Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Gemeinsamkeit

Gemeinschaftsproblem

Wäre der Europäer als Ergebnis der Entwicklung der letzten anderthalb Jahrhunderte nicht grundverkehrt eingestellt, es gäbe überhaupt kein Gemeinschaftsproblem. Alles, was mit diesem Begriff zusammenhängt, gehört in die Kategorie des Selbstverständlichen, und wenn es einer Illustration dessen bedarf, was am Mythos vom Sündenfall und vom Verlorenen Paradiese sicher wahr ist, so weise ich, wenn ich darüber befragt werde, allemal auf den oben bezeichneten Widersinn hin. Jeder Organismus lebt in bezug auf die Außenwelt; als Naturwesen stellt er überhaupt keine Monade dar, sondern eine Beziehung zwischen einem unbekannten metaphysischen Etwas, dessen Ausfallstor in die Erdenwelt beim Menschen das Ich ist, und einem weitestverstandenen Nicht-Ich. Äußerlich beurteilt, ist er durchaus bedingter Bestandteil des Weltganzen. Warum verändert sich jeder organische Typus in Korrelation mit den Veränderungen seiner Umwelt, wovon einerseits die von Erdzeitalter zu Erdzeitalter verschiedenen Faunen das beste Bild abgeben, andererseits die Schicksale, in welches die Menschen hineingestellt werden und welche je nach deren Eigenart die Charaktere prägen. Im übrigen ist der Mensch, wie jeder höhere Organismus, von Eltern geboren, lebt er in Kindern, welche nicht er sind, fort, ist er in seinen Trieben nicht zu verstehen außer in bezug auf sein Gegengeschlecht und in seinen Strebungen nicht außer in bezug auf über ihn hinausreichende Ziele. Als Berufstypus bedarf jeder anderer zur Ergänzung, er muss sein Brot verdienen und kann ohne irgendeinen von anderen anerkannten Hintergrund nicht existieren. Sogar die Existenz eines indischen Yogi ist undenkbar, ohne dass sie von anderen anerkannt würde. Entsprechend leben in jedem Menschen ebenso ursprüngliche soziale Triebe, wie es die individuellen sind; es bedeutet einfach organische Verkrüppelung oder Entartung, wenn einer weder Familien-, noch Eltern-, noch Kindes-, noch Gemeinschaftsgefühle kennt, welche als subjektive Korrelate seiner objektiven Stellung in der Welt in irgendeiner Form entsprächen. Mit diesen wenigen Sätzen wäre nicht nur das Gemeinschaftsproblem, sondern sogar das Problem des Sozialismus grundsätzlich nicht nur gelöst, sondern als Problem erledigt. Ist es irgendwo nötig, durch Zwang von oben her Gemeinschaften aufzubauen oder zusammenzuhalten, welche nicht künstlich sind, dann beweist dies eindeutig, dass die betreffende Menschenart ihr normales Gleichgewicht innerhalb des Kosmos verloren oder noch nicht erreicht hat. Unter normalen Verhältnissen fühlt der Mensch sich selbstverständlich als Teil des besonderen Ganzen, welchem er zugehört, und stellt sich, aus freier persönlicher Neigung oder willig der Sitte folgend, entsprechend ein. Unter allen Umständen gilt dies von Familien- und Ehesinn und dem Gemeinschaftsgefühl, das sich auf enge Gruppen bezieht. Wahrscheinlich hat der Zwang zur Gemeinschaft, welcher überall auf Erden immer mehr notwendig zu werden scheint, damit die Völker weiter bestehen können in einer dank der Besiegung des Raumes sehr nahe zusammengerückten Welt seinen Seinsgrund darin, dass, der Lehre eines französischen Philosophen gemäß, nur enge Gemeinschaften in der Natur des Menschen als Bereitschaften des Unbewussten vorgebildet sind. So muss ihnen vom Geiste her der Sinn für größere Gemeinschaften zwangsmäßig eingebildet werden, nicht anders, wie der Korpsgeist einem Regimente. Von hier aus sieht man andererseits, dass Zwang nicht notwendig ein Lebensfeindliches ist. Die Gana, d. h. die unterste Elementarnatur im Menschen will gezwungen werden. Wenige sind ohne den Druck schweren Schicksals sehr weit gekommen und die heilsame Rolle des Zwanges in der Kindererziehung bedarf keiner Erörterung. Zwang kann natürliche Neigung oder geistiges Streben auslösen. Nur wo er letzte Instanz und Selbstzweck ist, oder aber Sinnwidriges anstrebt, ist er unbedingt vom Übel.

Ich brauchte in der Überschrift das Wort Gemeinsamkeit an Stelle von Gemeinschaft: ersteres ist, in der Tat, das in weitem Verstande sinngerechtere. Eine Gemeinschaft kann künstlich und willkürlich geschaffen und wider den Willen seiner Glieder zusammengehalten sein: wo hingegen reale Gemeinsamkeit besteht, da handelt es sich bei den ihr entsprechenden Gefühlen um Naturnotwendigkeiten, deren Nichtvorhandensein pathologisches bedeutet. Die Verwobenheit des Menschen in die Natur ist nun einmal Naturtatsache; darauf sollte der Akzent liegen und damit auf der Widernatürlichkeit der Verleugnung der Gemeinsamkeit, wozu an erster Stelle natürlich die menschliche Gemeinschaft, in die einer hineingeboren ist, gehört — nicht auf dem geistig Minderwertigen der Ichzentriertheit. Eine ebenso unbezweifelbare Tatsache aber ist, dass der Mensch im Unterschied von Tieren in erster Instanz Subjekt, Geistwesen und darum primär selbstbewusst ist. Dies bedingt eine Veränderung der Akzentlage im sonst gleichgebliebenen Zusammenhang. Das Gemeinsamkeitsproblem stellt sich dementsprechend umgekehrt, als im Fall von Wesen ohne Selbst: nicht von der Gemeinschaft, sondern vom einsamen Selbste her. Daher das ethisch und spirituell Bedeutsame echten Gemeinschaftsgefühls beim Menschen, wovon bei Herdentieren nicht die Rede sein kann; daher der ganze tiefe geistige Sinn des Selbstopfers, des Opferns überhaupt; daher die Würde gemeinschaftsgerechten Lebens, daher überhaupt der Begriff sozialbedingter Würde, mit seinem Korrelat desjenigen eines Würdenträgers. Wer dies nicht gleich einsehen sollte, der bedenke nur dies: es gibt keine Gemeinschaft, welche ein Subjekt hätte, die unterste Bedingung jedes Selbstbewusstseins. Darum kann die Voraussetzung, dass die Gemeinsamkeit über dem einsamen Selbst stehe, nur zu folgendem führen: entweder der individualisierte Mensch sinkt in die Gruppe zurück, aus welcher er sich im Laufe langer Jahrtausende herausdifferenziert hat, oder aber er ordnet sich willkürlich einer Verstandeskonstruktion ein und unter, wird damit zum Teil einer Maschine und verliert seine Seele. In beiden Fällen geht eben das verloren, worin der ganze Wert der Selbstüberwindung zum besten eines größeren Ganzen besteht.

Darum kann es für den im Kosmos richtig Eingestellten, noch einmal, eine Problematik der Gemeinschaft, wie sie das individualistische Zeitalter kannte oder erfand, überhaupt nicht geben. Der Mensch ist ebenso selbstverständlich in die menschliche Gemeinschaft hineingeboren, wie in seine physische Umwelt. Es ist grundsätzlich einerlei, ob einer sich als Einsiedler oder als sozialer Arbeiter betätigt: ist er nur als integrierender Bestandteil des Gesamtzusammenhanges richtig eingestellt, so wird sich das, was er von sich aus betreibt, zwangsläufig im Sinn des Ganzen auswirken. Ich sage absichtlich im Sinn des Ganzen und nicht zum besten aller, denn es gibt Lebenslagen, in welchen Zerstörung sinngemäßer ist als Aufbau und Erhaltung; zumal Selbstverwirklichung überhaupt grundsätzlich nicht Anpassung, sondern Nicht-Anpassung zur Voraussetzung hat — das Selbst wird seiner bewusst und festigt sich in Spannung zu dem ihm nicht gemäßen. Es gibt grundsätzlich auch keine Problematik des äußeren Berufes im Unterschied von der inneren Berufung. Bei der unbegrenzten Zahl möglicher Veranlagungen und der geringen Anzahl möglicher Berufe, die einen sozialen oder geistigen Sinn haben und ihren Mann ernähren können, passt selten einer so zu einem Menschen, wie ein von einem guten Schneider nach Maß angefertigter Anzug. Aber andererseits gehört jeder einem Allgemeintypus an, dem ein bestimmter Beruf ungefähr entspricht, ferner und vor allem aber herrschen die Motive der anerkannten Nützlichkeit und damit der Angesehenheit einer Tätigkeit und des gesicherten Lebensunterhaltes bei der Wahl eines Berufes und der Befriedigung durch ihn so sehr vor, dass jeder, dem es in dem seinen einigermaßen wohl ergeht, auf die Dauer mit ihm verwächst. Er füllt zum mindesten sein äußeres Leben aus, und hat er persönliche Interessen, auf die er seine Existenz nicht gründen kann, so lebt der Instinktsichere diese außerhalb seines Berufslebens aus; womit die Problematik so vieler Instinktunsicherer, welche sich andauernd mit der Frage quälen, ob ihre Betätigung nun wirklich zu ihnen passt und die darum immer wieder umsatteln, erledigt ist. Die eigentliche Problematik jedes Menschen liegt oberhalb und jenseits seines Berufes. Darum mag er grundsätzlich jeden ausüben, zu dem ihm nicht jede Begabung fehlt. So war der Apostel Paulus von Berufs wegen Teppichmacher, Goethe Minister eines so kleinen Staates, dass seine Stellung und Tätigkeit ungefähr der eines Bürgermeisters einer heutigen Kleinstadt entspricht, Hanns Sachs Schuster, Gustave Le Bon Steuereinnehmer, Paul Claudel Diplomat, Gottfried Keller Stadtarchivar, Crépieux-Jamin, der Begründer der modernen Graphologie, Zahnarzt; ich selber war in der Zeit meiner glücklichsten Eingestelltheit in das Gesamtleben Landwirt. In Zukunft wird vielleicht häufiger Berufswechsel auf allen Gebieten, die nicht außerordentliche Spezialkenntnisse erfordern, in Europa ebenso zur Norm werden, wie er dies in Amerika schon lange ist. Sicher entspricht solcher Wechsel dem freibeweglichen Menschen-Tiere besser als pflanzenhafte Seßhaftigkeit; darum erweist es sich auch bei der Ausfüllung von Stellungen, von denen her neuernde Entscheidungen zu treffen sind, immer mehr, dass es auf frische Augen mehr ankommt als auf Fachwissen. Insofern könnte sich der Dilettant vielleicht wirklich einmal, wie dies H. S. Chamberlain erhoffte, als der höherstehende Nachfolger des Fachmanns und nicht als dessen Vorläufer erweisen. Was aber überdurchschnittlich Begabte betrifft, so ist klar, dass sie immer sicherer eine ihnen gemäße Stellung finden werden, je mehr der Mensch die Natur mit seiner künstlichen Welt überbaut. Im übrigen wird Erziehung immer mehr dafür sorgen, dass es jedem Kinde selbstverständlich werden wird, das Nützliche zum Berufe zu erwählen, zu dem es am besten taugt. Immer wieder ist ursprünglicher und als unleidlich empfundener Zwang zur Konvention, dann zur Gewohnheit, zuletzt zur Sitte geworden, welche nicht zu befolgen den Ausbrecher unmöglich machte. So wird sich der Puritanervers

God has a place for everyone
And He has one for you

immer mehr bewahrheiten. Das Gemeinschaftsproblem, welches wirklich ein Problem ist oder sein kann, liegt ganz anders. Es besteht in der Frage: Wie erfülle ich meine persönliche Bestimmung in dem Rahmen, in welchen ich hineingeboren bin, der mir als Fatum auferlegt ist und der die Möglichkeiten meines Erdendaseins abgrenzt? Diese Frage ist nur vom Schicksalsprobleme her in ihrem ganzen Ausmaße auf einmal und dennoch kurz zu beantworten. Diese Beantwortung wollen die folgenden Betrachtungen versuchen.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Gemeinsamkeit
© 1998- Schule des Rades
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