Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

22. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1933

Bücherschau · Thibaudet, Andreas, Figuereido, Caballero, Le Bon

Nur an ihrem lebendigen und erlebten Gegensatze wird dem Menschen eine Gegebenheit ganz deutlich. Im vergangenen Frühjahr speiste ich einmal mit Édouard Herriot, einem Jakobiner klassischer Artung: er wirkte auf mich, den einstigen Geologen, wie das eine authentische lebendige Fossil, das mir begegnet ist. Dann hörte ich auf Belle-Ile-en-mer, jener herrlichen Insel des bretonischen Atlantik, die gewaltigen Fanfaren der Marseillaise als Begleitmusik zur spießbürgerlichsten Angelegenheit, die es in Europa gibt, nämlich einem offiziellen Ministerempfang in der französischen Provinz: nie spürte ich deutlicher, tragischer, wie jeder Elan irgendeinmal als solcher stirbt. Und dann las ich Albert Thibaudets vorbildlich klares Buch Les idées politiques de la France (Paris 1932, Stock). An ihm ward mir vollkommen deutlich, in welch ungeheurem Wandel unsere Welt begriffen ist.

Thibaudets Buch sollte jeder Deutsche gerade heute lesen, nichts, gar nichts von dem, was das heutige Deutschland bewegt, wird er in der Schilderung der bewegenden Kräfte des modernen Frankreich wiederfinden. Thibaudet beginnt mit dem Satz: La politique, ce sont les idées. Das französische Staatsleben beruht auf sociétés de pensée, die den natürlichen Vergesellschaftungsformen ebenso entgegengesetzt sind wie andererseits bloßen Interessengemeinschaften, als welche die verstorbenen deutschen Parteien zum größten Teile waren. Ihr Urbild ist die Freimaurerei.

Die Ideen (dieser sociétés de pensée) sind die der französischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, in den Prinzipien von 1789 verdichtet. Die französische Nation ist eine Missionär-Nation, die eine Heilsbotschaft trägt. So liest man häufig den Ausdruck Evangelium der Menschenrechte. Offiziell ist dieses Evangelium in den Worten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit enthalten. Aber wahrscheinlich würde Gleichheit, Laizität und Vernunft der Wahrheit genauer entsprechen. Doch wie immer es mit der genauen Bestimmtheit revolutionärer Ideen bestellt sei: der Geist der französischen Revolution besteht in der Statuierung eines Solidaritäts- und Funktionsverhältnisses zwischen einem Lande und abstrakten Ideen.

Dieses eine Zitat genügt, um zu zeigen, wie völlig andere Lebensformen jetzt im Entstehen begriffen sind. In Deutschland stellen diese, soweit überhaupt Traditionelles in Frage kommt, Ausmendelungen der Gene dar, die das Reformationszeitalter bestimmten (hier verweise ich warm empfehlend auf ein Buch, aus dem ich viel gelernt habe: Willy Andreas’ Deutschland vor der Reformation, eine Zeitwende, Stuttgart 1932, Deutsche Verlags-Anstalt). Dennoch hüte man sich zu glauben, dass die Lebensformen, die im 18. Jahrhundert geprägt wurden, deswegen historisch tot seien. Der überwiegend größere Teil des Menschen­geschlechts bekehrt sich eben jetzt zu diesen Grundideen, wenn auch oft in Verknüpfung mit Bolschewismus irgendwelcher Art. Die farbigen Völker zumal begeistern sich eben jetzt für jene Menschenrechte, deren Problematik die weiße Menschheit immer weniger bewegt. Das ist so, weil sie jene Menschenrechte nie früher gekannt haben. Erscheint deren Problematik so vielen Europäern heute erledigt, so liegt das daran, dass ihr Begriff, wenn nicht Besitz zur Selbstverständlichkeit geworden ist; jede Bewegung, welche gesiegt hat, ist als Bewegung eben damit am Ende. Es bedeutet einen ungeheuren Fehler, nunmehr zu behaupten, die Welt der Französischen Revolution sei eine falsche Welt gewesen. Ob in absolutem Sinn gelungen oder verfehlt: sie stellt im Unbewussten die lebendige Basis aller Europäer ohne Ausnahme dar! Man vergesse nie den weisen Satz des großen Leibniz, den ich in seiner französischen Urform zitiere, da sich die genau gleiche Nuance im Deutschen nicht wiedergeben lässt:

tous les systèmes sont vrais par ce qu’ils affirment et faux par ce qu’ils nient.

Zu den Revolutionen des 18. Jahrhunderts hat eine langsame und stetige Entwicklung ganz Europas hingeführt, die schon im 13. Jahrhundert begann. Und wer das klassische Buch aller Zeiten über Demokratie liest oder wieder liest, nämlich das in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschriebene Werk de Tocquevilles De la Démocratie en Amérique, der wird erkennen, dass vieles von dem, was jener Denker als selbstverständlich nahe Zukunft ansah, noch heute nicht verwirklicht worden ist, und dass darum unter neuen Namen weitergekämpft wird. So schicksalsmäßig stetig, aber andererseits wiederum naturhaft langsam, schreitet historische Entwicklung durch Aktion und Reaktion hindurch fort. Löst der Nationalsozialismus die soziale Frage, was ich für möglich halte, dann wird er einmal als Erfüller des ursprünglich demokratischen Ideales gelten. Denn gegen Klassenherrschaft kämpfte von vornherein alle europäische Freiheitsbewegung. Zuerst ging es gegen die der obersten Schichten, zuletzt gegen die der untersten. Es gibt einem viel Stoff zu fruchtbarem Denken, dass die marxistische Klassenideologie in den meisten Hinsichten nichts anderes bedeutet als eine Umkehrung der alt-adeligen, wie denn der sowjetrussische Proletenstolz den Standesdünkel beschränkter Träger adeliger Namen buchstäblich nachäfft. Es ist immer sehr viel weniger wirklich neu und einzig, als die jeweils Lebenden ahnen, und viel mehr ist Fortsetzung einer alten, oder aber Verkörperung einer allgemeinen Entwicklung. Letzteres gilt von dem Unstetigkeitsmoment in der Geschichte, welche die meisten Völker heute durchleben. Ich blätterte kürzlich wieder in Amerika. Damals betonte ich die Verwandtschaft von U.S.A. und U.S.S.R.: jetzt fiel mir auf, wie viel von dem in den ersten Kapiteln des zweiten Teils Gesagten auf das neue Deutschland zutrifft, an das ich dazumal (1928) überhaupt nicht dachte. Spätere Jahrhunderte werden wahrscheinlich schwer auseinanderzuhalten wissen, was am bleibenden Ergebnis der heutigen Weltkrise auf Russland, Amerika, Italien oder Deutschland zurückgeht. Dies liegt daran, dass alle Länder gleichmäßig, nur eben jedes auf besondere Art, eine dem Sinne nach identische Mutation durchleben.

Andererseits aber eignen jedem Volkscharakter Konstanten, welche durch alle Veränderung hindurch beharren. Wird diesen von der Staatsmacht nicht gebührend Rechnung getragen, dann rächt sich dieses immer, sei es, dass das Volk verkümmert, oder dass das Artgemäße irgendeinmal vulkanisch und damit zerstörerisch hervorbricht. Über dieses Ewige einer Nation geben zwei neue Werke, die ich in diesem Sommer las, für den Fall Spanien lehrreichen Aufschluss: Las dos Espahas des hochbegabten Portugiesen Fidelino de Figuereido (Santiago de Compostela 1933, Tipografia El Eco) und Genio de España von E. Giménez Caballero (Madrid 1932, ediciones de la Gaceta Literaria).

Figuereido zeigt, dass Spanien ein ursprünglich Vielfältiges und Zerrissenes ist; seine resultierende Grundpolarität hat Cervantes in der Spannung zwischen dem rein geistigen Don Quixote und dem rein erdhaften Sancho Pansa verewigt, und es ist, eben weil es sich hier um eine Resultante handelt, kein Wunder, dass diese beiden Symbole von Jahrhundert zu Jahrhundert an lebendiger Bedeutung stetig zunehmen. Aber unter seinen zwei Spanien versteht Figuereido nicht die nationale Manifestation dieser beiden Archetypen, denn sie beide leben in der Seele jedes Spaniers: er versteht darunter einerseits das polar gespannte und wieder und wieder zerrissene Spanien des Cervantes, andererseits das im vereinheitlichenden Geist Philipps II. verkörperte. Diese Vereinheitlichung entspricht nämlich auch Spaniens Wesen, und eben damit entspricht ihm deren Gewaltsamkeit. Nicht umsonst hat Europa Spanien Jahrhunderte entlang nach dem Bilde Philipps II. beurteilt und war Spanien am größten, solange dessen Geist — den freilich die katholischen Könige schon vorbereitet hatten — herrschte. Andererseits aber konnte Spanien unmöglich dauernd philippinisch bleiben, weil es sich dabei eben um eine Vergewaltigung handelte. Deswegen musste auf kurzlebige Größe Dekadenz folgen, und zuletzt desto größere Zerrissenheit, wie wir solche heute erleben. Heute erfahren ja eben die Partikularismen eine höchst energische Auferstehung, welche schon um 1500 besiegt schienen.

Welches ist nun die Moral dieser Geschichte? — Keine andere als die, dass der Staatsmann mit den lange Jahrhunderte hindurch immer wieder hervorbrechenden Eigentümlichkeiten eines Volks, ob diese nun günstig oder ungünstig sind, als ewigen Gegebenheiten unbedingt zu rechnen hat. Dauerhafte Veränderung, gar Bekehrung von alten Völkern gibt es nicht. Daraus folgt aber wiederum nicht, dass der Staatsmann die Dinge einfach hingehen lassen soll. Philipp II. hat Spanien richtig vergewaltigt. Und doch schuf der einheitliche Rahmen, welchen er oktroyierte, gerade Spaniens individuellsten Persönlichkeiten Existenz- und Entwicklungsmöglichkeit. Nie hätte es jene weithin sichtbare Phalanx großer Männer gegeben, dank denen Spanien lange Zeit hindurch unbestritten das erste Land Europas war, wenn die extrem individualistische Persönlichkeit des Spaniers nicht dank gewaltsamer Unterdrückung kleinerer Partikularismen einen weiten Rahmen gewonnen hätte, in dem sie sich frei bewegen konnte, — einen weiten an Stelle des engen Rahmens des Blut- und Erd-gemäßen Provinzialismus. Hier bietet denn Spanien ein allgemein-menschliches Symbol, weiches es wohl zu meditieren lohnt. Völker sind letztlich weibliche Wesenheiten. Nicht immer bekommt Vergewaltigung ihnen schlecht. Nur muss auf die Vergewaltigung verstehende Behandlung unter restloser Bejahung und Berücksichtigung der Dauereigenschaften folgen. Und daran hat es den Königen aus dem Hause Österreich, vor allem aber den bourbonischen, welche an Stelle der irrationalen Macht- und Glaubenseinheit der katholischen Könige — un Dios, un rey, una espada — die rationale französische Verallgemeinerung setzten, gefehlt.

Das Buch von Giménez Caballero nun ist ein zukunftsweisendes, ja für Spanien ein prophetisches Buch (der echte Prophet ist nämlich nicht der Okkultist, welcher theoretisch vorausweiß, was werden wird, sondern das Sprachrohr des Zeitgeists, welcher durch sein Wort die schicksalsgemäße Zukunft schafft). Ich will hier nicht Stellung nehmen, sondern nur stichwortartig referieren; vielleicht bewegt das wenige Gesagte einen Verleger, eine deutsche Ausgabe von Genio de España zu veranstalten, denn sicher würde sie weitestes Interesse wecken. Für Giménez Caballero sind es die Toten eines Volks, welche sein Leben eigentlich bestimmen. Und der Nerv aller lebendigen Geschichte sei der Krieg, als Opfer im selben Sinn verstanden, wie es der Kreuzestod Christi war, und in der Wirkung identisch mit dem der heiligen Kommunion. In einer tieferen Schicht aber als der, in welcher die Völker als solche ihren ideellen Ort haben, leben zwei Genien: der des Orients und der des Okzidents. Letzterer manifestiert sich wiederum zwiefach: als germanischer Genius, dessen Prinzip die Rasse, und als mittelländischer, dessen Wesen die christliche Brüderlichkeit ist. Als ewige Symbole stehen sich so Kreuz und Hakenkreuz gegenüber. Alles Erbgut in Europa geht auf den germanischen Geist zurück, denn Rasse bedeutet eben Erbwert. Aber sie verkörpert andererseits ein wesentlich nicht universelles, übergreifendes, weil notwendig exklusives Prinzip, weshalb die Germanen wohl die meisten Dynastien im weitesten Verstand des Worts begründet haben, doch im übrigen in anderen Völkern aufgegangen sind oder aber partikularistische Monade verblieben, sofern sie nicht, wie das vor allem die Engländer getan haben, das mediterrane Prinzip mit in sich aufnahmen. Der mediterrane Genius ist wesentlich universell. Ebenso universell ist andererseits derjenige des Ostens. Aber jener unterscheidet sich von diesem darin, dass er den Menschen nicht Gott als Sklaven unterstellt (man gedenke des Islam, aber in materialistischer Umkehrung auch des Bolschewismus; diesem sind Masse und Klasse Gott), sondern zum persönlichen Träger des Göttlichen macht; daher der Mythos vom Gottmenschen. Rom verkörpert nun das ewige Symbol der Vereinigung des östlichen und westlichen Geists und zugleich des mittelländischen und germanischen Prinzips; daher sein wesentlicher Katholizismus (im wahren Sinn des Worts), in welchen der Faschismus, je weiter er sich entwickelt, zwangsläufig immer mehr einmünden werde. Und doch sei nicht Italien das prädestinierte katholische Land der Zukunft, das Land der gottgewollten Herrschaft im römischen Verstand: Spanien sei es auf ewig, wie es dieses schon einmal kurze Zeit lang unter seinen katholischen Königen war. Denn in Spanien lebe die vitalste Mischung germanischen Rassetums, mediterraner individualistischer Universalität und orientalischen Geistes. So wie die größten römischen Kaiser nicht Italiener, sondern Spanier waren, so würde Spanien bald seine ganz große katholische Sendung antreten.

Ob dem so werden wird, das weiß ich natürlich nicht. Der Aufstieg eines Volks hängt immer von der ungefähr gleichzeitigen Geburt einer größeren Anzahl großer Männer ab, und dieser Zufall ist niemals vorauszusehen, schon gar nicht zu erzwingen. Die Größe eines Volks ist ja überhaupt niemals eine Rassenfrage, hier hat Gustave Le Bon ewig recht, insofern er lehrt, hochbegabte Völker unterschieden sich von minderbegabten nur darin, dass jene typischerweise in jeder Generation eine größere Anzahl ungewöhnlicher und insofern aus der Art geschlagener Einzelner hervorbrächten, während es bei vielen sogar recht gut begabten Völkern überhaupt kaum Ausnahmemenschen gibt. Der ganze Wert von Giménez Caballeros Forderung und Prophetie hängt also davon ab, ob Spaniens Mütter demnächst recht viele untypische Söhne gebären… Aber für Nicht-Spanier ist das Buch, als allgemeine Vision, unter allen Umständen bedeutsam. Zumal für Deutsche wegen der sehr scharfsichtigen, wenn auch nicht durchaus richtigen Einordnung Adolf Hitlers in den europäischen Geschichts-Zusammenhang.

Da ich gerade Gustave Le Bon nannte, möchte ich doch daran erinnern, dass dieser Franzose, den ich in meiner Jugend sehr gut gekannt habe, heute als der tiefstblickende Prophet des 19. Jahrhunderts erwiesen ist. Im übrigen ist er der einzige prophetische Geist, welchen Frankreich, dieses wesentlich unprophetische Land, meines Wissens seit der Jungfrau von Orleans hervorgebracht hat. In Frankreich wird Le Bon noch heute nicht ernst genommen, weil er keine einzige typisch französische Tugend besaß. Am frühesten erkannten ihn die Russen: nicht nur alle Revolutionäre, auch alle Regierenden der zaristischen Ära lasen ihn genau. Le Bons entscheidende Bücher sind um die Jahrhundertwende geschrieben worden; das augenscheinlich bedeutendste, La Psychologie du Socialisme, wenn ich mich recht erinnere sogar schon zu Anfang der neunziger Jahre. Wer nun heute Gustave Le Bons Psychologie des joules, Psychologie du Socialisme und Lois psychologiques de I’évolution des peuples (diese Bücher sind, soviel ich weiß, auch deutsch erschienen, doch kenne ich die deutschen Titel nicht) zur Hand nimmt, der kann nur staunen über die Tiefe von Le Bons psychologischem Blick, sowie über die Tatsache, dass dieser Mann schon vor über vierzig Jahren das heute Werdende im großen ganzen vorausgesehen hat.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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