Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Ehe-Buch

Von der richtigen Gattenwahl

Überwindung der Tragik

Von hier aus betrachtet, kann das Problem der richtigen Gattenwahl überhaupt nicht mehr als individuelles gelten. An der Art seiner Lösung hängt das gesamte Menschheitsschicksal. Wenn heute überall immer mehr ein Geist des Kollektivismus Boden gewinnt, so ist dies Symptom dessen, dass Gemeinschaftsfragen wirklich historisch voranstehen. Wir leben insofern in einem ähnlichen Zustand, wie es der des Krieges gegenüber dem des Friedens ist: angesichts allgemeiner Not hat persönliches zurückzustehen. Und hiermit wären wir, am Ende dieser Betrachtung, zum seinerzeit nur kurz berührten Punkt zurückgelangt, an dem wir feststellten, dass die Probleme der Gattenwahl vom Standpunkt der Gatten und dem der Nachkommenschaft sich grundsätzlich nicht decken. Sie haben sich auch praktisch nie gedeckt. In allen vormodernen Zeiten erschien das Problem dadurch vereinfacht, dass der Gesichtspunkt der Nachkommenschaft bei der Eheschließung selbstverständlich den Vorrang hatte. Alle Jugend wurde so erzogen, dass sie ganz selbstverständlich das Persönliche dem Generellen gegenüber hintansetze, und im übrigen schützen strenge Gesetze vor Entgleisungen. Wie wird es nun heute und morgen werden, bei dem so ungeheuer gesteigerten Persönlichkeits- und Einzigkeitsbewusstsein? — Hier lässt sich nur soviel sagen. Das Leben ist durch das Erwachen der Individualität nicht tragikärmer, sonder tragikreicher geworden. Es werden immer häufiger Fälle vorkommen, wo die Verantwortung vor der Zukunft und das Interesse der Selbstentwicklung in unlösbaren Konflikt geraten. Da wird denn jeder für sich selbst entscheiden müssen, welche Alternative er wählt und welche Schuld er damit auf sich nimmt. Der Hochbegabte hat vor der Menschheit ganz gewiss die Pflicht, an seine persönliche Vollendung zuerst zu denken. Jede echte Ehe auf hoher Stufe im Sinn des Eingangsaufsatzes ist ein dermaßen Wertvolles, dass dem Interesse des Individuellen auch hier vor dem des Generellen der Vorzug gebührt. Nur werden vielleicht solche hochstehende Paare, deren Kinder schlecht zu geraten drohen, freiwillig auf sie verzichten … In unserem gesamten Mittelalter blieben, freilich aus anderen Gründen, die meisten hochbegabten Männer kinderlos; und dies war kein solches Unglück, wie die meisten wähnen, weil überaus viele vom Rassenstandpunkt pathologisch waren. — Aber irgendein Verzicht ist unter allen Umständen notwendig. Und damit gelangen wir denn dahin, den Einwänden der Sentimentalität gegen die Forderung, objektiv richtig zu freien, ihre letzte Basis zu nehmen, damit aber auch die Verzichtforderung ihres Unmenschlichkeitscharakters zu entkleiden. Sie ist gerade nicht unmenschlich. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass seine eigentliche Welt eine selbst- und geisterschaffene ist. Er erfüllt seine Menschheitsbestimmung erst, insofern er sich über den Trieb erhebt. Er soll diesen nicht abtöten, im Gegenteil. Wie der Talmud herrlich sagt:

Je größer ein Mensch, desto größer ist sein Trieb; aber der Reine und Geheiligte macht aus seinem Trieb einen Wagen für Gott.

Jeder Mensch erweist sich als Mensch jedenfalls nur insoweit, als er die Natur vom Geiste aus beherrscht. Deshalb umgrenzt die Ethik die unterste Stufe des wahrhaft Menschlichen überhaupt. Und deshalb gehört die Ehe an erster Stelle der ethischen Sphäre an, oder sie ist nicht. Eine Ehe ohne Ethos ist ein leerer Begriff. Um bloß seine Triebe zu befriedigen, braucht man nicht zu heiraten. Wer es nur deshalb tut, der versündigt sich unmittelbar an seinem Menschentum. Nun, unter diesen Umständen enthalten unsere Ergebnisse, insofern sie Verzicht fordern, überhaupt nichts Unmenschliches. Richtig zu freien, ist ebenso menschengemäß und sollte deshalb ebenso selbstverständlich als solches gelten wie richtig handeln, richtig denken, nicht morden und nicht stehlen.

Hier denn liegt die Überwindung der Tragik. Tragik ist überall nur so zu überwinden, dass der Mensch sich über die Ebene, auf welcher der tragische Konflikt herrscht, innerlich erhebt. Als ethisches Wesen steht der Mensch nun selbstverständlich über den Forderungen von Gefühl sowohl als Trieb. Und jenes ist er wesentlicher als das, was den Forderungen dieser nachzugeben drängt. Richtiges Handeln, auch unter Selbstüberwindung, bedingt unter allen Umständen ein Glück höherer Art als das Sich-Gehen-Lassen. So sind denn die strengen Normen richtiger Gattenwahl nichts Grausameres wie Geistesnormen überhaupt. Überall wird der Mensch dadurch alleine frei — da er nun einmal wesentlich Geistwesen ist —, dass er Gefühl und Trieb zu Ausdrucksmitteln des Geistes umbildet. Und hiermit hätten wir denn den letzten möglichen Einwand gegen diese Forderungen dieses Aufsatzes implicite widerlegt — nämlich den, als verträte er eine seelenlose Pflicht-Ethik. Solche ist immer negativ zu bewerten, denn, wo er ihr gehorcht, dort von einem exzentrischen Punkt, aus herausgestellter Erkenntnis erschaffen, beherrscht. Unsere Forderungen verlangen, richtig verstanden, vom Menschen nichts anderes, als dass er sein eigenes freies Wesen realisiere. Der Mensch ist wesentlich Geistbeherrscht. Deshalb hat der Akzent auf dessen Forderungen zu liegen. Aber nicht im Gegensatz zum übrigen, sondern im lebendigen Zusammenhang. Gedenken wir nun von hier aus der Erfahrungstatsache, dass die richtig geschlossene Standesehe typischerweise die weitaus glücklichste ist, und dass nur die Ehen glücklich bleiben, die den Forderungen des Nicht- und Überpersönlichen durchaus Rechnung tragen — da geht uns ein Licht darüber auf, dass es im Grunde ein Zeichen der Verbildung ist, wenn die Frage von der richtigen Gattenwahl überhaupt einen tragischen Konflikt schafft. Die Lebensform der Ehe entspricht ja dem Menschenwesen. In ihr, gerade insofern sie ihren Sinn vollkommen erfüllt, wozu die richtige Lösung der richtiggestellten Frage der richtigen Gattenwahl gehört, erlebt der Mensch überhaupt seine allseitige Erfüllung. Also braucht er sich über den Sinn seines eigenen tiefsten Wollens nur klarer zu werden, als es die meisten heute sind, — und die Verzichtforderung, welche die Ehe stellt, erweist sich auch im Fall des besonderen Problems, das hier behandelt wurde, nur als Komponente höherer, höchstbeglückender Erfüllungsmöglichkeit.

Hermann Keyserling
Das Ehe-Buch · 1925
Eine neue Sinngebung im Zusammenklang der Stimmen führender Zeitgenossen
© 1998- Schule des Rades
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