Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

20. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932

Bücherschau · Mutterrecht

Immer intensiver beschäftigt sich der Zeitgeist mit dem Problem des Mutterrechts. Bachofen, welcher zuerst auf dessen einstmalige historische Vorherrschaft hinwies und den Begriff geprägt hat, fand bei Lebzeiten wenig oder keinen Anklang. Seither aber mehren sich die Stimmen, die sich über die besondere Rolle, welche die Frauen im öffentlichen Leben spielen könnten und sollten, äußern, fortschreitend so sehr, dass man heute schon von einem Chor reden darf. Der Hauptanlass dessen ist wohl der, dass der Sieg der Frauenbewegung dazu gerade nicht geführt hat, was größere Mitbestimmung des weiblichen Elements Gutes hätte bringen können; die im Berufsleben stehenden Frauen haben sich einfach, so gut es anging, den männlichen Anforderungen angeglichen, und ich wüßte keinen Fall, in denen hier die Frauen Besseres geleistet hätten als die Männer. Auch von dem Einfluss des Muttergeistes, der sich unwillkürlich aus der Mitbestimmung der Frau ergibt, kann man kaum behaupten, dass er zu einer Besserung der Verhältnisse geführt hätte. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas, wo dieser indirekte Einfluss am stärksten waltet, hat er, im Gegenteil, zu allem dem geführt, was Amerika so eng und störrisch macht: zur vollkommenen Durchsetzung der Monroe-Doktrin, der rücksichtslosen Schuldenpolitik, der Prohibition und einer allgemeinen Gesetzgebung, die den Mann fortschreitend unschöpferischer werden lässt. (Vgl. meinen Nachweis dessen im Kapitel Die Vorherrschaft der Frau meines Buches Amerika.) In Deutschland aber ist der gleiche indirekte Einfluss wohl die Hauptursache jener Hypertrophie des Wohlfahrtsgedankens im Staat, der, wenn er nur kurze Zeit noch andauert, unweigerlich zur Entartung der deutschen Rasse führen muss. So mehren sich denn die Veröffentlichungen, welche die Frage behandeln, ob nicht gerade die Betonung und Machtsteigerung des spezifisch Weiblichen, das keinerlei Anspruch auf Gleichstellung mit dem Mann erhebt, Heil bringen könnte. Dieser Gedanke liegt desto näher, als in den Nationen, wo die Frau eine große Rolle spielt, ohne jedoch am männlichen Geschäfte sichtbar teilzunehmen, wie vor allem in Frankreich, das nationale Gleichgewicht unstreitig ein gesunderes ist als bei uns.

Von diesen Veröffentlichungen ist nun die interessanteste mir bekannte die des Leipziger Philosophen Ernst Bergmann Erkenntnisgeist und Muttergeist (Breslau 1932, Ferdinand Hirt). Sie ist zunächst interessant, weil sie die Vorzüge des mütterlichen Prinzips mit nicht zu überbietender Einseitigkeit hervorhebt und die des männlichen entsprechend zu entwerten sucht. Doch über diese Seite des Problems will ich hier nicht reden, denn sie ist schließlich nur als Schule zum Selbstdenken und als Weg zur eigenen besseren Einsicht interessant. Jedes Insistieren auf einem anfänglich guten Gedanken macht ihn schließlich falsch, und jedes konsequente Zuendedenken führt zuletzt ad absurdum. Insofern darf Bergmanns Buch sogar den Kuriositätswert des männerfeindlichsten Buches aller mir bekannten Literatur beanspruchen. Aber der letzte Teil des Buches, der sich mit den sozialen Möglichkeiten bestimmender echtweiblicher Weiblichkeit befasst, ist desto ernster zu nehmen. Es besteht kein Zweifel, dass der moderne Mann sich selbst als politisches Wesen immer mehr ad absurdum führt, insofern die naturhaften, instinktiven und intuitiven Kräfte, sowie der Sinn für natürlichen selbstverständlichen Zusammenhang immer weniger bestimmen. Nationaler und Familien-Zusammenhang sollten doch eine Selbstverständlichkeit sein, über welche Diskussion sich erübrigt; es ist recht eigentlich grotesk, nicht nur politisch schädlich, dass eine nationale Einheitsfront in Deutschland anscheinend ein Ding der Unmöglichkeit ist, dass Theorien bestimmen und aus Gründen der Weltanschauung der natürliche Zusammenhang von Mann und Weib und Kind unterminiert wird. Und zwar ist diese Verderbnis schon so weit gediehen, dass gerade die Parteien, die als Vorkämpfer neuer Instinktsicherheit und Naturverbundenheit großtun, diese Tugenden am meisten vermissen lassen. Nun ist die Einstellung eines Volkes nur langsam zu verändern. Und auch außerhalb Deutschlands wird der überintellektualisierte europäische Mann seine Instinktsicherheit schwerlich so bald wiederfinden. Insofern läge die schnellste Rettung vor Katastrophe tatsächlich darin, dass die Frau als echte Frau dort mehr zu sagen und zu bestimmen bekäme, wo sie kompetiert. Dies Ziel zu erreichen wird deshalb schwer fallen, weil die meisten Frauen, die eine öffentliche Rolle spielen, vermännlicht sind und insofern für das Gemeinte nicht in Frage kommen. Immerhin dürfte es bei einiger Vorbereitung leichter fallen, ein Gremium echter Frauen zu bilden, als die Männer zu verwandeln, denn die Frauen als konservatives Geschlecht sind auch heute in ihrer Mehrzahl so, wie sie sein sollen. Es ist doch klar — oder sollte es wenigstens sein —, dass der natürliche Zusammenhang der Menschen überhaupt nicht von Theorie und Weltanschauung abhängig sein darf. Hier hat sich seit Adam und Eva nichts Wesentliches geändert und wird sich nie Wesentliches ändern. Dass die Nation über der Partei, das natürliche Verhältnis von Mann und Weib und Eltern und Kindern vom Zeitgeist unabhängig sein sollte, dass hier also überhaupt nicht Probleme in Frage stehen, sollte selbstverständlich sein. Hier spricht die Interesselosigkeit der Frau für Probleme als solche für ihre größere Kompetenz. Ebenso selbstverständlich sollte anerkannt werden, dass das Starke dem Schwachen, das Gesunde dem Kranken unbedingt vorzuziehen ist. Sehr charakteristischerweise waren mutterrechtlich regierte Staaten ausnahmslos viel härter gegen das Entartete und insofern viel züchterischer gesinnt, als alle patriarchalischen. Dies rührt wohl hauptsächlich daher, dass jede Frau sich ursprünglich nur ihrem eigenen Kreis verpflichtet fühlt und deshalb, wo sie als Klasse zu bestimmen hat, im Falle minderwertigen Nachwuchses von ihren Geschlechtsgenossinnen leichter majorisiert wird, als bei Männern der Fall ist, welche Billigkeitserwägungen zugänglich sind. Im gleichen Sinne ist es für die Frau kein Problem, dass jedes Menschen tägliche Notdurft und Nahrung sichergestellt werden soll. Ausbeuterischer Kapitalismus wäre bei Vorherrschaft echten Frauentums undenkbar. Dagegen würde solche gerade nicht zum Pazifismus führen. Die Frau will, dass der Mann tapfer und stark sei. In allen matriarchalischen Staaten der Geschichte waren die Männer besonders kriegerisch.

Dies schreibe ich, um möglichst viele zum Selbstdenken in dieser Lebensfrage anzuregen. Es sollte eine Frauenbewegung ganz anderer, ja entgegengesetzter Art entstehen, als es die bisherige war. Und dies entspricht nicht nur einer politischen, sondern einer weltanschaulichen Notwendigkeit. Die Urordnung unter Menschen ist nicht die rationale, in der wir heute ausschließlich leben, sondern die emotionale. In dem Nachweis dieses sehe ich eines der wichtigsten Ergebnisse der Meditationen. Verstand bindet überhaupt nicht von selbst; nur durch Gewalt kann er seine Einsichten und Forderungen durchsetzen. Dagegen bindet Gefühl problemlos selbstverständlich. Nur Gefühls-Ordnung hat selbstverständlich Bestand. Frankreich hat im Weltkrieg durchgehalten, weil dort das Gefühl die angemessene Rolle spielt. Deutschland hat sich selber preisgegeben, weil es zu sehr rationalisiert war. Deutschland als Staat ist für die Dauer überhaupt nur durch eine Apokatastasis der emotionalen Ordnung zu retten — die etwas ganz anderes ist als die Ordnung des Bluts, für welche die Nationalsozialisten sich einsetzen.

Wenn ich etwas von der Wirkung der Meditationen erhoffe, so ist es eine Baisse der Bücher über die Seele, welche in Deutschland in den letzten Jahren so sehr bewundert worden sind. Die Natur ist keine gütige Mutter noch Amme, und einen seligen Lebensstrom, aus welchem das Bewusstsein den Menschen grausam herausreiße, gibt es nicht. Die größten grundsätzlichen Irrtümer vertritt hier Ludwig Klages. Aber der ist immerhin ein äußerst scharfer Verstand, so dass er doch immer wieder im Einzelnen recht hat. Entsetzlich hingegen ist Edgar Dacqués letztes Buch Vom Sinn der Erkenntnis (München 1931, Verlag R. Oldenbourg). Wie ich im letzten Heft dieser Mitteilungen Dacqués Erdzeitalter im Gegensatz zu seinen Büchern über die Seele lobte, da hatte ich mir doch nicht träumen lassen, dass er sich dermaßen bloßstellen würde. Aus keinem Worte des Buches sprüht ein Funken der Vollmacht dessen, welcher weiß, was Seele ist. Die halbdichterische Bergwanderung, welche Dacqué in seinem letzten Buche vornimmt, atmet den Geist törichtester Ammenmärchen, mit vulgärem Kinderstubenchristentum versetzt. Es ist schmählich, zu was Versenkung in bloße Stimmung den Deutschen führt. Keine Spur klarer Erkenntnis, keine Spur echten (nicht angelernten oder anempfundenen) persönlichen Erlebens, nichts vom Unterscheidungsvermögen, der Vairagya, ohne welches laut indischer Lehre echtes spirituelles Erleben unmöglich ist, vor allem aber keine Spur des Muts zur Wirklichkeit, der allein zur Wahrheitserkenntnis führt. Über die Seele dürften nur nüchternste Realisten reden. Da kamen mir kürzlich zwei Bücher in die Hände, die ich direkt als Gegengift für die schlechte deutsche Seelenromantik empfehle: es sind die zwei Bücher von Alexandra David-Néel Initiations Lamaiques, Paris 1930, éditions Adyar, und Mystiques et Magiciens du Thibet. Paris 1930, Plon. Hier hat ein Europäer zum erstenmal Geist und Seele des sagenumwobenen Tibet erschlossen. Tibet weiß tatsächlich mehr von den Kräften der Seele als das heutige Indien. Da berührt nun ganz wunderbar die extreme Klarheit und Nüchternheit der Lamas, die sich mystischen Übungen widmen.

Dann sei hier Heinrich Zimmers Büchlein Das ewige Indien (Müller & Kiepenheuer Verlag) empfohlen. Das ist ein Meisterwerk der Zusammenfassung und Prägnanz, zugleich ungewöhnlich schön geschrieben. Noch nie ist das Wesentliche an Indiens Weisheit so tief und allseitig durchschaut worden. Auch hier offenbart sich der gleiche Gegensatz von deutschem Gefasel über die Seele und östlichem klaren Wissen um sie. — Endlich sei in diesem Zusammenhang noch das Buch empfohlen, welches die bisher beste Analyse der Frau als Schauspielerin enthält. Das ist das Tagebuch eines Psychologen von Richard Müller-Freienfels (Leipzig 1931, Seemann), und der betreffende Abschnitt heißt Sylvia. Ich sagte. in diesem Zusammenhang, weil die letzte Meditation den Nachweis erbringt, dass alles Leben aus dem Geiste ursprünglich und wesentlich Komödie ist. Auch eine Einsicht, die Deutschlands schwülen Romantikern ein Greuel sein wird…

Zum Schluss noch ein Hinweis auf zwei Bücher Kasimir Edschmids Glanz und Elend Südamerikas und Afrika nackt und angezogen (Frankfurt a. M., Societätsdruckerei). Edschmids Schilderungen sind eigentlich Reportagen. Aber sie lehren mehr als die meisten, die Ähnliches bringen, dank einem paradoxalen Umstand: sie sind ein einziges sacrificium intellectus. Edschmid vermeidet es auf raffinierteste Weise, Urteile auszusprechen: nicht zwar, weil er sich kein Urteil gebildet hätte — er ist sehr klug — sondern weil er nicht urteilen will. So stecken zugleich Askese und Kunst in seinem besonderen Stil der Gedankenlosigkeit. Was sich positiv dahin auswirkt, dass Edschmids Schilderungen von ungewöhnlicher Plastik sind und ungewöhnlich stark zum Selbst-Denken anregen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME