Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Kritik und Offenbarung
Philosophie
Wir haben weit ausgeholt. Aber ich sah keinen anderen Weg, um meine Leser zur selbständigen Beantwortung der Frage anzuregen: wonach strebe ich nun eigentlich, einem Weltbegriff, der meine Urnatur durch Sicherheitsschaffung befriedigt, oder nach persönlicher Einsicht, nach Innewerden des Innersten der Wirklichkeit in und außer mir und damit nach Realisierung? Bedeuten mir die Begriffe, bei welchen systematische Philosophie stehenbleibt, wirklich so viel, wie ich bisher annahm? Ist die ratio cognoscendi wirklich das letzte Ziel meines Suchens, oder ist es eigentlich die ratio essendi? Wer für sich die erste Alternative bejaht, mit dem will ich nicht rechten, denn der ist eben ein Verstandes- oder bestenfalls Vernunftmensch, und der ist kraft seiner Veranlagung im Recht, in einer Konstruktion letzte Befriedigung zu finden. Dem gebe ich nur zu bedenken, dass sehr viele verschiedene Systeme verschiedenen Menschen die gleiche Befriedigung gewähren, woraus wohl zu schließen sein dürfte, dass es nicht die Wahrheit
ist, welche hier letzt entscheidet. Allein es sollte mich sehr wundern, wenn die überwältigende Mehrzahl aller meiner Philosophie-beflissenen Leser nichts anderes meinte, als was sie tatsächlich betreibt. Kein Weltbegriff umfasst die Welt anders, als wie die Hand einen zu greifenden Gegenstand. Zum Innewerden der Welt, der wir nun einmal nicht allein nach außen zu, sondern auch von innen her zugehören — ich kenne keinen ungegenständlicheren Begriff als den der Geworfenheit
des Menschen in ein ihm ursprünglich und wesentlich fremdes Schicksal —, bedarf es aber einer grundsätzlich anderen Einstellung als der des Wissenschaftlers. Sofern hier Philosophie überhaupt in Frage kommt, kann es nur die der Sinneserfassung und -verwirklichung sein; nicht eine Philosophie, die mit den Buchstaben der Welt arbeitet, sondern einzig darauf bedacht ist, was mittels dieser Buchstaben gesagt werden kann. Der wissenschaftliche Philosoph erfüllt seine Bestimmung am besten als reiner Kritiker. Den Höchstausdruck dieses Typus versinnbildlicht, wenn auch auf überholbarer und seither überschrittener Stufe — in einer immerdar unfertigen Welt kann dies gar nicht anders sein — Immanuel Kant. Der Kritiker steckt die Grenzen ab zwischen den verschiedenen Arten von Wirklichkeit, er diskriminiert zwischen vorgespiegelter und erlebter Wirklichkeit, zwischen Ansicht und Einsicht, zwischen falschem und sinngerechtem Ausdruck; er sorgt auf allen Gebieten für die Befolgung des Gesetzes der Korrelation von Sinn und Ausdruck. Selbstverständlich ist — wir sagten es bereits — die Aufgabe des Kritikers gegenüber derjenigen des Offenbarers eine bescheidene, denn ist der Sinn wirklich erfasst, so leuchtet er auch durch ungenauen Ausdruck hindurch, wogegen kein bloß-Kritiker das Allermindeste nicht nur über metaphysische Wirklichkeit, sondern überhaupt über Wirklichkeit als solche auszusagen vermag.
Im Verstande positiv-konstruktiver Leistung ist kritische Wissenschaft nur zu dem einen befähigt und befugt, Gerüste aufzubauen, welche die Wirklichkeit besser zu erfassen gestatten. Und sind alle Gerüste dazu vorherbestimmt, irgendeinmal abgerissen zu werden, so ermöglichen sie doch Übersicht und Bau. Denken
als solches führt überhaupt nie über die Sphäre möglicher Verstandeskonstruktion hinaus. Im Höchstfalle kann Kritik die Möglichkeit dessen erweisen, was über ihre Sphäre hinausgeht. Aber die Feststellung von Möglichkeit ist andererseits die letzte Instanz ihrer möglichen Annäherung an konkrete Wirklichkeit — und wer aus innerer Sehnsucht nach Wahrheit strebt, meint offenbar anderes und mehr. Insofern wir Menschen denkende Wesen sind und in unserem heutigen Zustande normalerweise hauptsächlich auf der Ebene des Verstandes leben, ist Kritik freilich im höchsten Grade lebenswichtig. Sie ist es genau im gleichen Sinn wie die Präzisionsarbeit der modernen Technik, und insofern kann auch sie an Bedeutung nur zunehmen. Wenn nun aber ein Mensch, in Schopenhauers Worten, desinteressiert oder absichtslos erkennen will… was dann? Ja, dann hilft ihm alles wissenschaftliche Begreifen gar nichts. Es hilft ihm tatsächlich überhaupt nicht. Für ihn bleibt die Offenbarung das letzte, das allerletzte Wort, genau wie dies Religion von jeher gelehrt hat. Was man wahrnimmt, wird einem eben dadurch offenbar. Insofern darf man Kants These, alles Wissen stammt aus Erfahrung, dahin zuspitzen, dass man sagt: alles Wissen stammt aus Offenbarung. Auf den letzteren Begriff hat die Religion kein Monopolrecht. Alle Erfahrung beruht auf Offenbarung; wird einem begnadeten Geiste den Allermeisten unzugängliche direkte Erfahrung aus anderen Welten zuteil, so bedeutet solche Erfahrung, technisch und erkenntniskritisch geurteilt, qualitativ nichts anderes wie Natur-Erfahrung. Der Betreffende verfügt nur über Erfahrungsorgane, welche den meisten fehlen, die aber andererseits doch so weit keimhaft auch in ihnen vorgebildet sind, dass ihnen religiöse Wahrheit vom Unbewussten her unwillkürlich einleuchten kann. Dass der Bereich des Offenbarungsbegriffes bisher so sinnwidrig eng gefasst worden ist, liegt daran, dass die Allermeisten zutiefst Erlösung im Sinn des Durchbruchs des metaphysischen Wesens anstreben, dass sie normale Erfahrung
selbstverständlich finden und darum kaum beachten, dass sie sich für reine Erkenntnis wenig interessieren und dass die emotionale Ordnung bei ihnen die entwickelteste Seelenschicht ist.
Der letztere Umstand wiegt darum schwer, weil der Begriff von Offenbarung für die Allermeisten mit denen der Überraschung und Erschütterung unlöslich verknüpft ist und diese sich auf emotionale Zustände, nicht auf erkenntnismäßige Tatbestände beziehen. Ja, alles Wissen stammt aus Offenbarung. Auch das eigene Innere muss sich einem offenbaren, damit man es habe
(ich beziehe mich hier wieder auf Drieschs Formel für den Urtatbestand des Bewusstseins Ich habe bewusst etwas
). Falsch ist am überkommenen Offenbarungsbegriffe nur dies, dass wir allein von Gott nur durch Offenbarung wissen könnten. Falsch ist gleichfalls die indische Vorstellung, dass man eine Wahrheit nie selbst entdecken, sondern nur von einem anderen Menschen, der sie besitzt, geschenkt bekommen kann. Die beiden letzteren Auffassungen legen den Nachdruck über Gebühr darauf, dass es von einem Anderen abhängen kann, ob er sich offenbart oder nicht. So lehrte der wunderbare
Ruysbroek:
Nur wen Er wählt, von dem wird Er begriffen.
Aber auch die Natur muss einem entgegentreten, damit man sie erfahre; auch die eigenen Einfälle kommen, wenn und wann sie wollen, herbeizuzwingen sind sie nicht. In allen Fällen wird das, was man erfährt, einem irgendwie geschenkt. Im Falle höchster Selbständigkeit schenkt man sich alles selbst. Aber diese unsere letzte Fassung ist doch nicht ganz richtig: in Wahrheit schenkt hier eine tiefste und letzte Wirklichkeit, die über das empirische Subjekt in unabsehbare Fernen hinausreicht, diesem das, was es vom Geiste weiß.