Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Ehe-Buch
Einführung
Praktische Hilfe
Auf meine Aufforderung, am Buch der Ehe mitzuarbeiten, erwiderte mir Bernard Shaw:
Kein Mann darf es wagen, über die Ehe die Wahrheit zu schreiben, solange seine Frau lebt, es sei denn, er hasse sie, wie Strindberg; und dies ist nicht mein Fall. Ich werde den Band mit Interesse lesen, wohl wissend, dass er hauptsächlich Ausweichungen enthalten wird. Aber mitarbeiten werde ich an ihm nicht.1
Dies war eine von Shaws berühmten boutades; niemand hat offener als er, und dabei doch nicht verletzend, über die Ehe zu schreiben gewusst. Aber ich stelle dem vorliegenden Buch das Witzwort des irischen Weisen gern voran, weil es in Form des Scherzes vor zwei sehr ernsten Gefahren jeder Behandlung des Eheproblems auf einmal warnt: den Gefahren des Verschweigens aus Feigheit und der Indiskretion. In der Tat darf niemand die intimste aller Fragen als Helfen-Wollender behandeln, dessen Furchtlosigkeit ihm nicht die Vollmacht gibt, alles sagen zu können, ohne zu verwunden; und dem es innerer Adel zugleich nicht so unmöglich macht, Privates auszuplaudern, dass kein Unbefangener auf den bloßen Gedanken kommen kann, seine Aussagen als Enthüllungen auszudeuten. Das Buch der Ehe soll nun an erster und letzter Stelle helfen. Deshalb sind Mut und Reinheit die beiden Urquelle seines Geists.
Das Buch der Ehe will helfen. Allen denen, die in den Ehestand treten wollen. Allen denen, welche persönlich an dessen Problematik leiden. Allen denen, die objektiv erkannt haben, welch furchtbar ernste Krisis die Ehe heute durchlebt, und dass die ganze bessere Zukunft der Menschheit an deren glücklicher Überwindung hängt. Denn darüber besteht kein Zweifel: da kein Problem jeden Menschen ohne Ausnahme näher angeht als die Beziehung, die über den körperlichen und seelischen Charakter jedes ursprünglich entschied und dank der Stetigkeit und Intimität ihres Einflusses bei jedem Verehelichen weiter mitentscheidet, so bedeutet Verwahrlosung der Ehe Verwahrlosung überhaupt und Besserung und Vervollkommnung des Ehezustandes Fortschritt überhaupt. So wendet sich denn das Ehe-Buch buchstäblich an Alle.
Wie kann nun aber ein Buch der reinen Erkenntnis zur Lösung des doch rein praktischen Ehe-Problemes helfen? Denn das vorliegende Buch ist eins der reinen Erkenntnis; nichts Predigthaftes, nichts im üblichen Sinne Lehrhaftes überhaupt, nichts was nach Willensbeeinflussung schmeckt, wird der Leser in ihm finden. Nun — einzig das, was dem Menschen nicht unmittelbar hilft, insofern es ihm nichts abnimmt, nur das, was ihn seinen Weg selbständig finden lehrt, vermag ihn wirklich zu fördern. Dies aber gelingt dann auf dem folgenden Weg. Jede eingesehene Wahrheit wirkt schöpferisch, sobald der, welcher sie einsah, den guten Willen hat, sich von ihr verwandeln zu lassen. Es ist das Wunder der Wunder des Seelenlebens, dass klare Vorstellung auf die Dauer, durch Vermittlung unbewusster Prozesse, die ihr entsprechende Wirklichkeit schafft. So ist reine Erkenntnis das eine, was überhaupt not tut, überall, wo eine unzulängliche Wirklichkeit auf Nicht-Verstehen beruht. Und bei der Ehe ist eben dies der Fall. Der Urgrund ihrer heutigen Krisis ist kein anderer als Verkennen ihres Sinns. Weil kaum einer mehr weiß, was Ehe bedeutet, freit beinahe jeder falsch, versteht kaum einer oder eine unter Tausenden mehr, eine Ehe zu führen. So kann Sinn-Verstehen, wenn irgendwo, im Fall des Eheproblems zur praktischen Heilung führen. Auf dass Erkenntnis die Tatsachen ändere, ist grundsätzlich nur zweierlei vonnöten: dass sie einerseits so gefasst, und andererseits so aufgenommen werde, dass sie wirken kann.
Das erste Moment hängt von der Schärfe der Formulierung, der Evidenz der Bilder und logischen Gedankenketten sowie der Kunst der psychologischen Behandlung ab. Im Falle eines Buches ist dies Sache der Kunst des Autors. Hier nun haben vierundzwanzig Autoren zusammengewirkt. Aber sie wirken in keinem anderen Sinn zusammen, als wie die verschiedenen Musikanten eines vollkommen eingespielten Orchesters, oder genauer noch, wie die einzelnen Töne einer einheitlichen Komposition. Das Buch der Ehe ist ein organisches Ganzes. Sein erster Teil zeichnet die großen Umrisse ihres Problemes hin. Jeder einzelne Abschnitt der beiden folgenden macht einen bestimmten Sonderaspekt desselben vollkommen deutlich. Und da es nur eine begrenzte Anzahl wesentlicher Aspekte gibt, und diese bei richtigem Denken und klarer Schau nur auf eine Weise erscheinen können, so schafft gerade die Vielheit der Autoren die erforderliche Sinnes-Einheit. Denn es ward zur Behandlung jedes Aspekts just der berufen, der ihn seiner Anlage nach am besten zu sehen und in Worten wiederzugeben fähig war. Von einem einzigen geschrieben, hätte das Buch der Ehe insofern, so paradox dies klinge, niemals gleich einheitlich werden können, denn es gibt keinen Menschen, der zu allem gleich gut beanlagt wäre. Ich habe keinem derer, welche ich einlud, die geringste Vorschrift gemacht: ich habe bloß die erforderlichen Fragestellungen von mir aus festgesetzt und dann die Menschen gesucht, denen diese persönlich am besten liegen würden. Nachdem ich sie gefunden, brauchte mir um etwaige Widersprüche nicht bang zu sein: es war unmöglich, dass die Autoren sich untereinander nicht ergänzten, gleichwie die Töne einer Symphonie. Gewiss denken sie verschieden über verschiedene Fragen und kommen die Unterschiede auch hie und da als Gegensätze zum Ausdruck. Allein im Zusammenklang bedeuten diese nur Kontrapunkte. Der Buddhist Paul Dahlke z. B. schreibt als radikaler Ehefeind. Die Wirkung dessen im Zusammenhang ist die, dass Sinn, jeweilige Berechtigung und Nützlichkeitsgrenze der Askese auf einmal deutlich werden.
Das Buch der Ehe stellt also das Eheproblem in vollendeter Vollständigkeit seiner wesentlichen Aspekte hin. Es behandelt, wohlgemerkt, allein die Ehe und nicht auch die Beziehungen, welche sonst zwischen den Geschlechtern möglich sind. Ansatzpunkt ist jedesmal die Ehe allein, nicht die Liebe, die Frage der Nachkommenschaft, des Gemeinwohls, der Moral oder was sonst. Jede Fragestellung und jede Antwort arbeitet das Buch mit möglichster Schärfe, Klarheit und Prägnanz heraus. Soviel zur Frage seiner Logik. Damit diese nun schöpferisch wirke, war überdies erforderlich, dass Fragen und Antworten genau die Reihe einhielten, welche die Psychologie des Interesses, der Aufmerksamkeit und der übrigen Vorbedingungen des Verstehens heischt. So ist das Ehe-Buch auch insofern ein Lebendiges, als es nur in der gegebenen Reihenfolge gelesen seinen vollen Sinn enthüllt. Hier gilt genau das gleiche wie bei der Folge der Sätze einer Symphonie. Es ist durchaus einheitlich konzipiert und instrumentiert, enthält nichts vom Standpunkt der Einheit nicht Vorausbedachtes. Da es nun aber zu allen prinzipiellen Fragen, die sich in bezug auf die Ehe oder von der Ehe her stellen, die prinzipielle Antwort gibt, so enthält es auch den Schlüssel zur Lösung jedes besonderen Eheproblems.
Hiermit wären wir denn zur eigentlichen Absicht des Buchs zurückgelangt, die eine praktisch helferische ist, und zum Problem der Möglichkeit solch praktischer Hilfe überhaupt. Wir sagten, dass Erkenntnis die Tatsachen dann zu ändern vermag, wenn jene einerseits so gefasst wäre, und andererseits so aufgenommen würde, dass sie wirken kann. Dass die erste Vorbedingung erfüllt ist, wird der Leser bald entdecken. Er wird es, von der Schärfe der Formulierungen und der Evidenz der Bilder und logischen Gedankenketten abgesehen, allein aus der Wirkung merken, den die Prägnanz und Kürze der Beiträge auf ihn ausübt: unwillkürlich wird er von sich aus weiterdenken, denn das viele von den Autoren persönlich Gewusste und Gemeinte, doch nicht ganz Ausgesprochene wird nun in ihm nach dem ihm angemessenen Ausdruck drängen. Doch nun zu dem, was der Leser dazutun soll, auf dass die Erkenntnis der anderen in ihm fruchtbar werde. Es ist ein höchst Einfaches: er gebe sich einfach, solang er liest, mit seinem ganzen Geist und seiner ganzen Seele dem Gelesenen hin; er verzichte derweil auf alles Nachdenken und alle Kritik. Er lese das Ganze auf diese Weise zunächst einmal vom Anfang bis zum Ende durch. Alsdann lese er den ersten Teil, welcher die großen Umrisse des Gesamtproblems enthält, zum zweitenmal. Und dann lasse er das Aufgenommene in sich nachwirken. Gar bald wird er entdecken, dass gerade das ihn lebendig beeindruckt hat, was ihn persönlich angeht. Er wird weiter entdecken, dass er in das Allgemeine von vornherein die Sondergestalt seines persönlichen Problems hineinsah. Er wird aber andererseits finden, dass ihm zugleich der allgemeine Sinn seiner besonderen Situation bewusst geworden ist, und zwar im Zusammenhang des Sinns der Ehe überhaupt. Meditiert er nun diese Erkenntnis, so kann’s nicht fehlen, sofern er guten Willens ist, dass das Wort in ihm auf die Dauer zu Fleisch wird. So kann Erkenntnis auch auf diesem Gebiete zur Erlösung führen.
Darmstadt, Paradeplatz 2, im Juli 1925.
1 | Der Brief lautet im Original:
No man dare write the truth about marriage while his wife lives. Unless, that is, he hates her, like Strindberg; and I don’t. I shall read the volume with interest, knowing that it will consist chiefly of evasions; but I will not contribute to it. |
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