Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

21. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1932

Bücherschau · Meditatives Lesen

Es mag denen, deren Lebenszentrum nicht im persönlich-Verstehen — und dies gilt von den allermeisten — liegt, zu glauben schwerfallen: aber es ist so, dass ich erst mit der Herausstellung der Meditationen in den Zustand hineingewachsen bin, der als psychologisches Faktum alle kennzeichnet, die von artikulierter Überzeugung her anderem und Fremdem gegenübertreten. Nicht dass ich fertig wäre, bewahre. Solang meine Lebenskraft reicht, werde ich immer erneut Einschmelzungen erleben. — Und da ich immer weiter wachsen will, so lese ich auch heute grundsätzlich so, wie ich es immer tat: in rein hingebender Einstellung, so dass die in einem Werk vorhandenen positiven Kräfte alle Gelegenheit haben, sich in meinem Unbewussten schöpferisch auszuwirken. Aber das rein Vorläufige liegt doch endgültig hinter mir. Meine persönliche Weltanschauung ist mir als Grundform klar bewusst geworden. So kann ich jetzt, mit 52 Jahren, zu anderen Geistern zum ersten Male so in Beziehung treten, wie dies Früh-Fertige mit zwanzig tun. Und diese neue Möglichkeit macht mir das Lesen zum ersten Male seit der Zeit, da ich noch wissenshungrig und neugierig war, zum Genuss.

Von dieser neuen Einstellung her habe ich mir denn im Lauf des verflossenen Sommers mancherlei altes Weistum neu vergegenwärtigt. Und dabei erlebte ich die Freude, feststellen zu können, dass kein wahrhaft Erd-und-Geist-offener Mensch die Wirklichkeit wesentlich anders erlebt hat als ich. Heutzutage lehnen erschreckend viele nicht wesentlich oberflächliche Menschen den unabänderlich grausigen Untergrund der Erd-Wirklichkeit anzuerkennen ab; bald aus Idealismus, bald um den Gott der Liebe — wie sie ihn sich ausmalen — zu retten. Dies beweist nur eins: die einzigartige Oberflächlichkeit des fortschrittlichen und idealistischen Zeitalters, dessen Kinder sie sind; diese Oberflächlichkeit ist dermaßen arg, dass ich beim Bedenken ihrer Weltkrieg und Weltrevolution so manches Mal geradezu als Wiedergutmachung empfunden habe. In der Tat: wenn eine Menschheit Überflutung durch abysmale Gewalten verdient hat, dann war es nicht die von Sodom und Gomorrha, sondern die humanitär-optimistische, denn keine war je Wirklichkeits-vergessener als sie, bei aller Wissenschaftlichkeit; wer aber die Wirklichkeit nicht in Demut anerkennt, so wie sie ist, der, nicht der Leugner überkommener Religion ist das, was frühere Bewusstseinsformen gottlos hießen. Nun, das ursprüngliche und echte Christentum gibt mir und keinem der Idealisten recht, die beim Lesen meiner Schilderung der menschlichen Unterwelt ausrufen: Wenn das wahr ist, dann möchte ich nicht leben! Und was vom ursprünglichen Christentum gilt, gilt gleichermaßen von den großen religiösen Erlebnissen, die aus Mesopotamien, Indien, Kleinasien und Ägypten überliefert sind.

Alle Ur-Weisheit stellt fest und geht davon aus, dass das Natur-Leben, vom Geiste her beurteilt, wesentlich furchtbar, wesentlich Leiden ist. Keine hat je behauptet, dass alles aus dem Guten hervorgegangen sei und dem Guten zuführe. Keine hat am letzten Widerstreit von Geist und Erde vorbeigesehen. Ja, gerade beim scheinbar monistischesten Geist des Altertums, bei Plotin, findet sich meine Schau des Einbruchs des Geists am weitesten vorgebildet. Und gerade das echte Christentum, dessen echter Spross der moderne Optimismus zu sein behauptet, hat die Unüberwindlichkeit des Bösen auf seiner Ebene am schärfsten betont; daher seine Erlösungs-Lehre.

Indem ich mich so in die großen Geister des Altertums versenkte, durch alle raum- und zeitbedingte Oberfläche, durch allen Buchstaben, alles Vorurteil hindurch — denn auch der Ursprünglichste spinnt irgendwo und irgendwie überkommene Gedanken fort — da geriet ich in einen neuen Verwandtschaftskreis hinein; und zwar in den Kreis der mir einzig wirklich nahestehenden Verwandten. Keinem echt-religiösen Geist begegnete ich, was immer er bekannte, dem ich mich fremd fühlte. Doch einem fühlte ich mich so nahe wie keinem zweiten: dem Verfasser der Deutschen Theologie, des Büchleins vom vollkommenen Leben (das man in der wundervollen, bei Eugen Diederichs erschienenen Nachdichtung Hermann Büttners lesen soll). Dass ich mich just dem Deutsch-Herrn so nahe fühlen würde, hatte ich am wenigsten erwartet. Und doch war es so. Denn der Deutsch-Herr ist der von allen Vorurteilen unabhängigste unter Europas Mystikern. Das geht so weit, dass ich die Behauptung wage: was er vom Verhältnis des natürlichen zum göttlichen Willen, von Himmel und Hölle, von Leidensnotwendigkeit und geistiger Freudigkeit, von Natur und Gottesreich kündet, lässt sich zum überwiegenden Teil ohne Verfälschung in meine Sprache übertragen. So möchte ich denn die gläubigen Christen unter meinen Lesern, denen die Meditationen Schwierigkeiten bereiten, an erster Stelle auf die Theologia Deutsch verweisen.

Aber freilich wird der allein die hohe und tiefe Übereinstimmung spüren, welcher von sich aus, persönlich, originaliter religiös erlebt. Auf diesem Gebiete nützen Studium und Reflexion als solche nichts. Ich selbst habe den Deutschherrn erst verstanden, nachdem mir mein persönliches Welterlebnis klar bewusst geworden war. Hier frommt Lektüre nur, sofern sie nicht reflexiv und kritisch, sondern meditativ ist; sofern sie in der Einstellung des reinen und demütigen Hinhorchens darauf geschieht, was sie Eigenes wecken oder auslösen könnte. Immerhin ist meditatives Studium das einzige, was außer der Begnadung durch spontanen Einfall überhaupt der Offenbarung zuführt. Und nur der erstere Weg ist zu weisen; nur weil es ihn gibt, lohnt es überhaupt zu lehren und zu schreiben. An dieser Stelle nun aber zeigt sich wieder einmal der paradoxale Charakter aller Wirklichkeit: die, welche lehren können, haben selten selbst gelernt. Sie sind fast allesamt katastrophale Menschen, Menschen des Einfalls im Gegensatz zu solchen der Übung gewesen. Von mir gilt dies in besonders hohem Maß: nichts an den Grunderkenntnissen meiner Meditationen verdanke ich anderem als dem spontanen Einbrechen neuer Schichten in mein Bewusstsein. Erst jetzt, nachdem ich weiß, vermag ich von und an anderen zu lernen.

Dies gilt aber nicht allein in bezug auf Vertreter ferner Zeiten, sondern auch in bezug auf moderne. Hätte ich vor den Meditationen Nikolai Berdjajews Philosophie des freien Geistes (Tübingen 1930, J. C. B. Mohr) vorgenommen, ich hätte sie vermutlich ungefördert beiseite gelegt. Nun aber ward ich von diesem Buche tief ergriffen. Ich habe eine Woche lang ganz in ihm gelebt. Und dabei wurde mir vollends klar, was ich schon freilich lange vertreten hatte: dass nur vom ursprünglichen Christentum her eine Neubelebung desselben möglich ist; das einzige noch lebendige ursprüngliche Christentum ist aber das russische. So wie es von seinen tiefen Vertretern bekannt wird, ist es nicht etwa eine Konfession neben der katholischen und protestantischen, sondern das, was beiden als das Ältere und Tiefere zugrunde liegt. Je persönlicher ich selbst die Urgründe erlebe, desto schwerer gewinne ich ein lebendiges Verhältnis zu den modernen so intellektualisierten oder Routine-ausgestalteten und insofern in der Erscheinung festgelegten Äußerungen westlicher Christlichkeit. Denn vom Festausgestalteten her gibt es keine Fortentwicklung mehr — und ich bin tief überzeugt, dass alle ewige Wahrheit in unserer neuen Ära neuer Ausdrucksformen bedarf. Bei Berdjajew nun finde ich den ersten gelungenen Versuch, das Ur-Echte des Christentums in der neuentstehenden Welt zu inkarnieren. Insofern halte ich seine Philosophie der Freiheit — nicht zwar als Theorie, sondern als lebendigen Impuls — für ein epochemachendes Buch; es ist religiös viel wichtiger als alles, was innerhalb Deutschlands für zukunftsweisend gilt, wie Karl Barth, Gogarten, Guardini usw.

Wenn je ein Buch meditativen Lesens wert war, dann ist es dies. Allerdings muss es eben meditativ gelesen werden. Anders angefasst, erscheint es schier hoffnungslos mühsam. Berdjajew wiederholt sich unentwegt, und sicher wäre der Inhalt der 412 Seiten auf höchstens 200 nicht nur übersichtlicher und literarisch besser, sondern auch vollständiger wiederzugeben; denn Intensität, nicht Extension schafft auf dem Gebiet des Sinns, dessen Dimension nach innen zu liegt, die wahre Vollständigkeit. Wer nun aber rein meditativ liest, der empfindet dies literarisch und denkerisch Verfehlte auf die Dauer als Vorzug — wie ja gleiches von allen Litaneien gilt. Und wer sich Berdjajew wirklich verstehend hingibt, der wird eine Schau des christlich geformten Geistes finden, wie es gleich erkenntnistiefe seit den Tagen der großen östlichen Kirchenväter nicht mehr gab. Mich beglückte bei der Lektüre begreiflicherweise wieder besonders die tiefe Übereinstimmung meiner Vision mit der urchristlichen — so anders ich manches deute — in der Tat, wer Einbruch des Geists und Divina Commedia für sich akzeptiert, wird Berdjajew leichter verstehen, als wer von bestimmtem westlich-christlichem Glauben herkommt. Aber jeder wird anderes an dem überreichen Buche finden, was ihn besonders fördert. Jeder kann da Hoffnung für eine Neu-Christianisierung der Welt schöpfen; er wird erkennen, wie viel noch zu tun ist gerade für den christlichen Geist.

Auf besondere Probleme mag ich kaum überhaupt hinweisen. Nur die Betrachtungen über Mystik als reale Überwindung der Kreatürlichkeit (ab S. 282) seien besonderer Beachtung empfohlen; ich kenne keine gegenständlichere Darstellung ihres realen Sinns. Und dann sei noch an ein Allgemeines erinnert: Berdjajews Bedeutung liegt weit weniger in individueller Begabung und persönlicher Originalität als auf dem echten Vertretertum der Ssobornostj, der Gesammeltheit des Geistes im ursprünglichen Konzilverstand.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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