Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Ehe-Buch

Das richtig gestellte Eheproblem

Kunst der Ehe

Stellt die Ehe ein dauerndes Spannungsverhältnis zwischen zwei unverschmelzbaren Polen dar, beruhen hierauf alle Möglichkeiten, welche sie bedingt, und ist das Bestehen dieser Spannung keine Selbstverständlichkeit, dann ergibt sich als oberster Grundsatz für die Kunst der Ehe das Gebot, die erforderliche Distanz zu pflegen; somit das genaue Gegenteil dessen, was Liebespaare sich träumen. Über die Gültigkeit dieses Grundsatzes lässt sich überhaupt nicht streiten: beruht eine Beziehung wesentlich auf Spannung, dann kann sie, wo sie sich nicht von selbst erhält, nur durch bewusste Distanzierung erhalten werden. Dies aber desto ausschließlicher, je größer die Intimität, welche die Grundlage der Spannung darstellt. Goethe sagte einmal ungefähr: Menschen, die sich sehr nahestehen, müssen Geheimnisse voreinander haben, weil sie sich doch kein Geheimnis sind. Er meinte damit eben dies, was das Vorausgehende bestimmter formuliert. Mann und Frau dürfen nie restlos ineinander aufzugehen trachten; sie sollen, im Gegenteil, je näher sie sich stehen, ihr Einsames desto diskreter für sich pflegen, und es muss ungeschriebenes Gesetz sein, dass hier keiner auf das Gebiet des anderen übergreift. Bei höchstdifferenzierten Menschen beruht schlechthin alles erreichbare Eheglück eben auf dieser weisen Pflege der Distanz, wozu nicht an letzter Stelle die Kunst gehört, sich zur rechten Stunde für eine Zeit zu trennen. Aber grundsätzlich ist es nirgends anders. Soweit dies mit der Erhaltung der erotischen Spannung zusammenhängt, liegen die Dinge klar: wo keinerlei Schranken vorliegen, erlischt der Reiz gar bald, so wie eine entspannte Saite keinen Ton von sich gibt; insofern bedeutet die jüngste Nacktkultur das genaue Gegenteil von Demoralisierung, nämlich die Rückgängigmachung des Sündenfalls, und ist ihr ideales Endziel das Ende der Liebe als Problem. Aber gleiches gilt vom geistigen und seelischen Interesse, und deshalb bedarf es, noch einmal, desto mehr selbst-gesetzter Distanzierung, je mehr Intimität ein Verhältnis an sich bedingt. Zu dem Ende sagten sich Mann und Frau in Frankreichs gebildetster Zeit nicht Du, sondern Sie; der Instinkt für eben diese Notwendigkeit hat von jeher zur Trennung von Männer- und Frauengemach geführt, und das Sonderleben beider für die andere Partei als sakral oder tabu hinstellen lassen, sowie die Stellung des absoluten Herrn für den Vater oder der Göttin für die Mutter postuliert — denn von Hause aus durchbrechen Mann wie Weib nur zu leicht die Distanz, die allein das Eheverhältnis lebendig erhalten kann. Wenn dies nun wesentlich so ist und folglich immer so war, dann muss es immer mehr so werden, je mehr der Mensch sich geistig und seelisch entwickelt. Die Ehe der Zukunft wird deshalb distanzierteren Charakter tragen als alle früheren.

Der zweite Grundsatz der Kunst der Ehe fordert, dass das polare Spannungsverhältnis auf der richtigen Erkenntnis des Sondercharakters der beiden Pole aufgebaut werde unter Voraussetzung ihrer vollkommenen Gleichberechtigung. Was die letzte Forderung betrifft, die ja in der Bestimmung der Ehe als eines einheitlichen Kraftfelds schon enthalten ist, so setzt sie durchaus keine Gleichheit. Aristoteles sagte mit Recht, Gleichheit sei die richtige Beziehung unter Gleichen, Ungleichheit indessen unter Ungleichen. Bei der großen ursprünglichen Verschiedenheit von Mann und Frau an sich, der gewöhnlichen Ungleichheit der Gatten in der Entwicklung und den besonderen Unterschieden, welche äußere Umstände und Anlage im übrigen bedingen, kann die Forderung der Gleichberechtigung nur den einen Sinn haben, dass jeder Teil die ihm entsprechende Rolle spielen und der vorgeschrittenere den anderen heranziehen soll. Hier lässt sich allgemein nur wenig sagen, da es jedesmal auf die Lösung einer bestimmt-konkreten Aufgabe ankommt. Und allgemein raten lässt sich allenfalls genaue Aufklärung jedes Jünglings und Mädchens über die ganz anders geartete Psychologie des entgegengesetzten Geschlechts1. Nur soviel sei hier verlautbart.

Das Weib ist von Natur der verantwortliche, auf das Gemeinwohl bedachte und arbeitsfreudige Menschentypus. Diese Wahrheit, die alle wilden Völker anerkennen, hat das kultivierte Europa auf groteske Weise verkannt, und erst dank der Frauenbewegung verspricht der Unsinn aufzuhören. In einer sinngemäßen Ehe muss deshalb die Frau nicht möglichst wenig, sondern möglichst viel Verantwortung tragen; dies ist der eine Weg, sie wahrhaft glücklich zu machen. Da andererseits aller Manneswert darauf beruht, was er als Einziger, mithin außerhalb der Ehebeziehung leistet, so wird die Verschiebung in der Richtung des primitiven Zustands allen Teilen zur Höherentwicklung verhelfen. Zweitens sollte es als selbstverständliche Pflicht des Mannes gelten, die Frau geistig zu befruchten und heranzuziehen, oder wo dies unmöglich ist, ihre geistige Entwicklung doch nach Kräften zu fördern, anstatt ihr dabei zu wehren. Es ist behauptet worden, geistige Kraft wirke auf Frauen als sexuelles Stimulans: der wahre Sachverhalt ist der, dass die Frau aus ihrer größeren Naturgebundenheit heraus sich desto mehr nach Geistigem sehnt; deshalb vor allem war jedesmal sie die erste Fördererin jeder religiösen Bewegung. Der Mann kann also gar nichts sinnwidrigeres tun, als die Frau im Zustand der Kuh zurückzuhalten. In dieser Hinsicht sind beinahe alle sogenannten guten Ehen reformbedürftig; denn jede Ehe, die auch nur einen Gatten herabzieht oder unten erhält, ist schlecht. — Drittens sollte es als vornehmste Pflicht jedes Ehemannes gelten, wo überhaupt Liebe zwischen den Gatten besteht, die Frau erotisch zu wecken und zu erziehen. Von selbst erwacht weibliche Sinnenfreude nur ausnahmsweise. Aber die Vollendung der ehelichen Beziehung verlangt, dass sie gerade in dieser Hinsicht vollkommen sei. Ihre Naturgrundlage ist nun einmal Triebbefriedigung; bleibt diese aus, so führt dies trotz aller idealen Theorien zu verhäßlichenden Verdrängungen und entsprechenden Gegenreaktionen. Hier hat der Mann alle Initiative zu beweisen. Hier hat er sich recht eigentlich vorzubilden. Es ist kaum zu sagen, wie viele Ehen nicht geraten oder zerfallen, weil dem Mann jede Ahnung von der Kunst der Liebe fehlt. Wenn der Mann ein Recht auf physisches Liebesglück zu haben meint, dann hat es auch die Frau. Denn auf der modernen Bewusstseinsstufe hat der Begriff des Weibes als Besitz des Mannes seinen psychologischen Halt verloren. Heute bedeutet es ein unmittelbares Verbrechen gegenüber der Frau, in ihr nur ein Objekt zu sehen und ein nicht in jeder Hinsicht gleichberechtigtes Subjekt. — Aber nicht minder unbedingt ist die Pflicht der Frau, in der Ehe dort die Wege zu weisen, wo sie überlegen erscheint. Sie darf nie aus Bequemlichkeit oder Trägheit dort Anpassung beweisen, wo die Ehe als Spannungsverhältnis zwischen gleichwertigen Polen von ihr verlangt, dass sie erzieherisch wirke. Dies gilt zumal auf dem Gebiet der Gefühlsbildung. Dass der Mann dort den Ton angäbe, wo er der Minderentwickelte ist, bedeutet Unsinn; und außerordentlich viele Gebrechen aller bisherigen Kultur rühren eben daher. Doch genug des einzelnen.

Gehen wir von hier aus vielmehr unmittelbar zum dritten Grundsatz der Kunst der Ehe über, welcher im zweiten implicite bereits enthalten war: dass die Ehe nie als statisches, sondern einzig als dynamisches Verhältnis aufgefasst werden darf; als Weg zum Aufstieg und zur Vollendung. Dies galt von jeher in bezug auf die Nachkommenschaft. Je mehr die Menschheit sich vergeistigt, desto mehr muss gleiches in bezug auf die Gatten selber gelten. Menschen sind wesentlich wachsende Wesen. Deswegen können zwei aneinander gekettete aneinander nur entweder wachsen oder verkümmern; ein Drittes gibt es nicht. Das Eheverhältnis als solches aber verlangt Einheit, die in diesem Falle nur auf der Basis von Ebenbürtigkeit und Niveaugleichheit möglich ist. Deshalb muss der höherstehende Teil den anderen andauernd heranziehen, wenn das Verhältnis den Sinn einer Ehe nicht verlieren soll — womit freilich nicht die übliche Schulmeisterei und Szenenmacherei gemeint ist, sondern die Erziehung zur Selbständigkeit des anderen Teils auf höherem Niveau, was nur der Ehrfurcht und supremem Takt gelingen kann. An diesem Punkt wird wohl die Würde der Ehe im Unterschied zu allen sonst möglichen Beziehungen vollends deutlich. Die Ehe verlangt, ganz im Gegensatz zur Auffassung aller derer, die einen Hafen in ihr sehen und den legitimen Rahmen des Sich-gehen-Lassens, andauernde Höherbildung beider Teile, um zu bestehen, sofern nur einer von ihnen von Hause aus wächst. So ist die eheliche Polarisierung ihrem Wesen nach geistig und seelisch schöpferisch. Und dies kommt wiederum der Nachkommenschaft zugute, denn, wie ich im Kapitel Der ökumenische Zustand von Wiedergeburt wahrscheinlich gemacht habe, vererbt sich der innere Zustand der Eltern nicht nur durch psychischen Einfluss in der Erziehung, sondern auch in Form von Milieueinwirkung auf den Keim und das ungeborene Kind. Der dritte Grundsatz der Ehe gibt also dem zweiten, welcher den Aufbau des polaren Spannungsverhältnisses auf der richtigen Erkenntnis des Sondercharakters beider Pole und der Voraussetzung ihrer vollkommenen Gleichberechtigung fordert, erst seinen letzten Sinn. Statisch ist nur der Spannungszustand der Geschlechter zu begreifen, der sich aus den zeitlos gültigen Naturunterschieden ergibt. Alles, was darüber hinaus geht, ist wesentlich Bewegung und Bewegtheit. Alles, was darüber hinausgeht, liegt schon in der Dimension der Sinnesverwirklichung — deren normaler Weg führt aber nicht abwärts, sondern aufwärts. Er verläuft im Gegensatz zum Gesetz der Trägheit. Hieraus erweist sich nun endgültig, wie vollkommen der den Sinn der Ehe missversteht, der sie als Reich sanktionierter Trägheit auffasst. Dieses Missverständnis ist wohl die Hauptursache des meisten Eheunglücks. Was immer sein Oberflächenbewusstsein meine: nur Zurückbleiben verzeiht der Mensch sich selber nicht; nur Zurückhalten seines Höherstrebens keinem anderen. Während jeder auch das schwerste Leid im Innersten bejaht, sofern er nur fühlt, dass es der Aufwärtslinie angehört. Aus allen diesen Gründen gibt es keine bessere Gewähr gerade von Eheglück, als die vollkommene Befolgung des dritten Grundsatzes der Kunst der Ehe.

Hiermit gelangen wir denn zum vierten Grundsatz dieser Kunst. Er verlangt, dass die eheliche Beziehung bis ins einzelne auf ihr allein aufgebaut werde. Erinnern wir uns: die eheliche Beziehung ist ein wesentlich Selbständiges, Selbstgegründetes, weder mit der Geschlechts- noch der Gattungsgemeinschaft zusammenfallend; die einzige auch sonst anwendbare Allgemeinbezeichnung, die ihrem Wesen gerecht wird, ist die der Schicksalsgemeinschaft. Wenn diese besondere Beziehung nun auf niederer Stufe nicht schwer zu realisieren ist, wo das Schicksal des Weibes mit dem der Gattung nahezu zusammenfällt und dem Mann seine individuelle Freizügigkeit nicht beanstandet wird, so gilt das Gegenteil von höheren Entwicklungsstufen: nichts erscheint schwerer, als vermittels der Differenziertheit des Wesens eine Synthese zu verwirklichen, die zwei integrierte Menschen zur notwendigen Voraussetzung hat. Andererseits ist aber eine Synthese jetzt überhaupt nur mehr auf das Integral hin zu schaffen. Beim Differenzierten sind Erotik und Fortpflanzungstrieb zu selbständigen Kräften geworden; seine Individualisiertheit erlaubt ihm kein Aufgeben des Persönlichen mehr und sein ethisches Feingefühl, wo vorhanden, keine Unterjochung des einen durch den anderen. Unter diesen Umständen ist eine dauernde eheliche Beziehung zwischen Mann und Frau überhaupt nur auf der höheren Ebene haltbar, die eben die Ehe bedeutet, und nur auf Grund deren selbständig-reiner Form. Gewiss besteht auch hier die theoretische Möglichkeit, im Gatten vollkommene Erfüllung zu finden; und da Höherentwicklung Individualisierung mit sich bringt, weshalb auch Sondertriebe immer schwerer generelle Befriedigung finden, so stellt sich das Problem der richtigen Gattenwahl auf je höherer Entwicklungsstufe, desto akuter und ernster. Aber andererseits hilft auf höherer Bewusstheitsstufe Vormachen nicht mehr; was nicht tatsächlich ideal ist, hält als Ideal nicht stand. Deshalb kann man grundsätzlich sagen, dass die Kunst der Ehe, wenn nicht Millionen um eines willen verurteilt werden sollen, so zu bestimmen ist, dass die Ehe, dank ihr, trotz nicht vollständiger Erfüllung der besonderen Sehnsucht des Menschen doch zur Erfüllung der spezifischen Form der Ehe führen kann, was für den einzelnen unter allen Umständen die betrachteten segensreichen Folgen nach sich zieht. Nur sei hier schnell einem verderblichen Missverständnis vorgebeugt.

Jedermanns Sache ist Ehe keinesfalls. Und sie verlangt immer mehr eigenste Berufung, je höher ein Wesen in der Entwicklung steht. Wer als Künstler ganz seinem Werk oder als Gottsucher ausschließlich der Entfaltung seines einsamen Selbstes lebt, der ist nur bei ausnahmsweise reich ausgeschlagener Natur überdies zur Ehe berufen. Und es ist weniger verwerflich, wenn jener seine Erotik in freien Verhältnissen auslebt und dieser sich den Bindungen der Gemeinschaft, als Mönch, vollständig entzieht, als wenn beide schlechte Ehen gründen. Überhaupt folgt aus der Einzigartigkeit der ehelichen Beziehung, dass sie nicht immer mehr, je weiter die Entwicklung fortschreitet, sondern immer weniger als einzig mögliches Verhältnis der Geschlechter gelten wird2. Einerseits werden in Zukunft immer weniger Menschen, die eine legale Ehe eingehen könnten, andere Gemeinschaftsformen wählen — gerade das Legale, welches viele abstößt, bedeutet ja nur eine Koordinate mehr zur Bestimmung des kosmischen Mittelpunktes und impliziert insofern an sich schon Sinnerfüllung; was wesentlich ohnehin Ehe ist, braucht auch die traditionelle Bestimmung nicht zu scheuen; wozu die Erwägung tritt, dass die Ehe schon als Kunstform die strikte Befolgung von Formgesetzen verlangt. Aber andererseits werden immer mehr nur die Männer und Frauen, zwischen denen Liebe entbrennt, infolgedessen heiraten, deren Beziehung eben in der Ehe ihre Vollendung fände. Dass diese unter allen Umständen die bestmögliche Beziehung sei — dieses Vorurteil muss endlich auch öffentlich fallen gelassen werden. Wie vorhin gezeigt wurde, dass trotz der wesentlichen Unauflöslichkeit der Ehebeziehung die Scheidung besser ist als ein Band, das die Aneinandergebundenen erstickt, so sind die Nachteile illegaler Verhältnisse gegenüber schlechten Ehen die geringeren, wenn nur das Verantwortungsgefühl der Beteiligten groß genug ist, um jene allein auf sich zu nehmen. An dieser Stelle erscheint die Forderung der birth control gebieterisch. Beim wesentlich tragischen Charakter des Lebens ist ja eine Lösung, die keinerlei Nachteile nach sich zöge, leider ausgeschlossen. Da das illegitime Kind unmöglich je auf die gleiche Basis mit legitimen gestellt werden und andererseits die Geburt jener nie ganz auszuschalten sein wird, so wird der Ausweg der Zukunft wohl darin bestehen, das Kind mehr und mehr als rein aus eigenem Rechte lebend zu bestimmen (wie es ja tatsächlich aus eigenem Rechte lebt, denn in bezug auf seine Entstehung sind Vater und Mutter nicht mehr als bloße Vermittler). Dies um so mehr, als die Lebensart der industrialisierten Menschheit, welche in vielfacher Hinsicht eine nomadische ist, dazu ohne die inneren Bindungen traditionellen Glaubens, zunächst zu einem allgemeinen Prestigeverlust des Ehestands und einer Ebbe der Eheschließungen führen muss. Sofern die Ehe die Normalform eines vergangenen Zustandes ist, wird sie nur insoweit beibehalten bleiben, als sie jeweilig inneren Bedürfnissen entspricht. Um so mehr gilt es zu erkennen, was die Ehe eigentlich ist, und wofern geehelicht werden soll, diese spezielle Beziehung, dem vierten Grundsatz der Kunst der Ehe gemäß, rein auf sich selber aufzubauen. — Dazu nun bedarf es offenbar desto größerer künstlerischer Meisterschaft, je komplizierter die psychologischen Verhältnisse sind. Je reicher die Partner veranlagt, desto mehr Takt und Diskretion, desto mehr Kunst im selben Sinn, wie sie der Dichter übt, der nur bestimmte Worte in bestimmten Rhythmen wählt und andere auslässt, auf dass die Einheit des Gedichts zustande käme, ist zur Führung einer Ehe vonnöten. Je vielseitiger eine Natur, desto vielseitigere Betätigung verlangt sie. Diese darf ihr das Eheband nicht wehren. Aber andererseits darf dieses keinen Schaden leiden. Dieses Dilemma an sich schon verlangt zu seiner Lösung Weisheit und Kunst, denn hier gilt es tiefwurzelnde und primitivste, deshalb aber dämonisch starke Gefühle und Triebe zu verstehen und zu schonen. In erster Linie bedarf es da der Kunst des Schweigens und Nichtzeigens. Nur einige schlaglichtartige Beispiele: Wer dem anderen alles sagt oder alles zeigt, der ist nicht offen, sondern haltlos und folglich Barbar; wer, sofern er für andere Schmerzliches überhaupt tut, nicht einmal den Mut hat, seine Schuld allein zu tragen, verdient Verachtung. Altfranzösische Sitte gebot, dass der Mann das Zimmer zu verlassen hatte, wenn seine Frau den Besuch eines anderen empfing: dies war eine feine Form, die Ehe vor bestimmten Konflikten zu schützen. Jeder Mensch ist selbstverständlich eifersüchtig auf den, welchen er liebt; die Frau betrachtet es sogar als Minimum gebotener Höflichkeit, dass der sie Liebende seine Eifersucht zeige. Zu verlangen, dass ein Liebender keine Eifersucht empfinde, ist folglich reine Roheit ihr muss die Gelegenheit zum Erwachen genommen werden über einen bestimmten Grad hinaus, wie dies grundsätzlich eben jene französische Sitte leistete. Aus dem gleichen Gesichtswinkel allein ist auch das Treuegebot richtig zu beurteilen. Je reicher veranlagter ein Mensch, desto vielfältigerer Gefühle ist er fähig, zu desto mehr Menschen und Dingen kann und darf er in Beziehung treten. Aber Bedingung dazu ist, dass er durch das eine das andere nicht schädige. Wie viele Frauen glauben statt dessen aller Verschuldung bar zu sein, wenn sie nur nachweisen können, dass sie dem Gatten im üblichen Sinn die Treue gehalten haben! Hier gilt es klar und rücksichtslos denken: die geschlechtliche Treue bedeutet in bezug auf den wahren Sinn der Ehe viel weniger als die Treue hinsichtlich der Schicksalsgemeinschaft. Wer den Zusammenklang der Seelen nur gefährdet, hat bereits eine schwere Sünde auf sich geladen. Wer eine Schicksalsgemeinschaft um einer Liebschaft willen zerstört — ob er als Mann die Frau verlässt oder als Frau um einer Entgleisung willen Scheidung verlangt — der bricht die Ehe in viel schlimmerem Sinn, als Messalina es tat, die echte Kaiserin und Kaisersgefährtin bleibend, ihre Nächte in Freudenhäusern zu brachte. Es gilt eben die besondere Form der Ehe als solcher, nicht irgendeine ihrer Komponenten. Und diese Form muss auch dem Bewusstsein, je mehr es erwacht, als immer selbständiger aus eigenem Rechte lebend erscheinen. So erhebt sich die Ehe, von einer halben Naturform, die sie ursprünglich war, immer mehr auf die Ebene eines reinen Kunstwerks. Immer größere Anforderungen stellt sie an die, so sich an sie heranwagen.

Und nunmehr sind wir soweit, die Lehre Kierkegaards zu würdigen (ich nenne ihn, weil er der extremste Vertreter der betreffenden Gesinnung ist), nach welcher die Ehe rein der ethischen Sphäre angehört, und zu gleich über sie hinauszugehen. In der Tat bedeuten die Formgesetze der Ehe vom Standpunkt des Einzelnen und Einzigen erstinstanzlich Gebote der Ethik. Nur aus einem überempirischen Soll heraus, aus keiner Naturnotwendigkeit und keiner Neigung, sind vom Standpunkt des Einzelnen die Ehe-Verpflichtungen zu begründen. Dem Erotiker gibt es kein Jenseits der Anziehung; dem Ästhetiker ist die bloße Wiederholung ein Greuel. Beide sind als solche unfähig, die Würde des Alltäglichen zu verstehen. Das Wort Treue entbehrt in ihrer Sphäre des Sinns. Als ethisches Wesen setzt nun der Mensch Normen in die Welt, die nur von seinem Geistwesen aus gelten, diesem aber so unbedingt entsprechen, wie die Naturgesetze der Natur, welchen Normen er gegenüber den natürlichen das Primat zuerkennt. Und dieses muss er tun, sofern er sich selbst verwirklichen will. Doch handelt es sich beim Ethischen hier, wie überall, nicht um die Maximal-, sondern die Minimalnorm des autonomen Geistes. Auch hier ist Pflicht nur herausgestellte und insofern tote Regel, der sich der Mensch unterwerfen muss, bis dass er innerlich so weit ist, pflichtlos, aus innerem Müssen heraus das Geistig-Richtige zu tun3. Pflicht ist das schlechthin Vorläufige, der Pflichtmensch die dürrste aller Kreaturen. Was sich als Pflicht herausstellen lässt, bedeutet recht eigentlich das Skelett erfüllten Geisteslebens. Erst wo der Mensch seine integrierte Ganzheit in der Ehe ausleben, erst wo er in ihr die Erfüllung (Biologie), das Gebot (Ethik), das Kunstwerk (Ästhetik) und Sakrament (Religion) auf einmal für sich erleben kann, erst dort beginnt er, der Ehe vollen Sinn zu erfüllen. — Blicken wir nunmehr von der erstiegenen Höhe aus auf die Schwierigkeiten und Leiden des Ehestandes zurück. Die Ehe verlangt täglich und stündlich, neben aller Erfüllung, die sie bietet, Selbstaufgabe, Verzicht und die Aufsichnahme von Verantwortung und Schuld. Dies verlangt sie auf jedem Niveau; aber die Schwierigkeiten steigen dessen Erhöhung proportional. Warum will schon der noch unentwickelte Mensch diese so schwere Kunst? Ist das Risiko nicht zu groß, lohnt es den Einsatz?

Aber das Wagnis, das in der Ehe liegt, ist es ja gerade, weshalb jeder, für den sie überhaupt eine persönliche Frage bedeuten kann, nach ihrer Erfüllung strebt. In ihr will der Mensch die letzte Verantwortung. In ihr nimmt er das kosmische Schicksal, so weit es ihn als das Geschöpf Mensch treffen kann, persönlich auf sich. Und wird es bei wachsender Bewusstheit immer schwerer, die Verantwortung zu tragen, so ist dies nur ein Ausdruck wachsender Menschenwürde. Ein Ausdruck dieser ist schon, dass auf hoher Stufe Ehe überhaupt Disziplin und Kunst erfordert. Der Pflanze und dem Tier, der Sentimentalität, der Denkfeindschaft, der Trägheit und Feigheit im Menschen ist dies freilich ein Ärgernis. Ihr ist Ärgernis, dass Ehe nicht an sich schon Ideal und alle Lebensproblematik damit erledigt sein soll, dass zwei Liebende oder höchstenfalls zwei Richtige sich kriegen. Ihr ist es Ärgernis endlich, dass mit der Behauptung des anerkannt Ethischen des Ehestands und des religiös Sakramentalen nicht auch die Gemeinheit legalisiert sein soll, die sich in ihm breiter macht als irgendwo sonst. Aber es nützt nichts. Der wahre Sinn der Ehe lässt sich nicht spotten. Er wird sich immer mehr durchsetzen, wenn nicht in Form des unmittelbaren Aufbaus des Sinngemäßen, dann in desto sicherer Zerstörung des Sinnwidrigen. Die Ehe ist eben, empirisch betrachtet, wesentlich ein tragischer Spannungszustand. Weil sie dieses ist, kann sie den Sinn des ganzen Lebens wie keine andere Lebensform auf Erden verwirklichen, denn das ganze Leben ist nichts als tragische Spannung, und die Ehe schließt alle seine nur möglichen Sonderspannungen, von den natürlichen zu den geistigsten, als notwendige Komponenten ein. Allein die Tragik des Lebens ist nicht seine letzte Instanz — deshalb ist es trotz allem schön, deshalb wiegt das Glück der Ehe, wo erfüllt, alle nur möglichen Leiden auf. Auf der Stufe des geistbewussten selbstbestimmten Menschen, die gegenüber der des Instinkthaften zuerst als die größeren Leidens in die Erscheinung trat, wird nun die Tragik zuletzt der Überwindung dadurch fähig, dass sie dem Menschen das gleiche und nicht mehr bedeutet wie dem Musiker sein gespanntes Instrument. Nur auf gespannter Saite kann man spielen. Die Erfüllung des Lebens, welches das eigentliche Leben des frei schöpferischen Menschen ist, verhält sich zu den Problemen, welche als Einwände gegen die Weltordnung gelten, nicht anders, wie zur Geige die Melodie.

1 Die bisher besten Schriften über dieses Problem sind die der Mitarbeiterinnen dieses Buches Mathilde von Kemnitz und Beatrice M. Hinkle. Vgl. das Nachwort.
2 Vgl. hierzu auch das im Abschnitt Kyoto meines Reisetagebuches Ausgeführte.
3 Vgl. hierzu den letzten Abschnitt des Amerika-Kapitels meines Reisetagebuchs.
Hermann Keyserling
Das Ehe-Buch · 1925
Eine neue Sinngebung im Zusammenklang der Stimmen führender Zeitgenossen
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