Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Ehe-Buch
Das richtig gestellte Eheproblem
Bipolares Spannungsverhältnis
Jetzt sind wir soweit, an das praktische Problem, welches die Ehe in jedem Einzelfalle stellt, heranzutreten. Bei dieser handelt es sich, wir sahen es, um keinen ein für alle Male feststehenden Zustand, welchem der einzelne sich einfach einzupassen hätte, sondern um eine immer wieder neu zu erfüllende Aufgabe. Denn sie ist keine Naturform, die sich von selbst verwirklicht, sondern eine Kulturform, deren allerdings für sich bestehender Sinn nur vom freibestimmenden Menschen verwirklicht werden kann.1 Schon hieraus folgt, dass er in jedem besonderen Fall besonderen Ausdruck erfordert. Der Einzigkeitscharakter der besonderen Aufgabe, welche sich jedem stellt, wird nun vollends klar, wenn man sich dessen erinnert, was Ehe, formal betrachtet, bedeutet, nämlich ein unaufhebbares bipolares Spannungsverhältnis: um die grundsätzlich gleiche Spannung zu verwirklichen, bedarf es, je nach der Eigenart der Pole, besonderer Bedingungen; es können auch nicht beliebige Faktoren die fragliche Einheit höherer Ordnung realisieren. Um die letzte Frage zuerst zu behandeln: unter primitiven Verhältnissen ist das Problem der richtigen Gattenwahl nicht schwer zu lösen: je naturnäher die Menschen, desto geringere Bedeutung kommt ihrer Einzigkeit zu, und desto leichter geht alles von selbst
, weil das Triebhafte eindeutig sowohl als zielsicher ist. Hier kann beinahe jeder jede freien und umgekehrt, wenn nur Übereinstimmung im Typischen herrscht, und das Verheiratetsein erfordert kaum überhaupt Kunst. Hieraus erklärt sich u. a. das dem Kulturmenschen so unbegreifliche Glück solcher Ehen, in welchen der Mann brutaler Gewaltmensch ist und das Weib nichts als masochistisches Geschlechts- und Muttertier — ein leider in vielen sogenannten gebildeten Kreisen Europas noch häufiger Fall: hier herrscht tatsächlich Entsprechung.
Aber das Problem wird mit wachsender Differenzierung und Vergeistigung immer schwerer lösbar, und im Höchstfall stellt es sich so individuell, dass die Vorstellung vom Einzig-Möglichen
keinem imaginären, sondern einem wirklichen Anspruch entspricht. — Was nun aber den bestimmten Charakter der Ehe-Beziehung anlangt, welchen diese, je nach der Eigenart ihrer Pole, annehmen muss, so folgt aus ihrer grundsätzlichen Bestimmung etwas überaus Wichtiges: dass überhaupt kein konkreter Ausdruck denkbar ist, der nicht unter bestimmten Bedingungen dem Sinn der Ehe gemäß sein könnte; denn hier hängt alles von der konkreten Eigenart der Gatten ab. Deren Verhältnis zueinander kann seinerseits typisch vorausbestimmt sein. In matriarchalischen Gemeinwesen muss die Ehe anderes bedeuten als in patriarchalischen, denn dort liegt der Akzent auf dem Familienzusammenhang, hier auf dem Manne und dessen Ideal. In England, wo der einzelne gegenüber der Familie prinzipiell den Vorrang hat, muss die Ehe schon allein deshalb ein anderes sein, als etwa in Italien, wo die Casa, das Haus, das einen lebendigen Zusammenhang vom Pater familias bis zum Gesinde schafft, von etruskischen Zeiten ab die eigentliche Einheit darstellt, aus welcher sie keinen Einzelnen je entlässt: hier kann die Ehe nie mehr sein als ein Bestandteil der Hausgemeinschaft und deshalb nur ausnahmsweise gleich hohe Ausbildung erfahren wie dort, wo auf dem Paar der Nachdruck ruht. Nun aber zur individualen Bestimmtheit: hier hängt der Sondercharakter einer möglichen sinngemäßen Ehe davon ab, welche Triebe und Eigenschaften in den Partnern tatsächlich vorherrschen. Wo dies der Machttrieb ist in seiner herrschaftlichen Vergeistigung, wie in echten Herrscherfamilien, dort kann nur eine Ehe, welche diese zur Dominante hat, Erfüllung bedeuten. Wo der Hauptnachdruck des Lebens auf dem Wirtschaftlichen ruht, wie beim Bauern und Händler, dort ist eine Geldheirat grundsätzlich sinngemäßer, als eine Liebesheirat. Eben deshalb gehen überhaupt so viele sogenannte Vernunftehen gut aus, weil Besitzen meisten tatsächlich mehr bedeutet als alles andere und Dankbarkeit für diesen manchen tiefer und dauerhafter bindet, als jede Neigung könnte. Wirkliche Neigungsheiraten — ich rede nur von diesen, bekanntlich wird jede Heirat als Liebesheirat proklamiert —, wirkliche Neigungsheiraten sind, umgekehrt, hauptsächlich deshalb bedenkliche Angelegenheiten, weil das rein persönliche Gefühl nur bei sehr hochstehenden Menschen Wesentliches bedeutet. Aus den gleichen grundsätzlichen Erwägungen erklärt sich die Möglichkeit, dass in manchen Ehen die als einzig sinngemäß anerkannten typischen Rollen der Gatten vertauscht erscheinen, wie denn jedes Volk und jede Zeit dieselben ein wenig anders bestimmt. Eben hier wurzeln hauptsächlich die modernen Ehereformbestrebungen: wenn der Charakter eines der Pole sich gewandelt hat, und dies gilt heute von der Frau, so muss der Sonderausdruck des Eheverhältnisses sich entsprechend wandeln, gerade damit das Verhältnis als solches weiter bestehen kann. Auf dem Nachsatz liegt der ganze Nachdruck. Die Ehe an sich ist ewig gültige Form. Um ihren ewigen Sinn zu erfüllen — deshalb muss ihr von Zeit zu Zeit, von Mensch zu Mensch ein immer neuer bestimmter Inhalt gegeben werden.
1 | Inwiefern alle Sinnesverwirklichung von innen nach außen zu, durch das Medium des freien Subjektes hindurch, erfolgt, führt meine Schöpferische Erkenntnis (Darmstadt 1922) aus. |
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