Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

19. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1931

Bücherschau · Verbrecherproblem

Gewisse Bücher kann man nur im Bette lesen; das gilt in erster Linie von den im körperlichen Sinne allzu schweren. So verdanke ich’s längerem Kranksein, dass ich mich seinerzeit zur Lektüre von Herman Wirths Aufgang der Menschheit entschloss; dem gleichen Umstand verdanke ich heute die Kenntnis von Robert Heindls Der Berufsverbrecher (7. Auflage 1929, Pan-Verlag Kurt Metzner).

Das ist ein Buch, das zumal jeder unentwegte Idealist, deren es in Deutschland allzu viele gibt, genau studieren sollte. Doch darüber hinaus sollte es zur allgemeinen Bildung gehören, es zu kennen. Immer mehr wächst die Kriminalität. Immer mehr spielen metaphysische Erwägungen bei der Rechtspraxis und dem Strafvollzuge mit. Immer mehr siegen die Minderwertigen im Kampf ums Dasein. Ferner ist nicht zu leugnen, dass die Sympathie mit dem Verbrecher an sich im Wachsen ist — je maschineller und routinierter das Leben wird, desto mehr Verständnis bringt die Phantasie jedem, der die Routine durchbricht, entgegen. Wer sich auf dieser außergewöhnlichen und besonderes Risiko bedingenden Linie hervortut, wird unwillkürlich als Sportgröße erster Ordnung beurteilt. Endlich fühlen sich die Erfolgreichen der modernen rücksichtslosen Ausbeuterwelt den großen Verbrechern instinktiv verwandt… Wie ist nun aber der typische, der normale Verbrecher wirklich? Der Routinierteste unter allen Routiniers. Überdies ein ebenso fest definierter Berufstypus, wie der Pfarrer und Arzt. Seine Anlage vererbt sich sicherer als bei Musikern, von Fürsten zu schweigen. Er bessert oder ändert sich so gut wie nie. Vor allem aber sind es die Strafanstalten als solche, die diesen Typus züchten und verewigen. Sie sind die Schulen und Hochschulen der Verbrecher. Solange es Gefängnisse gibt, die einen entlassen, werden die Verbrecher zulernen und die Verbrechen zunehmen.

Diese Verbrecher sind eine richtige Klasse, mit vielen Unterabteilungen natürlich, und entsprechendem Snobismus und Standeshochmut. Und diese angeblich Asozialen sind in ihrer Sphäre die sozialsten Wesen der Welt. Es ist reiner Unsinn, zu behaupten, der Verbrecher sei der Mensch, der gegen die Gesellschaft kämpft. Er lebt nur auf Kosten anderer Schichten, wie es so oder anders alle Klassen tun, und ist unter seinesgleichen wahrscheinlich der geselligste.

Ist dies alles — und Heindls Buch enthält viel mehr noch — nicht überaus wissenswert? — Mehr will ich hier nicht sagen. Möchte aber zur Ergänzung meines Amerika-Buchs noch das Folgende mitteilen, was ich beim Schreiben dieses leider noch nicht wusste. Die Väter der amerikanischen Kooperation waren Verbrecher. Zur Zeit, da die amerikanische Gesellschaftsstruktur noch rein individualistisch war, waren die Verbrecher New Yorks schon wunderbar organisiert. Dies erklärt denn das bisher immer siegreiche Verbrecherwesen von Chikago. Die Verbrechertrusts sind einfach die ältesten, erfahrensten und bestorganisierten… Ich bin heute zur Überzeugung gelangt, dass es dem Berufsverbrecher gegenüber nur eine mögliche Politik gibt: lebenslängliche Internierung und Sterilisierung.

Doch behandelt Heindl nur eine Seite des Verbrecherproblems. Über die andere, die ethische, die Seele des Menschen und die Menschheit betreffende ist nun jüngst ein Buch erschienen, von dem ich hoffe, dass es epochemachend wirken wird; unter allen Umständen halte ich’s für das wichtigste und empfehlenswerteste Buch, das mir seit Jahren vorgekommen ist: Professor Georg Fuchs’ Wir Zuchthäusler (München 1931, Albert Langen Verlag). Professor Fuchs wurde in den ersten Jahren nach der Revolution wegen Teilnahme an politischen Umtrieben, die damals als hochverräterisch beurteilt wurden — heute ist er vollkommen und in allen Hinsichten rehabilitiert — zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Fünf davon hat er tatsächlich abgesessen, dann erst wurde er begnadigt, obgleich kein Mensch, der etwas von ihm wusste, in ihm einen Verbrecher sah. So furchtbar nun dies Erlebnis für Fuchs gewesen ist — für die Menschheit ist es zum Segen geworden: Wir Zuchthäusler ist das erste vollkommen objektive, vollkommen verständnisvolle und zugleich vollkommen unsentimentale Buch über das Strafvollzugsproblem der Weltliteratur. Es ist bewundernswert, wie dieser an seinem Schicksal doch so schwer leidende Mann sich all die Jahre hindurch die Distanz und innere Überlegenheit zu wahren wusste. Seine Schilderungen der einzelnen Verbrechertyp­individualitäten sind meisterhaft. Vor allem aber ergibt sich aus Fuchs’ Schilderung ganz von selbst die einzig mögliche Lösung des Haftproblems. Was Heindl als gültig erweist, lässt Fuchs implizite unangetastet. Unter allen Umständen muss die Allgemeinheit vor dem Verbrecher gesichert werden. Nur ist es mit der Einkerkerung allein nicht getan. Und jeder Rückfällige kann nicht für immer eingesperrt werden. Worauf es ankommt, ist, die Sicherung der Allgemeinheit mit der Möglichkeit der Besserung des Einzelnen zu verbinden, was das heutige Zuchthaussystem nachweislich nicht tut. Hier nun gibt Fuchs Aufschlüsse von entscheidender Wichtigkeit. Das heutige Gefängniswesen ist nicht allein deshalb verfehlt, weil unsere Gefängnisse recht eigentlich die hohen Schulen des Verbrechens sind — dort lehrt der Ältere, Erfahrene den Jüngeren; dort werden alle technischen Vervollkommnungen ausgeheckt: die zwangsläufige Wirkung des Systems ist die, dass sie aus dem Nicht-Berufsverbrecher auf die Dauer unvermeidlich einen Revoltierten macht. Dass ein nach formellen Gesichtspunkten zustande gekommener Gerichtsspruch, der überdies natürlich nur dem vorliegenden Tatbestande Rechnung tragen konnte, letztinstanzlich bestimmt, dass keiner inneren Wandlung Rechnung getragen werden kann (die beste Führung zeigen in der Regel schlaue Anpasser, nicht starke und wertvolle Charaktere), zeitigt furchtbare innere Revolten, die bei der Unabwendbarkeit ihrer Verdrängung auf das gesamte Seelengefüge vergiftend und zerstörend zurückwirken. Und charakteristischerweise ist dies heute beim sogenannten ideal-humanitären Strafvollzugsbetriebe nicht besser, sondern schlimmer als früher, weil die menschliche Seele jede persönliche Willkür besser erträgt als Ausschaltung der Persönlichkeit; das Grundgebrechen des heutigen Amerika tritt im idealen Zuchthausbetriebe karikiert in die Erscheinung.

Was ist da nun zu tun? Mit prächtigem gesundem Menschenverstande lehnt Fuchs jede Sentimentalität, jede Nachsicht auf Grund des unendlichen Werts der Menschenseele ab; überzeugend zeigt er, wie fast jeder nicht geborene Verbrecher sogar das Bedürfnis nach Wiedergutmachung hat. Fuchs ist auch für, und nicht gegen strenge Behandlung des Gefangenen. Es sei ja auch der Arzt im gleichen Sinne streng, der eine Diätkur oder gar eine Operation verordnet. Fuchs befürwortet unter Umständen längere Freiheitsstrafen als die üblichen. Aber er fordert andererseits Rechnung tragen der Persönlichkeit im Strafvollzuge, er fordert vor allem Berücksichtigung deren möglicher Wandlung. So allein sei eine Gerechtigkeit zu erzielen, die allen Komponenten ihres Begriffes Rechnung trüge. Praktisch liefe dies nun aber darauf hinaus, dass Bemessung der Länge und Art des Strafvollzugs letztinstanzlich nicht dem Richter, sondern der Gefängnisverwaltung übertragen werde, die auch heute in der Regel, trotz mancher Ausnahme, einsichtiger sei, als die meisten glauben. Und daraus folge weiter, dass nicht der Jurist, sondern der Seelenversteher nach der Verurteilung, die als solche nach wie vor auf Grund des der Allgemeinheit zugefügten Schadens zu erfolgen hätte, das letzte Wort haben sollte.

Dies scheint mir nun das grundsätzlich Entscheidende. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass das größte durch die französische Revolution heraufbeschworene Unglück darauf beruht, dass seither Advokaten regiert haben. So ist heute Poincaré, ein ohne Zweifel rechtschaffener, ja in vielen Hinsichten hervorragender Mann, der Erzfeind der Befriedung Europas, einfach weil er als Advokat denkt, der Definitives will und dem flutenden Leben Rechnung zu tragen ablehnt. Es gibt nichts Verbildenderes als juristische Schulung. Sind nicht alle Juristen Unmenschen oder Maschinen, so liegt das an der gesunden Natur, die ihnen ihre Eltern vererbt haben, oder daran, dass ihnen ihr Beruf nie letzte Instanz war — keinesfalls an der Juristerei. Während der Einsamkeit der Kriegsjahre studierte ich als Autodidakt Jura nach und erschrak dabei mehr und mehr von Tag zu Tag über die ungeheuren seelischen, geistigen und menschlichen Gefahren, die dieses Studium und erst recht der juristische Beruf bedingt. Freilich, derartiges muss es leider geben; ohne künstliche Verallgemeinerung ist für die Allgemeinheit nichts zu leisten. Aber es war sicher einer der größten Fehlgriffe der bisherigen Menschheitsgeschichte, dass der Jurist als letzte Instanz gelten konnte. Ich sehe eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben darin, diesem Missverständnis ein radikales Ende zu bereiten. Und zur Einsicht in deren Notwendigkeit dürfte weniges schneller führen als das Studium von Georg Fuchs’ empfohlenem Buch.

…Wie ich die obigen Betrachtungen gerade niedergeschrieben, kam nur die kleine Schrift von Heinrich Berl Die Heraufkunft des Fünften Standes (Karlsruhe 1931, Kairos-Verlag) zu Gesicht.

Hier gehört Heinrich Berl zu den Glücklichen (soll ich sie so nennen?), die zum erstenmal eine Frage richtig stellen. Er hat es gewagt, den Verbrecherstand — das ist sein fünfter Stand — resolut als ewigen Stand unter anderen zu betrachten, und daraus ergibt sich eine Belichtung, die auf einmal hell und deutlich dastehen lässt, was bisher in undurchdringliches Dunkel gehüllt schien. Woher kommt es, dass unter den so großartigen Organisationen der Vereinigten Staaten die Verbrecher-Organisationen so sehr die besten sind, dass sich der Staat ihnen gegenüber machtlos erweist? Wie erklärt sich der unzweideutige Satanismus Sowjet-Russlands, das doch so ungeheure werbende Kraft beweist? Es erklärt sich, nach Heinrich Berl, daraus, dass in Amerika und Russland der fünfte Stand, nämlich der Verbrecherstand, genau im gleichen Sinn zur bestimmenden Macht erwacht ist, wie es der dritte Stand mit der französischen Revolution tat, und der vierte als Folge des Weltkriegs. Und das ist möglich, weil die Welt überall bereit ist zur Bewunderung und Nachahmung des Untermenschen (Berl), genau wie die verfeinerte Aristokratie Frankreichs mit Rousseau bereit ward zur Verherrlichung des Volks, das jene nachher guillotinierte. Warum liest jedermann gerade heute so leidenschaftlich gern gerade Kriminalromane? Weil in jedem die Unterwelt an die Oberfläche drängt (daher unter anderem auch die Konjunktur, die den Siegeszug der Psychoanalyse ermöglichte; wie ich in einem früheren Heft dieser Mitteilungen ausgeführt habe, sind die meisten Analytiker Menschen gleicher Gesinnung wie die mittelalterlichen Folterknechte).

Berls Büchlein bietet ohne Zweifel den Schlüssel zum Problem des amerikanischen Verbrechertums. Erscheint dieses heute so phantastisch gut organisiert, so liegt das daran, dass die Verbrecher Amerikas, wie bereits ausgeführt, die ersten Organisierten überhaupt in der damals so individualistischen Neuen Welt waren und sich seither — da Verbrechertum immer up to date sein muss, um zu gedeihen — allen voran den neuen Verhältnissen angepasst haben. — Berls Buch enthält ferner den Schlüssel zum Problem der heutigen russischen Staatlichkeit. Diese verwechsle man ja nicht mit dem neuen Russland überhaupt und auch nicht dem Sowjetsystem als solchem: letztere werden über den Terror hinausleben und in Zukunft ein sehr Positives bedeuten; das künftige Sowjet-Russland wird mit dem heutigen ebensowenig Ähnlichkeit haben wie Herr Doumergue mit Herrn Robespierre. Aber zweifelsohne bedeutet der ganze staatliche Apparat des heutigen Russland mit seinen Prinzipien und Methoden die reinste und vollkommenste Verbrecherwirtschaft, die es je auf Erden gab, und es ist verhängnisschwangerste Verblendung, dass dies die Welt noch immer nicht begreift. Erschöpfende Aufklärung darüber, dass dem tatsächlich so ist, gibt heute ein Buch, das jeder gelesen haben sollte: Iwan Iljins Welt vor dem Abgrund (Berlin-Stegfitz 1931, Eckardt Verlag). Hier wird an der Hand offizieller Sowjetdokumente, die in seltener Vollständigkeit angeführt werden, nachgewiesen, dass die Führer des Bolschewismus wirklich nicht anders gesonnen sind wie die Führer der großen amerikanischen Verbrecherorganisationen, wie Al Capone usw.; nur dass die letzteren, trotz ihres Unterweltlertums, aristokratisch gesinnt sind und Züge der Großmut zeigen, welche den Bolschewisten vollkommen fehlen. Auch Lenin war in seiner Weltanschauung reiner Verbrecher; wer Iljin gelesen hat, kann dies nicht mehr bezweifeln. So beweist denn die Bewunderung, die den Bolschewistenführern allerseits zuteil wird, nichts anderes, als was Berls eine Grundthese ist: dass heute der fünfte, nämlich der Verbrecherstand an die Oberfläche gelangt, und zwar im persönlichen Bewusstsein der meisten Zeitgenossen; genau wie die Wünsche der Schichten, welche die französische Aristokratie guillotinierte, im Unbewussten dieser selbst lebten, wodurch allein der Sieg der Revolution ermöglicht ward.

Leider ist Berls Buch nicht gut geschrieben. Das Pathos der ersten Seiten wird durch den Stil der folgenden nicht gerechtfertigt; allzusehr merkt man, dass das Buch in Eile niedergeschrieben ward, wie dies der Verfasser übrigens selbst am Schluss bemerkt. Er hätte lieber abwarten sollen, bis dass seine Gedanken die ihnen gemäße Form fänden — so droht Berls Buch die Gefahr, nur Material darzustellen für den, der das gleiche einmal besser sagt. Trotzdem aber spreche ich Berls Buch wirkliche und bleibende Bedeutung zu. Der Warnungsruf, den es verkörpert, ist berechtigt. Und ist manches einseitig, übertrieben oder schief pointiert, so bedeutet dies keinen Fehler, sondern eine Tugend: nur das Stilisierte und Vereinfachende wirkt. Daher der ewige Vorzug des Gemäldes vor der Photographie. Das eine, was noch nie die Welt bewegt hat, ist das wissenschaftlich Erschöpfende. Die Weltwirkung von Karl Marx’ tiefgelehrtem Werke beruht ganz und gar nicht auf seinem Richtigen, sondern seinen Voreingenommenheiten.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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