Schule des Rades

Hermann Keyserling

Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit

Höflichkeit

Kultur der Wahrheit

Einem Deutschen fällt es in der Mehrzahl der Fälle schwer zu verstehen, warum die großen Gestalten der griechisch-katholischen Kirche in der Höflichkeit eine geistliche Tugend sahen; zuletzt vertrat diesen Standpunkt beinahe mit Schroffheit der an sich so milde russische Philosoph Wladimir Solowjow. Vollends erstaunt ist aber der gleiche Deutsche meist, wenn er erfährt, dass die Zeitgenossen beim Buddha, also dem siegreich Vollendeten, über Menschenmaß hoch Hinausgewachsenen, als eine seiner Haupteigenschaften die Höflichkeit priesen. Zwar gibt es auch in unserer abendländischen Überlieferung einen geistlich Großen, welcher ähnlich dachte: Franz von Assisi. Dieser behauptete gar, Gott habe Sonne, Mond und Sterne und alles Schöne auf Erden aus Courtoisie erschaffen. Aber diese Seite des poverello wird selten zur Kenntnis genommen, gewöhnlich als Idiosynkrasie ohne Bedeutung beurteilt und damit abgetan. Höflichkeit gilt in deutschen Landen allgemein als oberflächliche Angelegenheit.

In Wahrheit hatten die griechischen Kirchenväter und der Buddha und der heilige Franz so sehr recht, dass man beinahe das Gegenteil der deutschen Auffassung behaupten dürfte: wer die Tiefe echter Höflichkeit nicht einsieht, der ist oberflächlich, nämlich als Mensch; viel oberflächlicher als der flache Denker, denn Gedankengebäude bestehen, wenn sie überhaupt stehen, außerhalb des persönlichen Lebens, und wir sind nun einmal in erster und letzter Instanz persönliche Wesen. — Doch der Zusammenhang ist hier wirklich nicht ohne weiteres zu übersehen. Die von Natur aus höflichen Menschen und Völker wissen selber auch nicht, was sie tun, und erst das Verstandene ist geistig erwachten Menschen sicherer, und wo er bewusst festgehalten und kultiviert wird, wertbedingender Besitz. Darum sei in diesem Buche der Betrachtungen das Problem der Höflichkeit unmittelbar nach dem der Gemeinsamkeit behandelt. Erstens wegen seiner außerordentlichen, kaum zu überschätzenden Wichtigkeit, dann aber, weil im richtig gestellten Problem der Gemeinsamkeit die Grundlage des Höflichkeitsproblems bereits enthalten ist.

Unsere abendländische Kultur ist vorzüglich Wahrheitskultur. Das aber beruht weniger auf vorherrschendem Erkenntnistrieb als auf dem besonderen Ethos, welches im mittelalterlichen Rittergelübde seinen Mantram-artigen Urausdruck gefunden hat. Der Ritter hat mit seinem Leben einzustehen nicht allein für das, was er tut und sagt, sondern auch dafür, was er denkt; nichts anderes bedeutet die spezifisch abendländische Überzeugungstreue im Unterschied z. B. von der chinesischen. Damit erscheinen unbedingtes Verantwortungsgefühl, Mut und Angriffstrieb auf einen Nenner gebracht. Daraus aber folgt, dass das abendländische Ethos ursprünglich weniger Wahrheit als Wahrhaftigkeit fordert — denn was ist Wahrheit? Jede wurde irgend einmal widerlegt, und käme es bei der Überzeugung auf das objektiv Richtige an, dann könnten nicht törichte Menschen nur in seltenen Ausnahmefällen feste Überzeugungen haben. So verstandene Wahrhaftigkeit ist nun eigentlich Aufrichtigkeit, und Aufrichtigkeit, auf Ritterart aufgefasst, bedeutet damit ständige Bereitschaft zum Kampf. Darum ist das Duell und nicht der Beweis das abendländische Urkriterium für Wahrheit, welche Auffassung in der Vorstellung des Gottesurteils ihre metaphysische Grundlegung erhielt. Wille zum Kampf bedeutet nun unter anderem auch Rücksichtslosigkeit. In einem hart auf hart soll entschieden werden, wer die Oberhand behält (nicht wer objektiv recht hat; diese Frage stellt sich überhaupt nicht im Falle reiner Kampfkultur). Und wurden bei diesem Hart auf Hart besonders höfliche Formen gewahrt, wie dies bei allen adeligen Kriegerkulturen der Fall war, galt innerhalb ihrer das Gebot, sich dem Feinde gegenüber edel und großmütig zu erweisen, so lag darin eine Konzession an andere Strebungen, die mit der geschilderten Grundeinstellung auf einen Nenner nicht zu bringen sind und von denen gleich die Rede sein soll. Vorher aber halten wir das folgende überaus Wichtige fest. Kein Zweifel: wie keine frühere hat sich die abendländische Kultur das Recht zugestanden, alle anderen auszurotten, die eigene anderen aufzudrängen und um dessentwillen, was sie unter objektiver Wahrheit und Fortschritt verstand, alle Gefühle anderer zu vergewaltigen. Ihr Wahrheitsideal ist ursprünglich ein Sieg-Ideal; es heiligt einen Macht-Anspruch. Höchst merkwürdig ist es, wie sich in diesem Falle — es ist meines Wissens der einzige der bisherigen Geschichte — elementarer und darum rein irdischer Macht- und Kampftrieb mit einem metaphysisch vorgestellten Ideal vermählt hat. Wahrscheinlich geht diese Alliance, welche Chinesen z. B. sicher als Mésalliance beurteilen würden, auf des Sokrates missverständliche Gleichung zurück, was wahr ist, müsse darum auch schön und gut sein. Doch wie dem immer sei: keiner, welcher Augen hat zu sehen, wird leugnen können, dass wir Abendländer im Namen dessen, was wir Wahrheit heißen, uns ein Götterrecht auf Zerstörung des Bestehenden zusprechen. Woraus allein schon sich das extrem Destruktive der letzten Erscheinungsformen der westlichen Zivilisation als logische Notwendigkeit erklärt.

Unser spezifisches Wahrheitsstreben in Reinkultur nimmt grundsätzlich keine Rücksicht auf die Gefühle und Empfindungen anderer. Reinkultur der Höflichkeit dagegen setzt gerade nur Rücksichtnahme als höchsten Wert. Ihr bedeutet das Menschliche alles, das sachlich Richtige, so gut es gemeint sei, nichts; Kampf erscheint ihr als notwendiges Übel und Vergewaltigung als böse schlechthin. Und hier handelt es sich nicht etwa um weibliche gegenüber männlicher Auffassung. Gerade extrem männliche, weil kriegerische Kulturen sind in vielen Fällen die der größten Courtoisie gewesen. Der Mann ist keineswegs weniger empfindlich als die Frau, er ist meist eitler, und wird er zu ausschließlicher Härte erzogen, so stellt sich das gestörte Gleichgewicht meist dadurch wieder her, dass die Harten in bestimmter abgegrenzter Hinsicht, z. B. auf die persönliche Ehre oder gewahrte Form, besonders empfindlich sind und unter sich besondere Rücksicht auf einander nehmen; das menschliche Verhalten ist in solchen Fällen auf Gleichberechtigte beschränkt. Daher das extreme Kasten- und Standesbewusstsein der Abendländer in ihrer Ritterzeit. Andere Kulturen nun haben die Rücksichtnahme als Grundwert aufgefasst. Das gilt von der chinesischen, derjenigen der Japaner unter sich — harte und scharfe Befehle kommen sogar im heutigen Japan nicht vor; bei aller Anordnung von oben wird die Fiktion aufrechterhalten, dass der Untergebene alles besser weiß —, gilt in Europa im Rahmen abendländischer Möglichkeit von den romanischen Kulturen. Höflichkeit bedeutet Rücksichtnahme auf Gefühle und Empfindungen der Anderen. Tritt diese meist in objektivierten und allgemeingültigen Formen in Erscheinung, so hat dies, wo nicht untermenschliche Trägheit und Unaufmerksamkeit daran schuld sind, seinen Seinsgrund im Bestreben, eine neutrale Daseinsebene zu schaffen, auf welche hinaufgehoben persönliche Schwierigkeiten ihren persönlichen Charakter verlieren und damit entwirklicht werden. Hier dient die Objektivierung der Delicadeza, anstatt sie auszuschalten. Wenn die Form gewahrt bleibt, kränkt der böseste Inhalt nicht; was objektiviert ist, bezieht sich auf keine besondere Subjektivität. Darum darf sich im englischen Parlament ein Abgeordneter nie direkt an seinen Gegner, sondern allein an den Speaker wenden; darum werden überall auf Erden Dritte zur Beilegung persönlicher Konflikte berufen. Mit größter Kunst hat die Möglichkeiten solcher Entwirklichung Alt-China in seiner Kulturgestaltung ausgenutzt. Innerhalb dieser besteht kaum überhaupt die Möglichkeit, dass jemand beleidigend oder beleidigt würde, sogar im intimen Leben nicht. Aber freilich ist auch, ja gerade dort die lebendig-vermittelnde und versöhnende Form schließlich zur toten Konvention geworden. Und vollends mechanisiert und damit entmenschlicht, ihres eigentlichen Sinnes entkleidet erscheint die Höflichkeit dort, wo sie als Konvention zu praktischen Zwecken in Erscheinung tritt, ohne überhaupt vom Geist der Rücksichtnahme und des Schenkens inspiriert zu sein. Auf dieses Schauerliche weist das gottlob unwahre Sprichwort hin: Der Deutsche lügt, wenn er höflich ist. Seinen eigentlichen Sinn fasst am besten das Shakespearesche to smile and smile and be a villain, welches Wort als Seele des amerikanischen keep smiling gelten kann. Das jenseits des Ozeans geforderte Lächeln hat beinahe ausschließlich Geschäftsgründe: man erreicht praktisch mehr, legt andere sicherer herein, wenn man liebenswürdig ist. Gleichsinnig hat das amerikanische Ideal der Freundlichkeit (kindness) weder mit Güte noch auch mit Delicadeza etwas zu tun; sein Sinn ist vielmehr der: ich gebe zu, dass ich Andere hereinlegen will und erkenne anderen das Recht zu, mich, wenn sie können, ihrerseits hereinzulegen — nur muss es in freundlicher Atmosphäre geschehen.

Doch das sind Einzelheiten. Wenden wir uns nunmehr dem Grundsätzlichen des Problems der Rücksichtnahme zu. Rücksichtnahme kann dann allein wirklich als solche gelten, wenn sie dem persönlichen Menschen von Fall zu Fall in der gegebenen Situation gerecht wird. Gerade dieses einzig Menschliche und Menschengemäße an der Rücksichtnahme nun liegt in der elementaren Sensibilität und Irritabilität jedes Organismus, das heißt seiner Empfindlichkeit, vorgebildet, und ebenso die Dankbarkeit für wohltuende Eindrücke. Nicht allein jedes höhere, sondern schon manches niedere Tier zeigt sich erkenntlich für Wohltat, am häufigsten in Form geschenkten Vertrauens. Weil dem so ist, findet man Höflichkeit hohen Ranges schon bei sonst Wilden ausgebildet. Aus der Rücksichtskultur aber ist im Laufe der Durchseelung und Vergeistigung alle Schönheitskultur auf Erden erwachsen. Als schön wird ursprünglich das empfunden, was wohltut. Darum findet der nordländische Bauer, der außerhalb aller städtischen Kultur erwuchs, von Hause aus jeden gutbestandenen Acker schöner als eine objektiv schöne wilde Landschaft. Dass das objektiv Schöne dem kultivierten Geist besonders wohltut, ist eine Tatsache der Weltordnung, welche, vom Menschen her geurteilt, ebenso gut nicht sein könnte. Aber auch als gut wird ursprünglich das empfunden, was wohltut, was immer es sei, und entsprechend als böse und häßlich, was wehe tut. Die Urempfindlichkeit — in den Meditationen habe ich den besonderen Begriff Delicadeza dafür geschaffen, welches Wort ich auch hier verwende, wo ein anderes zu Missdeutungen führen könnte — fragt überhaupt nicht nach Objektivem, nach Wahr- und Richtig- und Im-Recht-Sein. Die Werteskala, die auf ihr begründet ist, geht davon aus, dass nur, was beglückt, von positivem Werte ist. Tatsächlich lassen sich von dem Beglückenden her alle anerkannten Ideale wenn nicht fundieren, so doch verstehen. Alle, nur das der objektiven Wahrheit nicht, weil dieses keine Rücksicht kennt.

Damit können wir denn das über die Wahrheitskultur des Abendlandes Gesagte erkenntniskritisch begründen. Kultur der Wahrheit hat ganz andere Wurzeln als Kultur der Schönheit, und beide sind überhaupt auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ja sie sind ursprünglich entgegengesetzten Geists. Die Erdwurzeln der Wahrheitskultur liegen nämlich in der elementaren Aggressivität, im Drang des Urlebens, neuen Lebensraum zu erobern und andere aus dem ihren zu verdrängen. Auch wenn vorgebliche wissenschaftliche Wahrheit vorgeblichen religiösen Irrtum ersetzen will, bedeutet das, von der Erde her gesehen, nichts anderes. Schon darum war es sinngerecht, wenn wir vorhin die abendländische Wahrheitskultur auf das Rittergelübde und nicht auf den Erkenntnistrieb zurückführten. Letzterer war bei den neugierigen Griechen wahrscheinlich viel größer als bei den neuerdings vorherrschenden Nordvölkern, aber mit ihrer Wahrhaftigkeit war es nie weit her. Als Schönheitsvolk par excellence waren die Hellenen, im Gegenteil, mit besonders gutem Gewissen lügnerisch. Damit hängt wohl zusammen, dass der alternde Plato im Dichter nur noch den Lügner sah und ihn aus seinem Idealstaate ausgeschlossen wissen wollte; bei keinem anderen Volke ist ein ähnlicher Gedanke festzustellen. Wer also Wahrheit um jeden Preis will, muss grundsätzlich bereit sein, den Preis alles dessen, was das Leben zur Freude macht, zu bezahlen, Liebe, Glück, Schönheit und Frieden für die Wahrheit hinzugeben und Unglück und Herzeleid zu schaffen. Man überlege von hier aus noch einmal, wieviel Leben, und zwar schönes Leben die abendländische Menschheit auf dem ganzen Erdenrund zerstört hat. Es ist weit mehr, als Mongolen je verbrochen haben, denn letztere wüteten aus Trieb und Leidenschaft, und solche sind allemal endlich, während Wahrheitsstreben unendlich ist.

Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit · 1941
Höflichkeit
© 1998- Schule des Rades
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