Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920

Bücherschau · Carl Ludwig Schleich, G. F. Nicolai

Von allen modernen Berufstypen bringe ich von jeher den Ärzten das beste Vorurteil entgegen. Mögen diese sich noch so sehr spezialisieren — ihre Aufgabe, den ganzen Menschen zu heilen und am Leben zu erhalten, zwingt sie trotz aller möglichen Absicht dazu, von der Synthesis auszugehen und dieser zuzustreben, alles Besondere somit im Zusammenhang des Lebens zu sehen. Mag deshalb Schopenhauer mit seinem Urteil über die Chemie: ihr Studium gebe wohl eine gute Vorstufe für den Apotheker, nicht aber den Philosophen ab, recht haben — Wilhelm Ostwalds Philosophasterei jedenfalls bestätigt es — die Medizin muss man als gute Vorschule passieren lassen. So finde ich großen Gewinn an der Lektüre Carl Ludwig Schleichs. Dessen Gedankenstil lässt einiges zu wünschen übrig, der seiner Sprache viel: nichts könnte ungerechter sein, als sein Theoretisieren deshalb gering zu achten. Dieses geht nämlich von einer Grundkonzeption aus, die Philosophen von Fach ihrer Vorbildung wegen selten als Voraussetzung zu fassen gelingt: dem Zusammenhang von Körper und Geist. Nun ist gewiss, dass Physis und Psyche intim verwoben sind, mehr noch: dass metaphysisch zwischen beiden überhaupt nicht geschieden werden darf. Gewiss ist ferner, dass der Ausdruck eines Geistigen überall materiell ist, weshalb es ein Missverständnis bedeutet, Professor Schleich seiner Gehirntheorien halber zum Materialisten zu stempeln. Ganz im Gegenteil: er ist einer der reinsten Idealisten im platonischen Sinn, von denen ich wüßte, versucht er doch, in seiner Arbeit über Gedankenmacht und Hysterie, die Ideenlehre des großen Griechen neu zu begründen. Sein Bedeutendes besteht nun aber nicht darin, sondern in dem, was er selbst sein Gehirningenieurtum nennt: er ist der erste, von dem ich wüßte, der es mit Sachkenntnis unternimmt, ohne Materialist zu sein, die geistigen Vorgänge unmittelbar in ihrem Zusammenhang mit physischen zur Darstellung zu bringen. Da Schleich Pionier ist, so versteht sich wohl von selbst, dass manche Konstruktion zu korrigieren sein wird; sowohl von der Physiologie her als von der Erkenntniskritik. Aber grundsätzlich weist er einen Weg, der zu einem äußerst wichtigen Erkenntnisziele führt. Deshalb empfehle ich seine Schriften (besonders Das Ich und die Dämonien, Von der Seele, Gedankenmacht und Hysterie) jedem Unbefangenen zur Meditation. Er wird viel von ihnen lernen, wenn er vor allem den Weg, nicht die Ergebnisse berücksichtigt; er wird vor allem Selbstbeobachtung lernen. Wohl sind Körper und Geist, solange dies Leben reicht, nach jedermanns Wissen unlöslich miteinander verknüpft. Aber wenn wir denken, so gelangen wir gar zu leicht dahin, des Zusammenhangs zu vergessen, sei es, dass wir allzu reine Idealisten oder Materialisten werden. Schleich hat immer beide Seiten unseres Lebens klar im Auge. — Ein anderer Mediziner, den ich mit Vorteil las, ist G. F. Nicolai; ich meine natürlich seine Biologie des Krieges (2 Bände, Zürich, Orell Füssli). Seinem intellektuellen Gehalte nach gehört dieses Werk ohne Zweifel den Wegweiser-Büchern an. Wir stehen in der Tat in der Epoche der Überwindung des Kriegs, wir münden, durch ein furchtbares Zwischenstadium hindurch, in der Tat in einen neuen, dem mittelalterlichen analogen Universalismus ein1, und dessen Geist hat Nicolai in hohem Grade antizipiert. Aber er hat es eben nur als Intellekt getan, und deshalb ist sein Beispiel für den Weisheitsjünger besonders lehrreich. Im Schlussabsatz meines Reisetagebuches steht: Solang es heißen kann, Heroismus oder Weitherzigkeit, sind wir nicht reif zur Universalität. Aus Nicolais Buch spricht eine Instinktunsicherheit, was praktisches Verhalten betrifft, dass man mehr denn je, nach seiner Lektüre, als Hauptaufgabe erkennt, der höchsten Ideale würdige Menschen zu bilden. Ich habe bisher nur einen deutschen Pazifisten gesehen, den ich nicht unter die kriegerischen Patrioten stellen würde: das war einer, der über den Krieg in seiner Seele so selbstverständlich hinaus war, dass auch kein Feldwebel es ihm übelnehmen konnte, als er den Dienst verweigerte. Sobald solche Menschen dominieren, dann, aber nicht früher, wird der Krieg überwunden sein.

1 Vgl. dazu meinen Aufsatz Deutschlands Beruf in der veränderten Welt in Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME