Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

26. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1937

Bücherschau · Andrei Russinow · Große Täuschung

Endlich ist ein Russland-Buch erschienen, das die schauerlichste und seit langem schon charakteristischste Seite der russischen Tragödie wahrheitsgetreu beschreibt: das ist Andrei Russinow’s Große Täuschung, Aufzeichnungen aus Russland, die der G.P.U. entgangen sind (Braunschweig 1936, Hellmuth Wolbmanns Verlagsbuchhandlung). Dieses Buch behandelt nämlich das Leben der ans Nördliche Eismeer Verschickten, dort zu Zwangsarbeit Verurteilten und nur in seltenen Fällen nicht bald eines elenden Todes sterbenden Opfer der G.P.U.. Die immer hart- und kaltherziger werdende Welt bewundert heute zumeist ja nur, was dank der neuen Zwangsarbeits-Methode an Pionierarbeit geleistet wird; der Kanal z. B., welcher Ostsee und Eismeer verbindet, ist wirklich eine ungeheure Leistung. Aber wann ward der Mensch je auch nur annähernd so gewissenlos als billiges und leicht zu ersetzendes Material behandelt und misshandelt, — so furchtbar, wie noch kein toter Stoff jemals misshandelt ward? Anlässlich der Studie über den Condottiere Roman von Ungern-Sternberg, die mein Erinnerungsbuch Zeitgenossen enthalten wird, bedachte ich manches wieder, was ich an Grausamkeit aus der Geschichte weiß. Ich konstatierte dabei, dass die Methoden der Inquisition, der mittelalterlichen Justiz und der ägyptischen Fron milde waren gegenüber den neuerdings geübten, und gelangte dann zuletzt zum folgenden entsetzlichen Schluss: wenn menschliches Gefühl aufhört, dann muss die Sklaverei wieder eingeführt werden. Werden nämlich die Menschen, die man ausnutzt, besessen, dann erwacht unwillkürlich der Besitztrieb, der Erhaltung fordert, und dieser weckt das Verantwortungsgefühl. Ist dieses aber einmal im Spiel, dann sind möglicher Unmenschlichkeit von vornherein Grenzen gesetzt. Wie Alexander II. von Russland die Leibeigenschaft aufhob, da ging es den Bauern — bei der Unzulänglichkeit der praktischen Maßnahmen zu ihrer Sicherung — bald nicht besser, sondern schlechter: die Herren fühlten keine Verantwortung mehr. Gleichsinnig gab es in Amerikas Sklavenstaaten im allgemeinen weniger Ausbeutung als im Norden, wo der Arbeiter nicht besessen und darum kaltherzig auf die Straße gesetzt wurde, sobald nichts für ihn zu tun war. Dementsprechend ist die Sklavenbefreiung wohl überall mehr aus materiellem Interesse denn aus Menschlichkeit erfolgt. So wurden die Kriegsgefangenen von jeher nur dort nicht geschlachtet oder durch mangelnde Fürsorge zugrunde gerichtet, wo ihr Erwerb als Kapitalgewinn betrachtet wurde. Nun war freilich die Sklavenbefreiung als Ausdruck gesteigerter Achtung vor Menschenleben und -würde ein absoluter Fortschritt. Aber wie, wenn diese Achtung aufhört? Dann bedeutete, so schrecklich es klingt, Wiedereinführung der Sklaverei den wahrscheinlich gangbarsten Weg zur Menschlichkeit zurück.

Heute sind wir so weit. Die kapitalistischen Ausbeutungsmethoden haben langsam überall das christliche Gewissen abgestumpft. Und Sowjetrussland zieht nur die letzte Konsequenzen aus dem, was logischerweise überall geschehen könnte, wo das Menschenleben nicht geachtet und die Persönlichkeit nicht als letzte Instanz anerkannt wird. Mehr will ich über diesen Punkt nicht sagen: man lese Russinows Buch und meditiere es. Seine Schilderungen sind nüchtern und ruhig; es wird beinahe zu wenig Farbe aufgetragen. Und den Akzent legt der Verfasser charakteristischerweise auf das seelisch und geistig Schöne, was Druck und Qual zutage fördern. Sicher liegen die Dinge heute dort, wo die Menschlichkeit verendet und die Seele verleugnet wird, so, dass aus dem größten Elend heraus Neues, Höheres geboren wird. Aber ist es nicht entsetzlich, dass wir dahin gekommen sind? Dass es als Fortschritt empfunden werden müsste, wenn die Sklaverei wieder eingeführt würde? — Wehe denen, welche moralische Vogel-Strauß-Politik treiben! Sie sind härter zu beurteilen als die grausamsten Folterknechte, und gibt es eine Hölle, so kommen sie alle dahin; wenigstens hoffe ich es. Ich las jüngst wieder, was ich vor Jahren über die Erinnerungen der Sansons, der Henker von Paris, in diesen Mitteilungen schrieb. Da behauptete ein Sanson einmal, der Henker sei gegenüber dem König die ehrwürdigere Person, denn dieser unterzeichne Todesurteile nur, während jener sie auszuführen hätte und dies für einen honnête homme gar schwer wäre. Es ist in der Tat schwer zu glauben, dass ein Henker von dem, was er zu leisten hat, gar nicht ergriffen würde, während jener kühlpfeifend das Leiden anderer ignorieren und sich dabei noch gut vorkommen kann…

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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