Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Religion und Theologie

Verlorenes Paradies

Auf Grund der vorhergehenden Grenzbestimmung zwischen Religion und Psychologie kann es nicht schwerfallen, den Sinn des uralten Gegensatzes zwischen dem ursprünglich Religiösen und dem Gottesgelehrten so deutlich zu bestimmen, dass daraufhin jeder einzelne fähig wird, Versuchungen gegenüber die ihm gemäße richtige Entscheidung zu treffen.

Jeder echte Religionsstifter, jeder nicht falsche Prophet stand irgendwie im Gegensatz zur herrschenden Theologie. Und heute tut dies jeder, in welchem nach Verlust eines alten Glaubens neue Religiosität keimt, mehr denn je früher der Kirche oder irgendeiner Kirche gegenüber. Eben darum lässt er oft so gern, in Unverständnis seiner wahren inneren Lage, eine ihm fremde und von Hause aus unverständliche Konfessionsform gelten, wie z. B. die an indischen Begriffen orientierte Theosophie, weil er ohne äußere Sicherung nicht leben zu können meint. Trotz dem ursprünglichen sowohl als säkularen Gegensatz zwischen religiösem Schöpfer- und Gottesgelehrtentum nun hat sich nicht nur jeder religiöse Impuls irgendeinmal in irgend etwas Kirchenartigem materialisiert — jeder einzelne echt Religiöse, und war er anfangs noch so kirchenfeindlich, neigt früher oder später dazu, sich in irgendeiner Theologie festzulegen oder wenigstens nicht zu verhindern, dass andere ihn in einer solchen festlegen, welche im Fall eines schöpferischen Geistes natürlich die ist, die sich aus seiner eigenen Lehre abziehen lässt. Nur eine Religion auf Erden hat diesem Siege des natürlichen Gefälles über die Vorherrschaft und Initiative des Geistes grundsätzlich vorgebeugt: die indische. Sie tat es, indem sie Gestaltungen einerseits niemals metaphysisch ernst nahm, andererseits jeder als einem möglichen Gefäß für göttlichen Ein-Fluss Existenzberechtigung zuerkannte, das Ideal jedoch in einem Zustande jenseits von Name und Form sah. Aber so innerlich ungebunden wie der Inder ist meines Wissens kein Abendländer bisher gewesen. Man vergesse nicht: auch die Häretiker, auch die von der herrschenden Autorität Verdammten unter den christlichen Mystikern fühlten sich als treue Diener der Kirche. Das beste Sinnbild für diese Geistesart bietet Franz von Assisi, welcher einerseits eigenere Wege ging als Luther und alle ihm verfehlt und verkehrt scheinenden Lehren und Bräuche der Kirche offen bekämpfte, sich aber andererseits in selbstverständlicher Demut vor der Autorität jedes ordinierten Priesters beugte.

Nun muss man, so man sich selbst verwirklichen oder auch nur weiterkommen will, zunächst einmal die eigene Wirklichkeit als eines irrational Glaubenden (wo solche vorliegt) anerkennen, so wie sie ist, und möge der eigene Verstand den eigenen Glauben noch so sehr verdammen. Und dazu gehört beim Abendländer ein angeborener Hang zur Theologie im Unterschied von rein innerlicher Religiosität. Dies gilt zumal von der großen Zahl derer, deren religiöse Sehnsucht groß, deren religiöse Begabung jedoch gering ist und die sich darum sehr leicht auf der Linie des geringsten geistigen Widerstandes, welche hier der Hang zum lückenlos zusammenhängenden System ist, festfährt. Man denke nur an Luther: dieser begann als einer der größten Freiheitshelden der Geschichte, und dieser sein Impuls wirkt, wenn auch längst nicht mehr auf religiöser Bahn, noch heute in seinem eigensten Sinne fort. Doch was tat er als Religiöser, seitdem er sich von den von ihm als falsch erklärten Lehren und Praktiken losgelöst hatte? Er begründete sehr viel engere. Jeder Geistesausdruck ist ursprünglich Bild. Darum ist jede konkrete Religion in irgendeinem Verstande Bilderdienst. Auch das Wort ist zunächst ein Bild unter anderen. Luther nun ließ einzig den Wortlaut der Bibel als Bild und Gleichnis für Gottes Sinn gelten, welchen Wortlaut er überdies wortwörtlicher als irgendein Religionsstifter vor ihm verstand. Kein Wunder daher, dass die lutherische von allen christlichen Kirchen am meisten gefährdet erscheint.

Luther endete als besonders enger Theologe. Darum ist nur logisch, dass die protestantische Theologie immer mehr zur Philologie entartete, d. h. zur Exegese, Textkritik und Quellenforschung. Wogegen der Katholizismus, wegen des Reichtums der Bilder, die er als gleichberechtigt und sinnerfüllend anerkennt, und wegen der nicht-Rationalisierbarkeit der meisten unter ihnen, nie in solche Gefahr geraten ist und heute sogar Miene macht, die Sekte seiner, welche sich Protestantismus heißt, wieder in seinen Schoß heimzuführen. In Anbetracht der Entchristlichung der Welt ist ohnehin sicher, dass die Konfessionsunterschiede unaufhaltsam an Bedeutung verlieren werden, und rafft sich der Katholizismus einmal dazu auf, wirklich katholisch, d. h. allumfassend zu werden, und nähert er sich einmal dem Zustand, welcher in der griechisch-katholischen Kirche vom Urchristentum her noch heute in großer Reinheit fortlebt, so hat er noch eine große Zukunft vor sich. Am sinngemäßesten wäre freilich eine die ganze christliche Welt ergreifende Renaissance des anatolischen Christentums, die vielleicht auch eintreten wird, sobald Russlands tiefchristliche Religiosität wieder öffentlich in Erscheinung treten kann und die Welt Kenntnis von den vielen echten Heiligen gewinnt, die dort unter dem Druck des letzten Vierteljahrhunderts erstanden sind. Aber bisher hindert diesen natürlichen Prozess die schon im dritten Jahrhundert erstarrte Überlieferung der griechischen Kirche und deren mangelnder Sinn für Geschichte und Fortschritt. Darum kann diese nur auf dem Wege einer Aufnahme des protestantischen Impulses wieder lebendig werden, wozu es Ansätze schon vor dem Weltkriege gab; bis dahin aber hat die katholische Kirche alle Chancen für sich. Doch uns geht hier ein allgemeineres Problem an. Und überdies ist nur von dessen Lösung her das bestimmte Problem jedes Einzelnen heute zu lösen, weil jeder Urteilsfähige einsehen muss, dass der größere Teil auch unter christlich Religiösen für eine beliebige christliche Kirche verloren ist. Man vergesse nicht, dass unter allen Religionen einzig die christliche eine der unseren vergleichbare Kirche herausgestellt hat und dass die Morgenländer religiös begabter sind als die Abendländer. Es ist meines Erachtens unwahrscheinlich, dass je wieder mehr als ein Viertel aller Deutschen ehrlich kirchengläubig werden wird.

Was hat es also mit der Theologie überhaupt auf sich und woran liegt es, dass jeder ursprüngliche Geist der Geschichte ihr Gegner war? Um das zu verstehen, betrachten wir am besten ein ganz modernes Beispiel, das mit keiner heute herrschenden Kirche das allergeringste zu tun hat: den Fall Edgar Dacqués, des Geologen und Paläontologen, des Verfassers der wunderbaren Erdzeitalter, des romanartig spannenden Buches Urwelt, Sage und Menschheit, das eine neue Möglichkeit des Verständnisses für die Sage als Geschichtsquelle und ihren tieferen Sinn geschaffen hat, der aber in seinen späteren Büchern immer mehr, freilich auf vom Standpunkt der Kirche häretische Art, den alten Bibelglauben vertritt. Da ich in diesem Brevier nur Anregungen geben möchte, so empfehle ich dem, welcher das Folgende nicht ohne weiteres verstehen sollte, als Erläuterung und Illustration vor allem Dacqués Verlorenes Paradies und Urgestalt zu lesen; folgt er meinem Rat, dann wird er ohne weiteres einsehen, was ich und wie ich es meine. Was nun tut Dacqué in den genannten Schriften? Nun, solange und sobald er als Natur-Erforscher denkt und schreibt, wirkt er im besten Sinn wahrhaftig, auch wo er die erstaunlichsten Hypothesen aufstellt. Hier handelt es sich allemal um echte Einfälle aus seinem eigenen tiefsten Inneren, die darum auch immer etwas objektiv Wahres an sich haben. Erweist sich hier irgendeine Annahme oder Schlussfolgerung als unhaltbar, so spricht dieses ebensowenig gegen den Verfasser, wie irgendein wissenschaftlicher Irrtum eines ehrlichen und gewissenhaften Forschers gegen diesen sprach — und bisher wurden alle Errungenschaften der Wissenschaft irgendeinmal überholt. Versenke ich mich nun aber in das, was Dacqué als Wahrheit der biblischen Mythen vorträgt, wobei er so weit geht, ein vollständiges, nicht nur rückblickendes, sondern prophetisches Bild des Geschehens von der Weltschöpfung bis zum Weltuntergang zu geben, dann erkenne ich in Dacqué den leiblichen Bruder eines buchstabengläubigen Kirchenvaters. Dacqué hat kein ursprüngliches Verhältnis zur Welt des Sinnes; er ist kein tiefreligiöser Geist, ursprüngliche religiöse Erfahrung geht ihm augenscheinlich ab; ihm ist es nicht gegeben, von der Region jenseits von Name und Form her die Erscheinung zu durchschauen und, so oft er von Symbolik spricht, Sinnbilder wirklich als solche aufzufassen. Dacqués Unbewusstes glaubt blind und buchstäblich an die Offenbarung, welche seiner Ansicht nach Anderen zuteil ward. Und von dieser her konstruiert er alsdann, freilich nicht nur mit seinem Verstande, sondern auch mit dichterischer Phantasie, die mitunter seherische Züge aufweist. Er schafft eine neue Theologie, an die er persönlich offenbar ehrlich glaubt.

Genau so nun ist jede Theologie auf Erden entstanden und genau so ist jede psychologisch zu erklären. Zu aller Zeit hat es sehr wenige ursprüngliche religiöse Geister gegeben, ich meine solche, welchen eigene Offenbarung zuteil ward, und nur sehr wenige unter letzteren haben sich einigermaßen verständlich auszudrücken gewusst. Den meisten fehlte irgendwie das Wortgewissen. Sogar die meisten Erlebnisse der großen Mystiker sind, so wie sie selber sie darstellten, eigentlich unübertragbar. Darum wurden und werden sie immer neu kommentiert und geht ihr Wirken in die Breite hauptsächlich auf diese Kommentare zurück. Aber sehr viele ahnen die religiöse Wahrheit, die sie für sich nicht fassen können, und spüren solche in den Verkündigungen eines Anderen eine Annäherung an jene, dann glauben sie an sie und — sehr natürlicherweise — gleichzeitig und vor allem an die Autorität dessen, welcher sie verkündete. So glaubt Dacqué an die Biblische Geschichte. Alles, was er über sein Durchschauen ihrer vorbringt, ist nichts als beschwichtigende und letztlich abwegige Ausrede, denn die Gabe des Durchschauens geht ihm ab. Die geglaubte Wahrheit des Mythos verarbeitet er dann mit seinem wirklichen Wissen, welches die Naturwissenschaft und zum Teil auch die Psychologie betrifft, zu einem einheitlichen System. Und damit ist die Fauna der deutschen Theologien um eine mehr bereichert.

Eine gleiche Gefahr läuft jeder an irgendeinem kritischen Punkte seines Lebens. Der konstruierende Verstand ist das eine geistige Organ, welches im intelligenten heutigen weißen Menschen voll entwickelt ist. Darum fühlt er sich als Konstrukteur — nicht nur als Ingenieur, sondern überhaupt —, und das kommt unter anderem der theologischen Konstruktion zugute. Was die Scholastik in ihrer Hoch-Zeit kennzeichnete, erlebt darin seine Apotheose. Dem heutigen Menschen fällt es geradezu schwer, nicht zu konstruieren — wohl ein Ausdruck mehr des technischen Zeitalters, d. h. desjenigen der Ingenieure. Die unbegabtesten und ungebildetsten Menschen konstruieren z. B. unermüdlich Weltanschauungen. Hier nun, wenn irgendwo, tut Durchschauen der unbewussten Absicht sowie Selbstzucht not. Die Mehrheit der Deutschen wird sich, solange sie nicht, dem indischen Ideal gemäß, wenigstens bekenntnismäßig über Name und Form hinaus ist, letztendlich immer zu irgendeiner Theologie bekennen, weil sie es einfach nicht aushält, nicht auf alle Fragen bestimmte, eindeutige und endgültige Antworten zu erhalten. Daher der zäh-unbeirrbare Glaube der Deutschen an Systeme und deren Wert. Der eigentliche Zustand des höheren Menschen, ein Leben ohne Sicherheit, unter ständiger Akzeptierung von Risiko, ist noch sehr Weniger Sache. Soviel aber könnte bei genügender Bildung heute schon jeder einsehen: sobald Konstruktion an Stelle der Inspiration steht, ist der Urquell der Wahrheit verschüttet. Eine Konstruktion ist niemals wahr, auch wo sie logisch unantastbar ist und Glauben an wirklich Wahres verstandesgerechten Ausdruck verleiht.

Denken wir nun von hier aus an unsere Betrachtungen über Wahrhaftigkeit zurück. Dann können wir sagen: jede Konstruktion bedeutet psychologisch einen Kurzschluss — und zwar einen Kurzschluss aus Unfähigkeit zu warten, bis dass die eigene Offenbarung kommt. Dieses Nicht-Warten-Können ist der ursprüngliche Seinsgrund aller Konstruktion und aller Anerkennung, welche alleserklären-sollende Systeme genießen. Moralisch aber hängt es mit schwächlichem sich-gehen-Lassen zusammen, mit Mangel an Selbstbeherrschung. Eigentlich sollte es zur geistigen Stubenreinheit gehören, auf Theologie verzichten zu können. Religion ist Ausdruck des schlechthin Ursprünglichen im Menschen, oder sie ist nicht. Theologie ist bestenfalls ein ihr für einen Augenblick, einer herrschenden Mode vergleichbar, angemessenes Kleid. Aber der Religiöse muss hinfort auch im Abendland, wie er es in Indien längst gewohnt ist, den als den Höherstehenden anzuerkennen lernen, welcher den Mut und die Haltung hat, nicht voreilig zu erklären, Ungewissheit in bezug auf das Letzte auszuhalten und abzuwarten, bis dass ein persönliches Erlebnis ihm die ersehnte Offenbarung gibt. Theologie als solche gehört überhaupt nicht in das Gebiet der religiösen Problematik, an welcher jeder teil hat. Der Theologe ist eigentlich ein überlebter Menschentypus, seitdem sich die Wissenschaft einerseits, die religiöse Intuition andererseits aus der undifferenzierten Erkenntnisart der Urzeit überhaupt herausdifferenziert hat. Religiöse Erneuerung kann fortan nur von Nicht-Theologen kommen, welche rein aus dem heraus, was ihnen persönlich offenbart ward, künden und auf jede theologische Konstruktion verzichten.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Religion und Theologie
© 1998- Schule des Rades
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