Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Ehe-Buch

Das richtig gestellte Eheproblem

Einsamkeit des Ich

Was ist Ehe? Sie ist in erster Linie nicht die Selbstverständlichkeit, als welche sie die allermeisten auffassen, denen persönliches Missgeschick keine Abwehrstellung eingab; nicht die Lösung aller Liebesproblematik, nicht die naturgewollte Erfüllung aller Sehnsucht, und zwar zunächst aus dem einen Grunde nicht, dass der Mensch ein Vielfältiges und zu wenig Integriertes ist, als dass auch nur alle seine Triebe ohne Vergewaltigung auf einen Generalnenner zu bringen wären. Als erotisches Wesen ist jeder von Hause aus polygam, und zwar die Frau noch ausgesprochener als der Mann, weil ihre Erotik nuancierter ist; um dieses einzusehen, genügt die eine Erwägung, dass das Naturziel alles Liebeswerbens der differenzierten Frau nur ausnahmsweise erotisches Ziel ist, als welches sich vielmehr im Werbespiele schon erfüllt. Als Gattungswesen denken Mann wie Weib an erster und letzter Stelle an die Nachkommenschaft, und weder der Vater noch erst recht die Mutter an sich erblickt im Partner anderes als ein Mittel zum Zweck; dies beweist die typische Missachtung der Frau seitens aller primitiven Männer und die ebenso typische Erfahrung, dass die Frau als Muttertier — und wie viele sind nichts als das! — im Mann einerseits nur ein notwendiges Übel, andererseits den unpersönlichen Behüter und Versorger sieht. Diese zwei kurzen Erwägungen erklären bereits, warum die Ehe die Forderungen des Einzigkeitsbewusstseins so selten erfüllt, auf Grund derer unter Kulturvölkern die meisten Paare sich zusammenfinden. Wenn die meisten bei der Eheschließung meinen, nur dieser oder diese kommt für mich in Frage, so erweist es sich später nur zu oft, dass der oder die einzig Mögliche nur deshalb so erschien, weil sich das Gattungsproblem jedem Einzelnen — wie es ja nicht anders sein kann — in persönlicher Zuspitzung stellt; oder aber, dass das Füreinander-Geschaffensein nicht für die Dauer galt. Leider ist es nicht anders: keine Art Ehe geht regelmäßiger in die Brüche, als die aus ausschließlicher persönlicher Anziehung geschlossene, während letztere, umgekehrt, am ehesten dort lebendig bleibt, wo aus der Liebe keine Ehe ward. Im gleichen Sinn hat sich die Gattin nur in seltenen Ausnahmefällen je als Sibylle und Muse bewährt, und der Gatte als dauernder Anreger zur weiblichen Selbstentwicklung. Und hiermit hätten wir den dritten und wichtigsten Punkt berührt, weshalb Ehe nicht selbstverständliche Erfüllung aller Sehnsucht ist: das Einzige im Menschen ist zugleich sein Einsames; dieses ist jeder Gemeinschaft unfähig, die seine Einsamkeit aufhöbe. Wohl wohnt jenseits der letzten Einsamkeit die Möglichkeit zu vollkommenem Einheitsbewusstsein; es ist das Bewusstsein der metaphysischen Einheit, welches wahrspricht, gleichviel, ob man es nun in Funktion einer Alleinslehre oder der geforderten Solidarität der für sich geschieden Bleibenden deutet. Allein die metaphysische Einheit ist nicht die, welche der Einzelne, der sich aus seiner Isolation heraussehnt, meint. Der empirisch gegebene Einzelne als solcher ist und bleibt sich selber letzte Instanz, weshalb ein Durchbrechen seiner Einsamkeit und eine andere Gemeinschaft mit anderen, als die der Polarisierung, ausgeschlossen ist.1 Nun, aus diesen drei Erwägungen wird bereits verständlich, warum es unter entwickelten Menschen so wenig glückliche Ehen gibt. Wird eine Ehe, wie dies ja meist geschieht, nur unter erotischen oder generativen Gesichtspunkten eingegangen oder aus der Sehnsucht der inneren Einsamkeit heraus, dann kann sie nur dort zu keiner Enttäuschung führen, wo das Einzigkeitsbewusstsein gering ist, die Erotik undifferenziert und das persönliche Bewusstsein nur Gattungsforderungen spiegelt.

Dennoch hat das häufige Eheunglück aller Zeiten dem Ideal der Ehe im Geist noch keiner Generation das mindeste geschadet; jede neue hat aus der schlechten Erfahrung früherer nur den Schluss gezogen, dass sie’s persönlich besser machen soll. Folglich kann sich der eigentliche Sinn der Ehe in dem, was sie nicht oder nur unvollkommen leistet, nicht erschöpfen. Denn was der Mensch immer wieder als Aufgabe empfindet, entspricht ebenso gewiss einer Notwendigkeit seines geistig-seelischen Wesens, wie bloße Gegebenheit Naturnotwendigkeit beweist. Das Problem der Ehe verlangt in der Tat andere Stellung, als allgemein üblich ist. Liebe an sich gibt einer Ehe noch keinen Sinn; Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb tun es auch nicht, denn Ehe ist ihrem Begriff nach doch, trotz aller allgemein üblichen Definitionen, wie allein die Erwartung jedes einzelnen beweist, nicht allein eine Gattungs-, sondern vor allein eine persönliche Angelegenheit; andererseits verträgt das tiefste Ich, als ein wesentlich Einsames, keine Gemeinschaft. Ferner kann Ehe anders wie als dauernde Lebensgemeinschaft von Mann und Weib einerseits als Geschlechtswesen, andererseits als Persönlichkeiten, schon dem soziologischen Tatbestande nach, vom Sinn zu schweigen, nicht begriffen werden, wie sie denn anders auch dort nie begriffen worden ist, wo Polygamie, ob im Sinn der Vielweiberei oder der erlaubten Scheidung und Wiederverheiratung, diesen Begriff praktisch aufhob. Unter diesen Umständen muss die Gemeinschaftsform der Ehe einen besonderen und selbständigen Sinn haben. Liebe, Fortpflanzungs- und Selbsterhaltungstrieb können nur Komponenten ihrer bedeuten. Die Einsamkeit des Ich muss innerhalb ihrer grundsätzlich gewährleistet bleiben. Eine solche Art von höherer Einheit ist nun als Form wirklich vorstellbar: sie entspricht genau dem Bild eines elliptischen Kraftfeldes. Ein solches hat zwei selbständige Brennpunkte, welche nie ineinander aufgehen, nie verschmelzen können, deren polares Spannungsverhältnis unaufhebbar ist, wenn das Kraftfeld als solches bestehen soll. Das Spannungsverhältnis der beiden Pole ist andererseits zugleich eine selbständige Einheit, durch das jene notwendig in sich beschließende Kraftfeld gesetzt, welche Einheit weder aus den Sondereigenschaften der einzelnen oder beider Pole allein, noch auch aus sonst etwa möglichen Beziehungen zwischen beiden abzuleiten ist. Nun, genau solch eine selbständige Einheit oberhalb der einzelnen Partner sowohl als erst recht ihrer Sondertriebe bedeutet die Ehe. Sie ist, formell betrachtet, eine selbständige Kategorie der Wirklichkeit, weiche im Kantischen Sinne (d. h. unabhängig von aller empirischen Verursachung ihres jeweiligen Inhaltes) a priori gilt. Besteht ein Eheverhältnis einmal, gleichviel wie es entstand, dann entspricht es dem Bilde eines elliptischen Kraftfeldes.

1 Vgl. hierzu meinen Aufsatz Von der Grenze der Gemeinschaft im 3. Heft meines Weg zur Vollendung (Otto Reichl Verlag).
Hermann Keyserling
Das Ehe-Buch · 1925
Eine neue Sinngebung im Zusammenklang der Stimmen führender Zeitgenossen
© 1998- Schule des Rades
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