deren Meditation genügt, um vom Wesen der Wirklichkeit mehr zu erfahren als durch alles Philosophieren. Will man nun die hier gemeinten Organe des besseren Verständnisses halber zu denen in Beziehung setzen, welche zur Bildung von Verstandesbegriffen führen, so kann man sagen: sie sind nicht Greiforgane, gleich der Hand, sondern Spiegelungsorgane, wie das Auge. Darum kann man metaphysische Wahrheit nur schauen oder aber sie verkörpern; zu begreifen ist sie nicht.

Das tiefste geistige Selbst ist metaphysisch: dieser Satz bedarf überhaupt keiner Begründung, da das Wort metaphysisch nur die besondere als solche unbezweifelhafte Wirklichkeit, die wir hier schildern, von sonstiger begrifflich differenziert. Im fünften Kapitel der längst vergriffenen Prolegomena zur Naturphilosophie, deren Inhalt ich mit siebenundzwanzig Jahren zum ersten Male vortrug, grenzte ich die Metaphysik gegenüber jedem möglichen Systeme wissenschaftlicher Erkenntnis dahin ab, dass jene nie Betrachtung über etwas, sondern unmittelbares Leben in Form des Wissens sei. Mein Weg hatte mich von der Naturwissenschaft her zur Metaphysik, damit von Außen her zum Inneren geführt, von der Betrachtung des Lebens zum Leben selbst, und so war die Formulierung der Prolegomena als Etappe nicht unberechtigt. Ich verweile hier bei ihr, weil die meisten derer, die sich für Systeme der Philosophie begeistern, als nächste Etappe ihres eigenen Strebens nach tieferer Einsicht eben diese Etappe vor sich haben dürften. Dennoch ist meine damalige Formulierung nicht zu halten. Und zwar vor allem darum nicht, weil es für den Aspekt solchen Lebens und Erlebens, in dem ich damals Sinn und Wesen von Metaphysik überhaupt erblickte, kein deutsches Wort gibt, das unwillkürlich richtig-Verstehen evozierte. Denn um Erleben im üblichen deutschen Verstande handelt es sich nicht und um Einsicht und Inne-Werden nur als Sonder-Ausdruck eines Allgemeinen und Tieferen. Lediglich das englische Wort Realisieren führt als Bezeichnung nicht von vornherein irre, dieses aber darum nicht, weil das englische Wort seine unter geistigen Menschen heute gültige Bedeutungsnuance aus dem Kontakt mit Indien gewonnen hat, welche glückliche Beeinflussung und Transsubstantiation dadurch möglich geworden ist, dass auch der Engländer ursprünglich, nur meist auf niederer, praktisch-politischer oder primitiv-religiöser Ebene sein Geistwesen nicht als wissenschaftlich Forschender, sondern in Form der Polarität Sinneserfassung — Sinnesverwirklichung auslebt, wodurch, auf kantisch zu reden, die transzendentale Form zum unmittelbaren Verständnis von metaphysisch-Wirklichem geschaffen war.

Was bedeutet nun Realisieren? Es bedeutet eben das, was wir bereits vorher bestimmt haben: einen organischen Wachstums- und zuletzt Erfüllungsprozess. Seinen irdischen Höchstausdruck umschreibt leidlich genau der besondere Begriff der Vollendung, welchen das Reisetagebuch geprägt hat. Doch auf den irdischen Höchstausdruck kommt es hier nur insofern an, als sich auf Erden Sinn nur dadurch ganz verwirklicht, dass er sich vollkommen ausdrückt, weswegen das Streben nach Ausdruck im allerweitesten Verstand der eine Weg der Sinnesverwirklichung ist. Hier liegen die Dinge überall so wie beim Dichter: nur indem seine inspirierte Intuition vollkommenen äußeren Ausdruck findet, realisiert sie sich vom Standpunkt des erlebenden Dichters selbst, der sein Gedicht durch vollkommenen Ausdruck auch los wird, während bei unvollkommenem der Drang nach Manifestation bestehen bleibt und immer neu hervorbricht. Letztlich aber kommt es beim Realisieren auf Vollendung nicht an, wie immer man sie verstehe, und zwar aus dem folgenden Grund: jeder wirklich realisierte Sinn wird eben damit zum Sinnbilde tieferen Sinnes und so fort und fort bis zur Unendlichkeit. Mag das äußere Weltall endlich oder unendlich sein — ganz sicher hat die Welt des Sinnes keine denkbaren und vorstellbaren Grenzen; hier gibt es keinen letztmöglichen Sinn, kein letztes Wort; der kantischen Philosophie ist der Begriff der Gottheit mit Recht ein Grenzbegriff, gleich dem ±∞ der Mathematik. Jeder durch Anschauung oder Denken konkretisierte und gestaltete Sinngehalt kommt durch Durchschauen des Tatsächlichen zustande. Aber jedes solche Konkretum kann seinerseits durchschaut werden, ja es fordert solches Durchschautwerden. Es gibt ein Jenseits jeder nur möglichen Gestaltung, heiße sie Recht, Moral, philosophisches oder religiöses Dogma. Hinter jeder Gestaltung, welche aus Sinneserfassung hervorging und Sinnesverwirklichung bedeutet, steht wiederum tieferer Sinn. Darum kommt es beim Realisieren, empirisch gesprochen, letztlich auf die Erreichung eines Zustandes ungehemmter Bewegtheit von innen her und nach innen zu an, somit auf die Herstellung unaufhörlicher und immer erneuter organischer Möglichkeit eines Einverleibens der Welt einerseits, eines Einbildens in die Welt andererseits und wiederum andererseits — es gibt in diesem Zusammenhang noch viele andererseits, auf die ich jedoch nicht eingehen will, da sie jeder Erfassung durch bekannte Begriffe entrinnen — ein Zurücknehmen aller Gestaltung in ihren ungestalteten Ursprung. Im Reisetagebuch schrieb ich: Der Metaphysiker antizipiert im Sinn alle mögliche Gestaltung und Schöpfung. Damals war mir nur ein Aspekt dieses Prozesses deutlich geworden, da ich dazumal der Hauptsache nach noch außer mir lebte. Letztlich handelt es sich hier gerade nicht um Antizipation, sondern um reale Rückkehr zum Ursprung, welcher Ursprung, wie unsere Betrachtung über Selbstverwirklichung lehrte, zugleich das Ziel ist.

Der Prozess der Realisierung bedeutet damit letztlich etwas gänzlich Untheoretisches, auch wo er sich als wachsende Einsicht ausdrückt: einen nie aufhörenden Prozess der Mutation und Transsubstantiation. Um einen nie aufhörenden, mitnichten jedoch stetigen Prozess: auch hier gilt das Schema der Quantentheorie. Der Zen-Begriff von Satori, der plötzlichen, den Begnadeten allemal überraschenden Erleuchtung, dank der auf einmal alles anders wird, gibt für die verschiedenen Etappen der Wandlung das wenigst falsche allgemeine Schema ab. Die beste Analogie zum gemeinten Geschehen bietet der Vergleich von Raupe, Puppe und Schmetterling in ihrem respektiven Selbstgefühl. Objektiv mag bei der Metamorphose alles und jedes in stetigem Übergang zustande kommen — das für das Bewusstsein Wesentliche ist das qualitativ völlig Verschiedene der verschiedenen Zustände, zwischen denen darum kein Übergang statthat. Die Unstetigkeit mag hier bis zum unzweideutigen Subjektwechsel gehen. Und das Realisieren im Bewusstsein hat es ausschließlich mit der Subjekt-Seite des Prozesses zu tun.

Realisieren ist also ein wesentlich Praktisches und Untheoretisches. Nun ist Metaphysik andererseits aber unzweifelhaft Ausdruck des Erkenntnistriebes und ihr Ziel ist das Objektivieren des Realisierten in übertragbarer Begriffssprache: wie stimmt das mit dem vorher Behaupteten zusammen? Das Tor zum Verständnis öffnet die indische Lehre, dass Erkenntnis Erlösung sei. Dieser Satz klingt den meisten europäischen und wohl auch indischen Ohren spezifisch religiös gefärbt. Sein wirklicher Sinn aber liegt tiefer als der bestimmter Religion, als welche in der Form, die für die meisten galt und gilt, eine Sondergestaltung eines höheren Etwas darstellt, das sich auch anders ausdrücken kann. Für die Inder ist das, wovon der Mensch erlöst sein möchte, das Nicht-Wissen. Diese Auffassung trifft grundsätzlich zu. Den Urtatbestand von Bewusstsein überhaupt formuliert am richtigsten der Drieschsche Satz: ich habe, um mein Wissen wissend, bewusst etwas; der Urtatbestand ist nicht einer des Seins, sondern des Habens. Was nun das Bewusstsein also hat, sind in erster Linie Vorstellungen. Was das Nicht-Geistige im Menschen noch so direkt affiziert, also, um die Begriffssprache der Meditationen zu verwenden, seine Mineralität, Reptilität, sein Kalt- und Warmblut, seine Delicadeza und seine emotionale Ordnung, wird zum persönlichen Erlebnis erst, wo sich Vorstellung ans Affiziertsein heftet. Solche Vorstellung entstammt nun normalerweise dem empirischen Ich, oder vielmehr dem Teil und Aspekt seiner, welchen der Engländer mind heißt, für welchen umfassenden Begriff die deutsche Entsprechung fehlt. Und sie kann genau so gut falsch wie richtig sein; falsch wie richtig einerseits in bezug auf das Innerst-Wirkliche im Menschen, andererseits in bezug auf die ihn affizierende Außenwelt. Ist die Vorstellung falsch, so rächt sich das irgendeinmal: Selbstverwirklichung erweist sich als unmöglich, sei es im Sinn vollendeten Ausdrucks des Innersten, sei es im Sinn geglückten Selbstbehauptens in der Welt. In bezug auf die Außenwelt leuchtet diese Darstellung des Sachverhalts so unmittelbar ein, dass es keiner weiteren Erläuterung bedarf: das wissenschaftliche Weltbild triumphiert über alle vorwissenschaftlichen eben darum, weil jenes richtigere Vorstellung verstandesgemäß und damit handlich objektiviert. Und hier können wir gleich den Verbindungsstrich zur indischen Heilslehre ziehen: indem Wissen das Nicht-Wissen überwindet, wird der Mensch von der Beherrschtheit durch die Natur erlöst. Der Erlösungsbegriff der Religion hat nun genau den gleichen prinzipiellen Inhalt. Solange ein Mensch sein tiefst-Innerstes nicht erkennt, überschichtet falsche Vorstellung mögliche richtige; damit aber kann sich sein Tiefstes und Wesentlichstes nicht ausleben. Hier also bedeutet Erkenntnis Erlösung in jedem nur möglichen Verstand, vom nur-theoretischen bis zum nur-praktischen, vom gnoseologischen wie vom ontologischen, vom rein-wissenschaftlichen bis zum rein-religiösen.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Kritik und Offenbarung
© 1998- Schule des Rades
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