Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

12. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926

Bücherschau · Edgar Salin, Nathan Söderblom

Auf die Gedankengänge der Neuentstehenden Welt wird mir öfters erwidert, und von sehr kluger Seite, es sei nicht gar so viel verändert; die neue Zeit sehe der alten gar sehr ähnlich. Wie sollte sie das nicht? Wie sollte eine Veränderung anders als sehr langsam sichtbar werden? Nur die Verschiebung des Bedeutungsakzents gegenüber dem früheren ist schon heute offenbare Tatsache, alles andere wird noch. Die Natur ist in erster Linie konservativ. Nichts Neues greift je ins Geschehen ein, ohne sich mit diesem, so oder anders, zu amalgamieren. Weshalb der Augenschein oft noch Jahrhunderte nach dem Ende historischer Bedeutung für die Vormacht des Alten spricht.

So lagen die Dinge hinsichtlich der christlichen gegenüber der antiken Welt. Wer die neuen Ausgrabungen in Rom mustert, findet oft Gelegenheit zum Staunen, wie selbstverständlich gelegentlich christliche Motive unter heidnischen mitfigurieren: die meisten empfanden diese eben durchaus nicht als Gegensatz, sondern nur als exzentrischen Teilausdruck des alten Geists. Zwischen Jesus und Orpheus ist manchmal schwer zu unterscheiden: pompejanische Ornamente unterbricht ganz unbefangen manchmal das Kreuz. Es sollte niemand versäumen, der diese Zeit verstehen will, sich vom Übergang der Antike zum Christentum ein deutliches Bild zu machen: da wird er erkennen, dass die radikale Veränderung einzig und allein in veränderter Einstellung lag (vgl. das Kapitel Was wir wollen der Schöpferischen Erkenntnis). In allen anderen Hinsichten handelt es sich um allseitig vermittelte Übergänge. Und dieses deutliche Bild ist heute für jeden zu gewinnen: dank Edgar Salins Civitas Dei (Tübingen 1926, J. C. B. Mohr). Das ist ein äußerst lehrreiches Werk. Zwei Male bisher habe ich es vom Anfang bis zum Ende aufmerksam durchgelesen. Denn noch nie begegnete mir ein Buch, in dem die Eigengesetzlichkeit der Form so klar erwiesen wird und damit die Wahrheit der Grundgedanken von Politik und Weisheit. Wird man’s ihm glauben, so wahr es sei? Jesus, der Friedensfürst, der Erlöser von allem Übel, ward zu diesem als Erbe des Augustus, der alle Formen für den neuen Inhalt vorbereitet hatte. Und weiter: nicht die griechische Philosophie eroberte nachträglich das Christentum, sondern jene hatte sich von sich aus so orientalisiert, dass jeder Wesensunterschied am Ende verschwamm und zuletzt einfach der auf gleicher Ebene Stärkere den Sieg davontrug. Der allgemeine Zeitgeist kehrte sich vom politischen Nomos der Antike einem neuen, überweltlichen zu: so hielt es nicht schwer, die alten Lebensformen als Organe neuen Geistes zu verwenden. Aber gerade hierbei erweist sich die absolute Neuheit der christlichen Einstellung und das letztlich Entscheidende dieser. Weil diese eine grundandere war, so wurde auch der Tatbestand auf die Dauer ein völlig anderer, neuer. Nicht anders wird es auch in dieser Wende werden. Diese steht in manchen Hinsichten im Zeichen einer Neuantikissierung: der Fascismus, Stefan George, die Ideale des Weisen, die Weltüberlegenheit sind zum Teil aus antiken Voraussetzungen zu begreifen. Aber nur zum Teil. In Wahrheit handelt es sich wieder um ein völlig Neues, das jetzt schon auf Begriffe abzuziehen unmöglich ist.

Aus Salins Buche wird einem aber weiter klar, wie wunderbar die Wege Gottes sind. Ganz sicher führt der Logos irgendwie ein Eigenleben. Ganz sicher ist ihm gerade der Zufall notwendiges Ausdrucksmittel. Mit den vorhandenen Kräften muss er einmal rechnen. Am Weltalphabet vermag er nichts zu ändern. Da hilft er sich durch Schaffen neuer Zusammenhänge aus altem Material, die mit dem Eigensinn historischer Chronik nicht notwendiger zusammenfallen, wie der ästhetische Wert eines Gedichts mit dem empirischen Material, durch das er sich verwirklicht. Robert Eisler hat jüngst aus Josephus höchst bedeutsame, bisher unbemerkte Tatsachen aus Jesu Leben ans Licht gezogen. Er sah ganz anders aus, als die Legende will. Er nahm wirklich an einer politischen Bewegung teil, die an die von Gandhi erinnert, und die Römer hatten insofern Ursache, ihn zu vernichten. Aber dieses Empirische ändert nichts am überempirischen Bedeutungsgehalte seines Lebens. Ich wollte, bald würde alles Empirische allerseits (auch von der katholischen Kirche her) ganz einfach als empirisch hingenommen, so wie es tatsächlich war. Dann erst kann es gelingen, den Eigensinn des Geistigen ganz zu erfassen.

Gibt einem Salin das bisher gegenständlichste Bild von der Entstehung des Christentums, so verdanken wir Nathan Söderblom, dem großen schwedischen Kirchenfürsten, die bisher unbefangenste Darstellung des Werdens des Gottesglaubens (Leipzig 1926, Hinrichs’sche Buchhandlung). Es ist ein schönes Zeichen der heute anerkannten Geistesfreiheit, dass ein Erzbischof, welcher Kirche immer, dieses Buch hat schreiben können. Denn wie Salin zeigt, dass Christi übernatürliche Sendung, an die der Verfasser glaubt, eben doch nur gemäß irdischer Normen sich hat manifestieren und durchsetzen können, so zeigt Söderblom, dass die Erkenntnis des Göttlichen überall an Vorstellungen gebunden ist, die als solche vom Buschmann zum modernen Menschen nur wenig variieren. Überall sind es die Vorstellungen der Seele, der Macht und des Urhebertums, die allem religiösen Realisieren zum Gefäße dienen. Und überall sind sie ihrem Eigensinn nach gleich. So unterscheidet sich der christliche Heiligenkult in nichts von seinen Äquivalenten oder Analogien unter Naturvölkern. Aber daraus folgt, wohlverstanden, nichts Entwertendes für die Religion. Diese Erkenntnis heiligt, im Gegenteil, erstens das Nichtbesserkönnen der Primitiven. Und dann lehrt sie einmal mehr zwischen Sinn und Ausdruck richtig zu unterscheiden. Auch auf religiösem Gebiet ist das Alphabet des Menschen wesentlich unveränderlich. Das unterscheidet den Vorgeschrittenen vom Elementaren, dass er mittels seines Höheres und Besseres sagt. Möchte doch recht bald alles auf Erden augenscheinlich Geschehene seine rein irdische Erklärung gefunden haben. Dann erst wird das, was das Christentum als Übernatur begreift, in seinem An-Sich-Sein fassbar werden. Auch die katholische Kirche ist ja, Gott sei dank, jetzt endlich dabei, sich des Geistes, der Galilei verurteilen durfte, zu entäußern. Bald wird alle christliche Vorstellung, die der wissenschaftlichen oder philosophischen Erkenntnis nicht standhält, im selben Sinn revidiert werden, wie der Prozess, der mit der Heiligsprechung Jeanne d’Arcs abschloss, die ihrer Richter geistlichen Standes annulliert hat. Mit Freude verfolge ich die Kulturoffensive der Jesuiten. Mit Freude sehe ich, wie gerade die katholische Kirche auf dem besten Wege ist, sich auf den reinen Sinn hin neu zu konstituieren. Hier liegt, in der Tat, die einzig mögliche Rettung jeder Kirchenlehre in dieser wachen Zeit. — So mögen denn recht viele, gerade unter gläubigen Christen, Salin und Söderblom lesen. Ist ihr Glaube irgend etwas wert, so wird er an dem Studium nicht Schaden nehmen, sondern an Reinheit zunehmen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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