Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

24. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1935

Bücherschau · Katalonien

Hier nun setzt die Tragödie ein. Eine besondere Kultur war in Südspanien und Südfrankreich im Entstehen, welche, voll zur Ausbildung gelangt, möglicherweise zu einer höheren und in der Erkenntnis tiefer verwurzelten geworden wäre als alle heute überlebenden romanischen. Schon war sie im Begriffe, von sich aus neue Völker zu formen. Heute noch verdankt, wie im Spektrum Europas gezeigt ward, Portugal seine Sonderlichkeit innerhalb des Hispanismus zu einem sehr großen Teile ihrem Einfluss1. Doch diese neue Kultur erschien so vielversprechend, dass sie die instinktive Feindschaft zweier Mächte zugleich erweckte: aus Gründen irdischer Macht die des damals sehr nordischen Frankreichs und die der Kirche aus geistlichen Gründen. Über die erstere Feindschaft ist hier nichts weiter zu sagen. Desto bedeutsamer erscheint die zweite. Die Haeresien Kataloniens und der Provence, deren Extremausdruck die der Katharer war und deren Inbegriff in Deutschland zumeist, allerdings sehr ungenau, unter dem Begriff des Albigensertums zusammengefasst wird, erschienen dadurch für die römische Kirche, wie sie sich in den Jahrhunderten germanischer Vorherrschaft entwickelt hatte, untragbar, dass in ihr von der verchristlichten Antike her eine ganz andere Fortentwicklungsreihe zur Geltung kam als in Rom sowohl als in Byzanz. Einerseits erstand dort, und dort allein, die antike Unbefangenheit und deshalb Schönheitskultur2 wieder; daher die gaya scienzia, die cours d’amour, die Cortezia, die ganze in Katalonien und der Provence geborene Kultur der Emotionen und der Sitte. Andererseits fand dort, und dort allein, die Sublimierung der christlichen Liebesidee, die in der hellenischen Kulturwelt (zu der ja Südfrankreich und Südspanien erbmäßig gehörten) von Hause aus mit dem platonischen Eros eine Vermählung eingegangen war, zu einer geistigen Bindung statt, welche die Schöpfung nicht verleugnete, sondern krönte, so wie in Indien die Entsagung die Weltbejahung nicht ausschließt, sondern krönt. Daher einerseits die platonische Liebe, welche der Ritter seiner Dame zu widmen hatte, andererseits die maßlose, alles mögliche Puritanertum weit übersteigernde Strenge der Häupter der Katharer, welche jeden unreinen Kompromiss mit der Welt, wie ihn das sonstige Christentum sanktionierte, ablehnte3.

Endlich lebte in der Provence der unbestechliche Geist rein persönlicher religiös-metaphysischer Realisierung fort, welcher vom Orient her die antike Philosophie vertieft und durchsäuert hatte, so dass dort erkenntnismäßig unhaltbare Theologeme entschlossen fallen gelassen wurden. Daher die Konvergenz mit dem Manichäismus und sogar dem Buddhismus; ich sage Konvergenz, weil alles dafür spricht, dass die fraglichen Erkenntnisse selbständig gewonnen wurden, obschon die Lehren des Ostens im damaligen Europa überall verbreitet waren; kein ursprünglicher Geist übernahm je Fremdes, welcher nicht dem Ausdruck verlieh, was er von sich aus wusste oder ahnte oder meinte. Die biblische Textkritik der Katharer hätte Exegeten des 19. Jahrhunderts Ehre gemacht. Und in mehreren Hinsichten hat die Weltanschauung der katalonisch-provenzalischen Geistespioniere als in Europa einzige mehrere Erkenntnisse der Südamerikanische Meditationen vorweggenommen. Dort allein in unserer ganzen Tradition findet sich die unzurückführbare Vielschichtigkeit des Menschenwesens unbefangen anerkannt —und darauf kommt es an, nicht auf die zeitbedingte Vereinfachung des Erschauten zu einem dualistischen System, welches sich gleichwohl krampfhaft auf den vierten Evangelisten zurückzuführen strebt. Überblickt man nun alle diese Elemente auf einmal, dann wird einem klar, dass hier wirklich eine unvergleichlich reichere Kultur hätte erwachsen können, als es die des siegreichen mittelalterlichen Geistes war. Jedoch sie ward mitsamt ihren tiefstüberzeugten Bekennern von den vereinten Kräften der Franzosenkönige und des Papsttums mit einer Grausamkeit und Konsequenz ausgerottet, die nur mit der des Bolschewismus vergleichbar ist. Dort starb damit der erste Ansatz auf Erden zu der Kultur, von welcher ich alles Zukunftsheil erwarte: der Kultur des radikalen Realismus und der intregalen Offenbarung, wie ich diese zuerst in der Vie Intime vorausbestimmt habe und genau im Buch vom persönlichen Leben vorauszeichnen werde. Damit aber fiel in seiner ersten Jugend zugleich ein Reich, welches ebensogut an Stelle Frankreichs oder jedenfalls als besonderes europäisches Reich zum Heil aller Menschen zur Entfaltung hätte gelangen können.

Seither trat das Kataloniertum historisch in den Hintergrund, nur gelegentlich kurzfristig und in beengter Form wiedererwachend, aber durch mangelnden politischen Sinn immer wieder zurückgeschlagen. Erst heute, im Zeichen einerseits der Selbstbestimmung der Völker, andererseits erneuter Konvergenz mit der Antike, kann es machtvoll als Kulturbewegung (wohl zu unterscheiden von allem völlig aussichtslosen politischen Separatismus!) wiedererstehen und ersteht es faktisch wieder. Von hier aus gewinnen wir denn einen tröstlichen Ausblick auf die Kulturschande des Albigenser­krieges: Gerade dank der Verfolgung und dem Druck haben sich die Elemente kultureller Selbständigkeit in Katalonien erhalten. Gerade weil die ersten grünen Reiser brutal niedergemäht wurden, konnten die Wurzeln überwintern. So entsteht heute eine neue Kulturnation, die mit der zerstörten altprovenzalischen wahrscheinlich mehr Ähnlichkeit aufweisen wird, als das Italien der Renaissance dem antiken Rom und als Byzanz Alt-Hellas ähnelte. Ein neuer Geist ist in Süd-West-Europa im Werden. Und zwar interessanterweise so ziemlich gleichmäßig überall innerhalb der alten Grenzen des katalanischen Kulturkreises: nicht nur das Wiedererwachen Portugals seit Salazar gehört nämlich hierher, sondern auch die immer größere Rolle, welche Südfranzosen im Gegensatz zur ganzen bisherigen Geschichte in Frankreich spielen. Ein sehr kluger Franzose sagte vorigen Herbst, er persönlich sei nicht sicher, ob es ein Frankreich im alten Verstand in hundert Jahren noch geben würde: vielleicht würde sich das Territorium dann zwischen Groß-Katalonien, Groß-Elsaß-Lothringen und einem Nordstaat, welcher entweder in Belgien oder in England seine Wurzeln haben würde, verteilen… Allzu vieles ist möglich. Da Europa nun einmal eine spirituelle und kulturelle Einheit ist, welche als Ganzes den Teilen vorangeht, so mag übertriebener Nationalismus, indem er Europa sprengt, damit zugleich Europas Einzelvölker historisch vernichten, denn kulturell ist kein einziges autark; jedes fordert die meisten übrigen zu seiner Ergänzung. Was ich vor bald zehn Jahren im Spektrum Europas ohne praktische Zielsetzung ausgeführt habe, hat neuerdings ein glänzender italienischer Schriftsteller, F. T. L. Gualtierotti in seinen Ore decisive dell’ Europa, Paneuropa? Mitteleuropa? Finis Europae? (Milano 1935, Ulrico Hoepli), so scharfsinnig auf die heutige Krise nutzangewandt, dass ich dringend raten möchte, dieses nicht umfangreiche Buch möglichst bald ins Deutsche zu übersetzen.

Zum Schluss dieser historischen Betrachtungen möchte ich noch das folgende Allgemeine zum Probleme der Geschichtsschreibung sagen. Meiner Auffassung nach ist die Hebung von Vergangenem ins Gegenwartsbewusstsein vom Standpunkt des Lebens und dessen tieferen Sinns-Wissenschaft als solche hat nie mehr als Nützlichkeitswert — genau nur insoweit fruchtbar, als es zur Polarisierung und damit Steigerung und Befruchtung des Eigenen dient. Bloß zu wissen was einmal war, ist vom Standpunkt des Lebens völlig wertlos, denn nur sofern das Vergangene fortlebt, ist es von lebendiger Bedeutung, und wo solches Fortleben unbewusst noch statthat, kann es durch aktenmäßige Beschäftigung mit Verstorbenem allenfalls beeinträchtigt werden; wogegen das wirklich Tote auf keine Weise ins Leben zurückzubeziehen ist. Dieser Satz stellt die oft betonte Wahrheit, dass aus der Geschichte nichts oder wenig zu lernen sei, richtig; richtig stellt er, und wo Nietzsche recht geurteilt hat, ergänzt er zugleich dessen Betrachtungen über Nutzen und Nachteil der Historie. Wie ungeheuer verderblich historisches Interesse wirken kann, wurde mir im vergangenen Winter in Mallorca besonders klar. Diese Insel bewohnt ein eigentümlicher, schwerer, erdgebundener Menschenschlag, zum erheblichen Teil altgriechischen Bluts, doch der Hauptmasse nach dem Phäakenmäßigen zu typisiert. Wie bei allen sehr alten Völkern, welche als solche am gegenwärtigen Geschichtsprozess nicht teilnehmen — denn an Individuen hat Mallorca wieder und wieder bedeutende hervorgebracht, die jedoch immer nach Groß-Spanien abwanderten — behindert der Bann der Vergangenheit die freie Initiative.

In meinem Vortrag in Palma über die Zukunft der Mittelmeerkultur hatte ich, indirekt darauf hinweisend, einmal ausgerufen, nicht darauf, dass Ramon Lull aus Mallorca stammte, käme es in dieser Weltwende an, sondern einzig darauf, was die heutigen Mallorquiner an Geist aufbrächten; Ramon Lull sei nur insofern noch für Mallorca von Bedeutung, als sein Geist im heutigen Denken und Handeln fortwirke. Viele Geistige des Landes nun hörten an den schöpferischen Zukunftsaussichten, die ich für die Mittelmeerkultur hingezeichnet hatte, völlig vorbei und hakten leidenschaftlich-einseitig beim oben wiedergegebenen Satze ein, welchen sie überdies gänzlich missverstanden: ich hätte Ramon Lull Nicht-Achtung bewiesen; er würde doch aufs genaueste studiert und archivarisch bearbeitet, es gäbe eine Lull-Gesellschaft etc. Von einem Lullianer wurde die so herrlich zusammenklingende Tagung von Palma fast gesprengt, indem dieser, wo ich ihn zum Eingreifen zum Generalthema aufforderte, den Sinn der Veranstaltung völlig verkennend, eine Geschichte der Lull-Forschung, welche ganz aus dem Rahmen herausfiel, pedantisch vorzutragen begann und mich aufforderte, zu dieser Geschichte Stellung zu nehmen. Darauf folgte eine endlose Polemik in der Presse, durch welche ich selbst unwillkürlich in ferne Vergangenheit zurückgezogen ward: es wurde meine innere Verwandtschaft mit Lull und gar Maimonides untersucht. Dass dergleichen völlig gleichgültig ist, dämmerte diesen Antiquarnaturen nicht einmal.

1 Bei dieser Gelegenheit mache ich auf ein interessantes neues Buch von Osório de Oliveira aufmerksam, Psicologia de Portugal, Lisboa 1934, edicoes Descobrimento.
2 Darüber, dass das Ideal der Schönheit ganz andere irdische Wurzeln hat als das der Wahrheit, steht alles Nähere in Kapitel Delicadeza meines Hauptwerks, der Südamerikanischen Meditationen.
3 Es gibt jetzt ein Buch, welches die ganze Tragödie dieser im Keime erstickten großen europäischen Kultur gemeinverständlich und überaus eindrucksvoll darstellt: Otto Rahns Kreuzzug gegen den Gral (Freiburg im Breisgau, Urban-Verlag; französische Ausgabe: Librairie Stock, Paris; letztere ist, sehr zu ihrem Vorteil, gekürzt und konzentriert). Erschütternd tritt dort zutage, wie seither für allgemein christlich gehaltenes Geistesgut, nämlich die Tradition vom Gral, in Wahrheit ganz und gar einer vom siegreichen römischen Christentum verworfenen Sekte angehört. Und besonders erschütternd geht aus Rahns Darstellung hervor, wie sehr gerade geistiger Fanatismus das Menschentier zur Bestie macht. Im übrigen ist es das erste gute gemeinverständliche Buch über den Ursprung des Minnesangs, die Frühperiode des europäischen Rittertums und die Quellen vieler der ältesten Sagen. Die Schilderungen der (wahrhaftig noch vorhandenen!) Gralsburg und der ganzen romantischen Höhlengebiete, in denen sich die Ketzer jahrhundertelang gegen Übermacht hielten, werden gewiss viele zu Reisen nach den südlichen Pyrenäen bewegen.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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