Schule des Rades
Hermann Keyserling
Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit
Höflichkeit
Menschlichkeit
Soll man sich nun für die Wahrheit oder für die Schönheit entscheiden? Die meisten bisherigen Kulturen haben mit größerer oder geringerer Klarheit die eine oder die andere Entscheidung getroffen. In Amerika gilt nur die Aufrichtigkeit in menschlichen Beziehungen als Wert. Freundlich ist man im Dienste des Geschäfts. Dort spricht sich jeder das Recht zu, einem geliebten Wesen das Herz zu brechen, wenn man ihm nur offen sagt, wie man fühlt und was man tut. In Deutschland galt lange als Tugend, ungefragt jedermann ganz offen die Wahrheit zu sagen, und bedeutete dies, von der Empfindungs- und Gefühlssphäre her geurteilt, deren von denen des Verstandes mit seiner Sachlichkeit grundverschiedene Normen doch alle persönlichen Beziehungen nicht nur regieren, sondern in positivem Sinne allererst möglich machen, gröbste Rücksichtslosigkeit. Mehr oder weniger erscheint die ganze moderne Welt in ähnlichem Sinn verbildet, denn die Anerkennung der Wissenschaft mit ihrem rein sachlichen Wahrheitsbegriff als höchster Autorität hat für das Bewusstsein nicht nur der meisten Männer, sondern auch sehr vieler Frauen das Menschliche in den Hintergrund gedrängt. Insofern darf man im heutigen Europa und Amerika geradezu von einer Verseuchung durch den Bazillus der Wissenschaftlichkeit reden: Die nur einer bestimmten Seite unpersönlichen Lebens gemäße wissenschaftliche Fragestellung hat zu einer Devitalisierung und Verdürftigung des persönlichen Menschen geführt — zu einer Schrumpfung vieler seiner Seelenorgane, der gleichen die Geschichte noch niemals sah. Umgekehrt legen Schönheitskulturen, je reiner sie als solche sind, auf Wahrhaftigkeit desto weniger Wert; auf das Wohltuende, das Erfreuende, kommt diesen alles an. Den reinsten Ausdruck dieser Einstellung verkörpern unter modernen, uns ohne weiteres verständlichen Völkern die Südamerikaner. Aber auch die ganze sogenannte asiatische Verschlagenheit hat ihren wahren Grund hier. Alle Völker des Ostens mit Ausnahme der nördlichen mongolischen und finnisch-ugrischen Steppenbewohner sind in ihrer Struktur mehr empfindlich als aggressiv, und ihnen allen steht im persönlichen Verkehr wohltuende Unwahrheit als Wert über der unliebsamen Wahrheit. In manchen Kreisen vornehmer Türken des alten Regime verbot gesellschaftliche Konvention sogar, in Gegenwart eines Gastes zu denken, was diesem missfallen könnte; wer kann denn wissen, ob der Gast nicht Gedanken zu lesen vermag. Der chinesische Formensinn hat eben hier seine tiefste Wurzel: schöne Form versöhnt und macht das Leben leichter, wo es schwierig ist. Nur dem sehr Aggressiven, der wegen dieser seiner Einstellung wenig von dem empfindet, was ihn berührt — er teilt nur Hiebe aus, und sein Ideal ist, die eigenen Wunden gar nicht zu spüren —, fehlt normalerweise jeder Formensinn.
Was ich hier an Hand historischer Beispiele an Lebensgestaltungsmöglichkeiten nur nebeneinander hingestellt habe, ist jedem Aufmerksamen unzählige Male in seinem Leben zum persönlichen Problem geworden; wieder und wieder hat jeder vor der Alternative gestanden, ob er seinen als richtig angenommenen Standpunkt durchsetzen oder auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen soll und in welchem Grad. Die häufigste Form der Lösung, die mir begegnet ist, ist die, dass der Mann im Amte oder Dienste rein sachlich und durchsetzerisch, daheim da gegen Pantoffelheld und im gesellschaftlichen Verkehr verbindlicher Diplomat ist. Diese Lösung ist aber natürlich keine wirkliche Lösung. Gibt es nun eine grundsätzliche Einstellung, welche es dem Menschen ermöglichte, sich in den aufgedeckten Antinomien und Aporien nicht zu verfangen? Dass es auf diese Frage keine programmatisch abstrakte, keine ein für allemal gültige Antwort geben kann, ist klar, denn das Harte und Starre und Einfürallemalige entspricht wohl oft dem Geist der anorganischen Natur, nie jedoch demjenigen des Lebens. Wer z. B. nicht einmal einsieht, dass das französische Sprichwort toute vérité n’est pas bonne à dire
dem Wahrhaftigkeitsideal nicht widerstreitet, wer umgekehrt nicht einsieht, dass alle Rücksichtnahme an irgendeiner Grenze haltmachen muss und dass manche Lebenslage harte und scharfe Behandlung unbedingt fordert, dessen Geist hat sich der Norm des Leblosen verschrieben. Und dem ist nicht nur selten zu helfen — seine Ansicht kommt für die Lösung des Problems überhaupt nicht in Betracht. Es gibt nun aber wirklich ein Ideal, welches, vom persönlichen Menschen her geurteilt, oberhalb des Wahrheits- sowohl als des Schönheitsideales thront und zu dem sich jeder in schlechthin jeder Lebenslage bekennen kann: das ist das Ideal der Menschlichkeit. Wer das Menschliche über das Sachliche einerseits, das bloß Gefällige andererseits stellt, der und der allein ist befähigt, in jeder nur denkbaren Lage die von seinem persönlichen Standpunkt sowohl als demjenigen derer, mit denen er zu tun hat und sogar der Sache die absolut beste Lösung für den an ihn herantretenden Lebensanspruch zu finden.
Das meinte Jesus, als er die Nächstenliebe über die Gerechtigkeit stellte und Liebe zum Nächsten und zu Gott als sinneseins erklärte. Er meinte nicht Nachgeben den Trieben und Neigungen des Nächsten gegenüber, aber auch nicht deren Außerachtlassen zum Besten der Wahrheit: sonst hätte er nicht die Liebe als Kardinalwert hingestellt, und Liebe, die exklusivste und parteiischste aller Seelenregungen, hat ihre sämtlichen Erdwurzeln in der Empfindlichkeit und nicht im Aggressionstrieb. Damit stellte er das Persönliche ein für alle Male und grundsätzlich über alles Sachliche. Aber er berücksichtigte im Menschen auch und vor allem den Geist, der sich auf Erden mittels Überwindung des Erdhaften verwirklichen will, er fasste den Menschen letztlich nur als geistentsprossen auf, und darum war ihm der Mensch gerade Mensch im Unterschied vom Tier als Werteträger. Nur sollten sich die Werte eben im Menschen und damit im Menschlichen verkörpern, nicht im Sachlichen. Das Wort sollte Fleisch werden und nicht etwa Steinkohle oder Petroleum. Jesu Menschlichkeitsforderung ist also nur zu verstehen von seiner Gleichung zwischen Nächsten- und Gottesliebe her. Unter Menschlichkeit wird aber heute leider gerade das nicht verstanden, was Christus unter Menschlichkeit verstand. Heute gilt dieser Begriff für gleichbedeutend entweder mit Nachgeben der Schwäche gegenüber, oder mit Absehen von jedem Wertgefühl, in welchem Falle freilich alle Menschen, bloß weil sie der gleichen zoologischen Spezies angehören, als gleichberechtigt zu betrachten wären, oder endlich als gleichbedeutend mit dem abstrakten Humanitätsbegriff des XVIII. Jahrhunderts. Weil dieser so gänzlich und kläglich versagt hat, ist ja das Wort Menschlichkeit im XX. Jahrhundert in Misskredit geraten. Missverstandene Menschlichkeit ist freilich kein letzter Wert. Unter Umständen ist es fraglos edler, den Mut zum Töten aufzubringen, als nicht zu töten, gegen alle Rücksicht Werte zu behaupten, als diese untergehen zu lassen, das Schwache auszumerzen, als es zu behüten. Man gedenke hier des Christuswortes Ärgert dich dein rechtes Auge usw.
und seines Gebots an seine Jünger, um seinetwillen alle bisherigen Bindungen zu lösen. Dass hiermit ein tragischer und damit auswegloser Konflikt gegeben ist, ist nicht abzuleugnen, aber höheres Leben beginnt erst auf der Ebene akzeptierter Tragödie. Der Humanitätsbegriff, der sich auf einen konstruierten abstrakten Menschen bezog, ist restlos zu verwerfen, und mit ihm fällt als Wert alle Bewunderung des Schwachen, aller Pazifismus, Sentimentalismus, aller Abscheu vor Fleischnahrung, vor dem Töten usf. Ja mit ihm fällt der Menschlichkeitsbegriff überhaupt, welcher im Unbewussten der meisten Europäer und Amerikaner fortlebt, denn dieser ist als verfälschende Form erstarrt. Nur einen überlieferten Menschlichkeitsbegriff gibt es, welcher der Kritik der heute erreichten Wachheit standhielte: das ist der altspanische der Hombria. Hombria bedeutet unbedingtes Bekenntnis zum totalen konkreten Menschentum in seinem Geistigen wie in seinem Materiellen, in seinem Guten wie in seinem Bösen, auf der Basis nicht nur freiwilliger, sondern freudiger Akzeptierung alles Risikos, welches die Imperative einerseits der Durchsetzung des eigenen Unbedingten, andererseits der Aufsichnahme alles auferlegten Schicksals mit sich bringt. Hombria bedeutet damit letzte Wahrhaftigkeit im Sinn eines radikalen Realismus sowohl der Innen- wie der Außenwelt gegenüber; sie bedeutet damit auch Aufsichnahme der Schuld, des Nichtwissens und damit die Fähigkeit zum höchsten, weil unbedingten und ungestützten Glauben. Sie bringt Abgeschiedenheit und Gemeinsamkeit in Einklang; indem sie die Integralität jedes Menschen anerkennt und fordert, gibt sie auch jedem seine Ehre und seine Würde, damit aber setzt sie als normale Beziehung unter Menschen die Höflichkeit. Wenn zwei gleich Ehr- und Würde-Bewusste einander begegnen, dann gibt es überhaupt keine andere positive Möglichkeit. Umgekehrt aber verfeinert und vertieft und schafft unter Umständen sogar dem Sinn entsprechende Form das Bewusstsein für den Sinn, und da dieser Sinn derjenige echter Menschlichkeit ist, so hat Kultur der Höflichkeit unmittelbar spirituelle Bedeutung. Erziehung und Bildung innerhalb ihres Kraftfeldes führt am schnellsten zur Achtung anderer und damit zur einzig wahren Selbstachtung, welche darin besteht, sich bei dem zu bescheiden, was man wirklich ist, bei seiner Größe oder Kleinheit, je nachdem. Die gleiche Erziehung allein macht es selbstverständlich, zum Ich das Du hinzuzunehmen, damit deren Korrelationsverhältnis ursprünglich anzuerkennen und jeden Pol als den zu nehmen, der er wirklich ist, was sowohl Anmaßung wie Selbsterniedrigung ausschließt. Wo einmal Höflichkeit Norm ist, fällt Ehr-Erbietung nicht schwer, und der, welcher Ehre erbietet, gibt sie dadurch wirklich und ehrt dadurch rückwirkend sich selbst. Deutsche unterscheiden gern zwischen formaler und Herzens-Höflichkeit. Ersterer Begriff ist gegenständlich, der zweite hingegen nicht: mit seinem Herzen dabei ist keiner, wo er nicht liebt, und keiner kann sehr viele lieben. Worauf der ungenaue Begriff der Herzens-Höflichkeit hinweist, ist eine Einstellung, welche die Gefühle und Empfindungen, kurz das Menschliche anderer ebenso selbstverständlich anerkennt, wie er die seinen anerkennt, und in erster Linie mit ihnen rechnet. Solche Einstellung nun hat unmittelbar werbende Kraft, denn sie setzt die eine Art der Gleichberechtigung unter Menschen, welche jeder unwillkürlich fordert, nämlich die Anerkennung der Gleichberechtigtheit als Mensch, was genau das gleiche bedeutet, wie die Gleichheit vor Gott. Die spanischen Conquistadores waren in den ersten Jahrzehnten der Eroberung Südamerikas entsetzlich grausam. Dann hörte das Wüten auf, und die Hombria wurde zur Lebensbasis auch Südamerikas, was unwillkürlich für die Indianer menschliche Gleichberechtigung schuf. Heute erinnert sich dort keiner mehr der schauerlichen Anfänge. Während die fromme Kälte der Besiedler Nordamerikas, welche die Indianer um des menschlichen Fortschritts willen wie Raubzeug verfolgten und womöglich ausrotteten, je weiter die Zeit fortschreitet, immer mehr Abscheu erregt.
Die Spanier waren eben warm im Gegensatz zu den kalt rechnenden Angelsachsen. Und indem wir dieses sagen, erweisen wir endgültig die Hombria im Unterschied von der moralistischen Humanität als einzig echte Menschlichkeit. Der Mensch gehört den Warmblütern an, und das Warmblut erlebt seine Apotheose in der Wärme echter Menschlichkeit, welche ihrerseits allein zum Gefäß göttlicher Liebe werden kann. Während alles Kalte im Menschen, auch die Kälte des Verstandes mit einbegriffen, der niederen Sphäre der Reptilität zugehört und damit den Menschen, der sie in sich bejaht und betont, an seine Unterwelt bindet und deren Macht in sich steigert. Damit hätten wir, von einer anderen Seite her kommend, einen der Hauptpunkte der vorhergehenden Betrachtung wieder erreicht: der im Kosmos als Mensch richtig Eingestellte ist wesentlich ausstrahlend. Diese Ausstrahlung ist aber wesentlich warm, wenn sie echt menschlich ist, und wärmegeboren ist darum auch die echte Höflichkeit, so große Distanzierung sie ermöglicht. Hieraus erklärt sich denn, warum kein Verstehender Ausbrüche der Leidenschaft als Gegensatz der Höflichkeit empfindet. Von großen Männern werden hauptsächlich Anekdoten berichtet, die Temperamentsausbrüche schildern, und alle freuen sich dieser; sie freuen sich sogar am Zorn und am Vernichtungswillen. Das ist so, weil sie Wärme am Werk fühlen und damit Menschlichkeit. So ist denn der wahre Gegensatz zur Menschlichkeit nicht der Zerstörungswille, sondern die kalte Sachlichkeit. Darum wirkt Korrektheit der Form, welche letztere zum Seinsgrund hat, auf den Feinfühligen grauenerregend.
Ist jetzt deutlich, dass in der Kultur der Höflichkeit der Angelpunkt der Spiritualisierung liegen kann, sowohl vom Bewusstsein der Abgeschiedenheit als von dem der Gemeinsamkeit her gesehen? Der Geist im höchsten Verstand des Wortes ist unbedingt frei. Das Frei-Willige ist seine letzte Instanz. Die Frage von Sollen und Gehorchen stellt sich von ihm aus überhaupt nicht. Andererseits ist die Seele wesentlich empfindlich, und wer diese ihre ursprüngliche Eigenart nicht anerkennt, der kränkt sie. Darum kann der Geist nur Fleisch werden, wenn er die Eigenart der Seele berücksichtigt. Aus der hier geforderten Synthese von Geist- und Fleischgemäßheit, welche das eigentliche Ideal der Hombria ist, folgt nun letztgültig die Forderung der Höflichkeit als der normalen Beziehung der Menschen untereinander. Umgekehrt aber kann Kultur der Höflichkeit, so wie die Welt nun einmal geordnet ist, unwillkürlich tieferer Menschlichkeit und damit höherem Selbstbewusstsein zuführen.