Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

24. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1935

Bücherschau · Mirko Jelusich, Robert Graves, Carl J. Burckhardt

Was ich hier an besonders malerischem Beispiel zeige, gilt nun von aller Geschichtsbeflissenheit, welche gelehrten Charakter trägt. Welcher Satz mich denn zur direkten Fortsetzung der allgemeinen Betrachtungen dieses Abschnittes dahin führt, dass Geschichtsschreibung nur als Kunst von lebendigem Werte ist. Quellenforschung und Tatsachenfeststellung gebührend in Ehren! Doch das Gebührende besteht hier eben darin, dass man solche Forschung nur als Zusammentragung, Vorbereitung und Verarbeitung von Material für den künftigen Künstler wertet. Insofern nun steht selbst ein an sich ungenauer geschichtlicher Roman, welcher Vergangenheit als Leben in die Gegenwart hineinbeschwört, über jeder fleißigen und korrekten Gelehrtenarbeit; ich persönlich habe sogar von amerikanisch aufgezogenen historischen Lichtspielen mehr gehabt als je von irgendeiner Chronik: denn das echte Bildhafte als solches sagt mehr als alle abstrakte Feststellung. Selbstverständlich rede ich hiermit keinen schlechten historischen Romanen das Wort. Der Riesenerfolg der Monographien Mirko Jelusich’ z. B. ist überhaupt nicht zu rechtfertigen und speziell in Deutschland wohl nur dadurch zu erklären, dass bei Jelusich Männer wie Cromwell und Caesar mit nationalsozialistischen Schlagworten um sich werfen. Seinen Schilderungen fehlt es an jeder lebendigen Plastik, das Einzigartige der jeweiligen historischen Situationen ist überhaupt nicht herausgearbeitet; keine historische Persönlichkeit steht glaubwürdig da. Ich stelle Jelusich unter Emil Ludwig (es ist übrigens wohl vielfach das gleiche, jedenfalls aber ein gleichwertiges Publikum, das seinerzeit Ludwig bewunderte, welches heute Jelusich anschwärmt), so wenig ich von letzterem halte. Wohl schafft Emil Ludwig von persönlichen Vorurteilen her ein Mosaikwerk aus richtigen Zitaten, die, über wen immer er schreibe, im Endergebnis doch nur seinen eigenen Geist und seine eigene Seele spiegeln1. Immerhin ist er ein geschickter retrospektiver Journalist, welcher viel wichtige und sonst schwer zugängliche Informationen gibt; man denke zumal an seinen Mussolini und seinen Schliemann. Sieht man also von des Verfassers eigenem Geiste ab, dann kann man von Emil Ludwig etwas haben. Aus Jelusich ist so wenig zu gewinnen, als der reiche Gegenstand überhaupt erlaubt. Dies liegt eben daran, dass Jelusich in vernichtend geringem Grade Dichter, oder, besser gesagt, ein Dichter allzuniedrigen Ranges ist.

Wie viel besser ist demgegenüber Robert Graves I, Claudius! (Verlag Arthur Barkes, London). Hier wird, gewiss in anglisierter Form — doch dies gilt auch von Bernard Shaw, ja von Shakespeare! — wirkliches Römertum erneut zum Leben erweckt. Dieses Buch ist insofern besser noch als die durchaus nicht zu unterschätzende Leistung Guglielmo Ferreros, denn dieser ist eben nicht genügend Dichter; bei aller Gelehrsamkeit ist er der Anlage nach Feuilletonist. — Aus obigen Betrachtungen folgt denn, wenn wir uns jetzt von der Niederung in einem Sprung zur Höhe begeben, dies: Alle ganz großen Historiker waren nicht in zweiter, sondern gerade in erster Linie ganz große Künstler. Bei Oswald Spengler, welchen Eduard Meyer mit Recht als große Historikerbegabung feiert (die sich nur leider, würde ich hinzufügen, prophetisch eingestellt hat), welcher auch ein Künstler, wenn auch kein ganz großer ist, bedeutet in diesem Sinne das nur Subjektive vielfach das Ernstzunehmendste, denn Spengler hat trotz seiner Verallgemeinerungssucht einen wirklichen Blick für das Einmalige. Wie unvergleichlich mehr als auf alles Exakte es bei der Geschichtsbehandlung auf das Künstlerische ankommt, sobald Geschichte in die Zukunft hinaus wirken soll, beweisen Chamberlains Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. So vieles daran sicherlich ganz falsch ist — Chamberlains künstlerische Vision macht heute Geschichte, und wie. Die meisten Staatsmänner jedoch, die sich auf die Geschichte berufen oder mit deren Daten arbeiteten, waren bewusste Geschichtsfälscher: ohne solche künstlerische Vereinfachung hätten sie die erstrebte Wirkung auf die öffentliche Meinung nicht erzielt. Nun gibt es hier wie überall verschiedenwertige Gleichgewichtszustände zwischen Dichtung und Wahrheit. Zeitliche Wirkungen lassen sich wohl allemal am sichersten durch einseitige Entstellung der Wahrheit erzielen. Bleibende Bedeutung jedoch behalten einzig Darstellungen, in welchem die künstlerische Einbildungskraft im Sinne von Goethes Phantasie für die Wahrheit des Realen schafft: denn die dermalige Kraft und Wirkung geschichtlicher Persönlichkeit beruhte auf ihrer realen Substanz, und nur wer diese ins Leben zurückbeschwört, kann das Verstorbene für das Lebendige neu fruchtbar machen.

Es gibt natürlich so viele mögliche Stile für solches Fruchtbarmachen, als es mögliche echte Geschichtsdichter gibt. Jüngst ist nun einer im deutschen Sprachgebiet auf den Plan getreten, welcher meiner Überzeugung nach als echter Stil-Neuerer fortleben wird: der Baseler Carl J. Burckhardt mit seinem Richelieu (München 1935, Georg Callwey Verlag; es liegt bisher nur der erste Band der Arbeit vor, der aber schon ein künstlerisch vollständiges Ganzes darstellt). Wahrscheinlich hätte Burckhardt dieses außerordentliche, jedem einzelnen persönlich wertvolle Erkenntnis vermittelnde und Wege weisende Buch zu keiner anderen Zeit schreiben können: es ist die erlebte Weltrevolution, vor allem in ihrer deutschen Abwandlung, welche den Blickpunkt schafft für das Verstehen jener anderen großen Krise, aus welcher das moderne Frankreich erwuchs. Immer wieder spürt der Leser, indem er das Ferne betrachtet, lebendiges Echo von Selbsterlebtem her. Doch in ähnlichem Verstande waren alle bedeutenden Geistesleistungen Gelegenheitsgedichte; alles Leben ist nur unter einzigartiger Konstellation in seiner gegebenen Einzigartigkeit möglich. Noch keine wahrhaft tiefe Religion und Philosophie entstand zu anderer als zu katastrophaler Zeit. Die Eingeweide des Menschen sind analphabetisch; nichts, was sie nicht tatsächlich aufrührt, beeindruckt sie — alle tiefen Erlebnisse aber stammen nicht allein aus der Tiefe in der Richtung des Geists, sondern auch der Erde; dass dem so sein muss, leuchtet aus der einen Erwägung ein, dass es für den reinen Geist keine Schwere, kein Leiden, keinen Schmerz gibt. Es scheint dem Menschen unmöglich zu sein, sich vorzustellen, was er aus Erfahrung überhaupt nicht kennt. Die ungeheure Wirksamkeit der Greuelpropaganda des Weltkriegs hatte darin ihren Grund, dass die bloße Möglichkeit der Schrecken des Krieges dem europäischen Bewusstsein entschwunden war; demgegenüber werden heute Millionen von den schlimmsten Greuelnachrichten überhaupt nicht mehr beeindruckt und sind, umgekehrt, skeptisch gegenüber der Möglichkeit jeder besseren Welt.

In diesem Sinn nun war offenbar das Erlebnis der Weltrevolution notwendig, um Burckhardts Richelieu möglich zu machen. Carl Burckhardt weiß erlebnismäßig, was Unterdrückung, Verfolgung, Konfiskation und Ausrottungskämpfe, was religiöser Fanatismus und skrupelloser Machiavellismus bedeuten. So finden wir bei ihm, so sehr er Richelieus ausschließlichen Sinn für das Staatswohl als solches bejaht, nichts von dem mir von jeher so widerwärtigen Zynismus, welcher zumal Treitschke eignet, wenn er vom Ernst des Krieges redet oder die Notwendigkeit in der Politik erklärt. Alles stellt Burckhardt in solcher Tonalität dar, wie es Zeitgenossen hätten empfinden können. Damit ist es ihm denn möglich geworden, auf dem erlebten Hintergrunde dieser unserer Zeit die ganze Problematik von und um Richelieu und damit seiner ganzen Zeit mit einer klaren Plastik ins Leben zurückzubeschwören, die an französische Leistung gemahnen würde, wenn nicht jede Betrachtung und Formulierung andererseits die tiefe Schwerblütigkeit, ja Schwermut eines Deutschen darstellte, der gewiss nicht aus Zufall — man vergleiche die wahrhaft großartigen Seiten des Buches über diesen besonderen Punkt — den problematischen Wallenstein als eine der repräsentativsten deutschen Typen richtig verstanden hat, der sogar heute noch im deutschen Unbewussten eine weit größere Rolle spiele als der klarnordische und insofern so völlig undeutsche Gustav Adolf. Stellenweise erhebt sich Burckhardts Darstellung zu hohem dichterischen Schwung. Überall aber finden sich zusammenfassende Einzelbetrachtungen eingestreut, die einem in wenigen Sätzen mehr vom Wesen des behandelten Zeitalters, ja von ewig-Menschlichem erleben lassen, als Bände trockener Denkarbeit bewirken könnten. Burckhardts Buch habe ich recht eigentlich meditiert. An ihm ward mir vollends eindeutig klar, warum der soviel wertvollere Renaissance-Mensch von engem Fanatismus historisch erledigt werden musste; wie sehr jeder Neuerer zerstören muss, wie schwer es in einer Wendezeit für jeden Mächtigen ist, inmitten der Verbrechen, die er begehen muss, das schlechte Gewissen zu bewahren, welches allein ihn hindert, zum Verbrecher zu werden, wie dies die meisten Condottieri wesentlich geworden sind. Dann aber wurde mir auch vollends klar, wie zwangsläufig, vom Willen der Führer letztlich unabhängig, alle historische Bewegung ist; wie absolut die Außenpolitik das Primat hat gegenüber der Innenpolitik und wie völlig verkehrt es ist, irgendein politisches Gebiet auf Geist zurückzuführen. Als politisches Wesen ist der Mensch ein Tier, und zwar von allen das bösartigste.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch noch auf das meines Wissens einzige wirklich gute Memoirenwerk hinweisen, das nach dem Weltkriege erschienen ist: die Erinnerungen und Denkwürdigkeiten des Grafen Hugo Lerchenfeld, welcher von frühester Kindheit an (er wurde 1843 auf der bayrischen Gesandtschaft in Berlin geboren) bis 1925 Gelegenheit hatte, das politische Geschehen in Deutschland aus nächster Nähe zu betrachten (Berlin 1934, Verlag Mittler und Sohn). Ich sage bei dieser Gelegenheit, weil Memoiren die Art Dichtung darstellen, welche am leichtesten gelingen sollte. Alle lebendige Erinnerung ist Verdichtung; vom Subjekte ausgehend, auf dieses das Geschehen bewusst zurückbeziehend, macht ein Erinnerungswerk bei nur einigermaßen guter Begabung des Schreibers alles Geschehen zum Erlebnis. Im Zeitalter höchster europäischer Bildung, von 1650 bis 1850 etwa, stellten gute Memoiren denn auch die Regel und nicht die Ausnahme dar. Wie traurig es demgegenüber mit der Kultur der letzten Generationen bestellt ist, beweist nichts schlagender als das unübertroffen niedrige Niveau von deren Erinnerungsleistung (was ich über die klügsten Memoirenschreiber der letzten Zeit, Paléologue und Fürst Bülow denke, steht in Heft 20 dieser Mitteilungen, S. 10 aufgezeichnet; ich erinnere hier auch an meine Betrachtungen über das Problem der Memoiren der Nachkriegszeit, welche die Bücherschau des elften Heftes dieser Mitteilungen [S. 58 ff.] vom Jahre 1926 enthalten). Dort findet man nur ganz selten lebendiges Erleben ausgedrückt; desto häufiger jedoch, wo nicht Verlogenheit und ungeschickte Verteidigung, eine Trockenheit der Darstellung, die nur in wenigen Fällen nicht Seelendürftigkeit beweist; überdies aber einen in der ganzen Geschichte nie dagewesenen literarischen Verantwortungsmangel: wo jeder Memoirenschreiber vormals Jahrzehnte an seinen Erinnerungen feilte, nimmt einer heute oft nur vier Wochen Urlaub und diktiert derweil zwei Bände herunter. Graf Lerchenfeld nun war kein großer Geist; er war jedoch ein ungewöhnlich unbefangen, interessiert und warm Erlebender. Dabei war er ein echter Edelmann. So hat er über die Zeit zwischen 1850 und heute als meines Wissens seit Bismarck einziger wesentlich vornehmer Mann geschrieben. Besonders wohl tut das Kapitel über den Eisernen Kanzler. Ganz einerlei, ob das Bild, welches Lerchenfeld von Bismarck gibt, ganz richtig gesehen sei oder nicht: Lerchenfeld schreibt als Edelmann über einen anderen Edelmann, aus einem echten Gleichberechtigungsgefühl heraus, generös und kritisch zugleich. So evoziert er Bismarcks Lebendiges besser als bisher jeder bestallte Bismarckbiograph, von denen bisher alle, soweit mein Wissen reicht, durch Heroenkult, Neigung zur Vergötzung, mangelnden Sinn für die Natürlichkeit übernormaler Wirklichkeit oder theoretisches Vorurteil am unbefangenen Sehen verhindert worden sind.

1
Über Emil Ludwigs Bismarck (zweite Fassung) schrieb ich 1927 im dreizehnten Heft des Weg zur Vollendung S. 40 das Folgende, woran, da das Heft vergriffen ist, vielleicht zu erinnern lohnt:
Ludwig zeichnet Bismarck wesentlich mit dessen eigenen Worten. Und deren Stil gibt den wahren Charakter des Schreibers so unzweideutig wieder, überdies steht Bismarcks Mythos schon so fest, dass das gelegentlich Tendenziöse an der Auswahl das Gesamtbild für den, der überhaupt verstehensfällig ist, kaum verzerrt. Nun aber, im Rahmen dieser granitenen Mauern, der kommentierende und zensierende Ludwig! Kaum je las ich ähnlich Enthüllendes. Nur ganz wenige Stellen sind mir begegnet, wo Ludwigs Verständnis gegenüber Bismarck nicht ganz versagt. Noch nie fand ich eine bessere Illustration der These von Grenzen der Menschenkenntnis (in Wiedergeburt), dass jeder nur Niveaugleiches verstehen kann. Ich traute meinen Sinnen nicht, da ich las, wie Ludwig bei Bismarck Stolz und Ehrgeiz in Gegensatz setzt, wie er unfähig erscheint, zu verstehen, dass ein Mensch höheren Niveaus seinen Gefühlen nie in dem Sinne verfällt wie ein kleiner, wie er bei Bismarck alles auf Ressentiment zurückführt. Ist Ludwig denn noch nie ein freier Herrenmensch begegnet? Ist ihm nie aufgefallen, dass kleine Leute allein jemals Gemüt hatten und dass jeder, schlechthin jeder, der einen ähnlichen Überblick besaß, auf Bismarcksche Weise zynisch war? Ist ihm gar nicht aufgegangen, dass alles Einzelne bei Bismarck dank dem Niveau der Persönlichkeit einen besonderen Sinn erhält?
Weiß er z. B. nicht, dass man hassen kann auch ohne Ressentiment, aus innerem Überströmen, so wie man rein ausströmend lieben kann? Unter Juden Ludwigscher Artung ist das wahrscheinlich wirklich nicht möglich, und fern liegt mir, darüber zu spotten: ein wahrhaft tragisches Geschick hat dies verschuldet. — Ich bin glücklich, dass dieses Buch geschrieben worden ist. Von dem ungeheuren Hintergrunde Bismarckscher Größe hebt sich die Kleinheit der von Natur und Schicksal Enterbten, und hier ist Emil Ludwig Sinnbild für die meisten Deutschen, die seine Bücher goutieren, unmittelbar ergreifend ab.

Obige Betrachtung begann mit dem Satz: Seit der Niederschrift obiger Zeilen (die sich allgemein mit dem Problem des Judentums befassten, H. K. 1935) habe ich nun die Selbstdarstellung eines entwurzelten Juden zu Gesicht bekommen, die ich als solche außerordentlich interessant finde und dringend empfehle: sie ist von Emil Ludwig und führt den etwas irreführenden Titel Bismarck (Berlin 1926, Ernst Rowohlt Verlag). — Als positives Gegenbild zu Emil Ludwigs schlechtem Subjektivismus möchte ich bei dieser Gelegenheit Rom Landaus Paderewski nennen (London 1934, Ivor Nicholsen and Watson). Diese Evokation eines noch lebenden großen Mannes, welcher, nur als Musiker bekannt, an seinem Lebensabend ein Reich neu gründete, ja beinahe ein Volkstum neuerweckte, um dann von den von ihm Befreiten verstoßen zu werden in die Einsamkeit eines Virtuosen a. D. zurück, gehört zu den künstlerisch bedeutendsten Erscheinungen dieser Literaturgattung. Rom Landau verschwindet nicht in seinem Gegenstand, versteckt sich auch nicht hinter ihm. Er bleibt durchaus als unbefangener und in bestem Sinne kritischer Betrachter dem Leser gegenwärtig. Nichts desto weniger steht Paderewski ähnlich leibhaftig und lebendig als er selbst in diesem Buche vor dem Leser da, wie der Karl V. des Prado im Spiegel von Tizians Gemälde.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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