Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939

Bücherschau · Edgar Dacqué · Das verlorene Paradies

In Heft 19 dieser Mitteilungen schrieb ich über Edgar Dacqués Erdzeitalter das folgende:

Es ist eines der gediegensten populärwissenschaftlichen Werke, die ich je gelesen. Und es ist vor allem Dacqués weitaus bestes Buch. Am anregendsten ist ja gewiss sein bekanntestes Werk Urwelt, Sage und Menschheit. Vieles Unwahrscheinliche, das es enthält, wird sich gewiss als richtig erahnt erweisen. Aber eben weil es ein Buch der Ahnung ist, könnte es nur gut sein, sofern ein wesentlich Ahnender es geschrieben hätte, d. h. ein Mensch, dem das nicht ganz Bestimmte, schwer Bestimmbare natürlicher Wirkungskreis ist. Dies galt von den größten Sehern und Dichtern. Von Dacqué gilt es nicht. Dies beweisen seine späteren rein naturphilosophischen Schriften Natur und Seele und Leben als Symbol nur zu sehr; das sind, geologisch gesprochen, durchaus Produkte missglückter Anpassung. Hier ist Dacqué nur ein deutscher Romantiker unter anderen, d. h. ein Mensch, der mit der Sehnsucht nach einer Sache diese schon zu haben wähnt; es fehlt die wahre innere Entsprechung zwischen Wollen und Gegenstand; so muss Konstruktion, Vorurteil und Vergangenheitskult das Wirklichkeitserlebnis ersetzen. Die ganze deutsche Seelen-Wiedererweckungs-Literatur aus dem Geist der Sehnsucht heraus, zu deren Vertretern Dacqué in den beiden letztgenannten Schriften mit gehört, wird an dem Tag endgültig im Papierkorb der Geschichte liegenbleiben, wo das gemeinte Problem aus unmittelbarem Wirklichkeitsbewusstsein heraus erfasst wird.
Urwelt, Sage und Menschheit gehört zum Teil auch in diese Kategorie hinein. Doch sein Wesentlichstes ist die Deutung von wissenschaftlich Erschlossenem; dazu ist Dacqué berufen; deswegen besteht hier innere Entsprechung zwischen Autor und Gegenstand und die Anregung wird so oder anders positiv fortwirken. Aber der echte, der eigentliche Dacqué ist doch erst der der Erdzeitalter. Dieses Buch ist hervorragend von Anfang bis zum Schluss. Denn hier erst spricht Dacqué aus seinem realen Erlebenszentrum heraus. Deshalb gewinnen seine naturphilosophischen Theorien hier einen ganz anderen, weit positiveren Aspekt: sie erscheinen richtig eingestellt im Zusammenhang von Dacqués psychischem Organismus, so dass das wenige in diesem Buch darüber Gesagte bedeutender wirkt als alle Ausführung in anderen Werken. Wenn es doch gelänge, das Vorurteil zugunsten des Ausgeführten zu töten! Gut ist immer das, und das allein, was unmittelbar-reales Erleben ausdrückt. Aber solches kann immer nur engen Raum und kurze Zeit betreffen; nur ganz selten ist deshalb Abrundung nicht künstliche Konstruktion. Letztlich gibt es nur eine nicht künstliche Abrundung: das ist die des Gedichts. Aber dieses will auch nie mehr als Augenblickliches fassen, ohne Hintergedanken noch Vorurteil.

Seither ist Dacqué gleichzeitig in den zwei Richtungen, welche das obige Zitat andeutend bestimmt, sehr viel weiter gegangen, und zwar in seinem letzten Werk Das verlorene Paradies (München 1938, R. Oldenbourg Verlag). Das ist ein so erstaunliches und zugleich so symptomatisches Buch, dass es eine Betrachtung an erster Stelle der diesjährigen Bücherschau wohl verdient. Denn hier hat Dacqué seinen eigenen Ort mittels der zwei oben Richtungen gehießenen Koordinaten so genau bestimmt, dass durch dasselbe hindurch ganz große und jedermann angehende Zusammenhänge sichtbar werden. Denn heute vertritt Dacqué eine ganze Schicht.

Jeder Wissenschaftler ist insofern Scholastiker, als er gegebene Voraussetzungen und deren geglaubten Zusammenhang einfach hinnimmt und dann darüber systematisierend und Lücken logisch ausfüllend reflektiert. Dass die Voraussetzungen und Zusammenhänge im Falle der Naturwissenschaften äußere Gegebenheiten sind, im Falle des scholastischen Denkens hingegen Setzungen des Intellekts, bedingt keinen methodischen Unterschied, denn auch der Scholastik bedeuten die Voraussetzungen und Zusammenhänge in ihrem Da- und Sosein Gegebenheiten. Insofern ist gegen die ganze scholastische Methode sogar grundsätzlich nichts zu sagen: sind die jeweiligen Gegebenheiten, mit denen operiert wird, Wirklichkeiten oder Wirklichkeitsgemäß gedacht, dann halten auch die deren Begreifen dienenden logischen Zusammenhänge stich. Der reine Naturforscher als Scholastiker schneidet hier vor der Kritik am besten ab, so oft auch er liebgewordene Voraussetzungen preisgeben muss, am schlechtesten der reine Denker: denn seine Begriffe sind niemals transiente Wirklichkeiten, noch lässt sich aus ihnen Reales (im Sinne der ratio essendi, nicht ratio cognoscendi) folgern. Zwischen den beiden steht der rekonstruierende Historiker und andererseits wiederum steht er über beiden: zwischen, insofern historische Geschehnisse als unwiederholbar nie gleich sicher festzustellen sind wie Naturgesetze, und insofern es allemal viele Zusammenhänge gibt, als deren Teile sie begriffen werden können, welch letztere Erwägung jede einzig mögliche Deutung als illusorisch erweist; über, insofern er vom Geist als Dichter ausgehend wesentlich Wahres auch dort aussagen mag, wo er sich in der Tatsache und der Deutung irrt. Dacqué nun gehört in die besondere psychologische Rubrik des mittelalterlichen Theologen, welcher etwas von allen diesen Geistestypen in sich hat. Jedem mittelalterlichen Theologen waren die übernatürliche Heilsordnung, die Überlieferung in Schrift, Legende und Mythos und endlich die Entscheidungen der geistlichen Autoritäten so gewisse Gegebenheiten, wie dem Naturforscher die Ergebnisse seines Experimentierens; darüber hinaus aber konstruierten alle als reine Denker und fabulierten als Dichter, wenn auch nur in dem bescheidenen Grad, in dem ein mittelalterlicher Maler eine der sakralen Überlieferung treue Wiedergabe einer heiligen Szene seiner Seele gemäß variierte. Genau in diesem Sinn schaut Dacqué in seinem letzten Buche Geologie, Zoologie, Anthropologie, Psychologie, Mythenkunde und religiöse Überlieferung auf einer Ebene zusammen.

Dies ergibt denn ein erstaunliches Gesamtbild. Im großen ganzen geurteilt, nimmt Dacqué jede Überlieferung gleich ernst, und zwar im Sinne barer Münze: handele es sich um geologische Aufschlüsse, Ergebnisse zoologischen Experimentierens und exakt vergleichender Kultur- und Völkerkunde, um Hypothesen der modernen Tiefenpsychologie, Mythen, Sagen, Legenden und Märchen, endlich die in unserem Kulturkreis anerkannte Tradition religiöser Offenbarung. Hier erscheint denn eben die Einstellung, die beim Naturforscher Ehrfurcht vor den Tatsachen bedingt, als allgemeine Leichtgläubigkeit, die nur Verstandeskritik auf der Ebene der als solcher nicht bezweifelten Phänomene — gleichwie bei scholastischer Theologie auf der Ebene der von ihr anerkannten Gegebenheiten — zügelt und berichtigt. Nun hat die Tatsache, dass Dacqué viel Verschiedeneres auf einer Ebene zusammenschaut als je ein Theologe zu tun wagte, zur Folge, dass seine Arbeit scholastischer wirkt als alles, was ich jemals las. In der Tat: die verschiedenen Erscheinungskomplexe, die Dacqué behandelt, gehören grundverschiedenen Existenzebenen an. Ihre Existenz überhaupt oder ihr bestimmtes Sosein ist wahrscheinlich oder glaubwürdig in sehr verschiedenem Grad: konstruiert Dacqué aus solchen Bausteinen ein einheitlich zusammenhängendes Ganzes, so kann es nicht umhin, eben Konstruktion zu sein, ein Machwerk des Intellekts, viel mehr so, als jedes theologische System, welches Himmel, Erde und Hölle in ihren notwendigen Zusammenhängen lehrhaft schildert. Dieses viel mehr so gilt nun vollends im Sinn eines Schlechter-Seins, weil Dacqué die innere Vollmacht zur Offenbarung nichtnaturwissenschaftlicher Einsichten augenscheinlich fehlt. Dies tritt in Art, Gehalt und Stil seines letzten Buchs noch mehr zutage, wie in seinen früheren, über die ich 1931 schrieb. Hier ist zumal das, was Dacqué über die Bedeutung des Christus-Impulses sagt, geradezu blasphemisch-schauerlich. Offenbar hat er keinerlei persönliche Erfahrung von Metaphysisch-Wirklichem; so kann er das Wahre der christlichen Offenbarung im Zusammenhang mit anderer, wie sie in Indien, China, Japan und Tibet noch heute gleichsinnig vorkommt, überhaupt nicht fassen. Hier hält er sich einfach an die christlich-jüdische Überlieferung, als übermittele sie eben so sichere Erfahrung wie ein geologischer Aufschluss, und dekretiert von seinen konstruierten Voraussetzungen her, nach denen es aus geologischen Gründen jene Erfahrungen heute nicht mehr geben könne, dass der Christus-Impuls die Welt real verwandelt hätte usw. Und Dacqués Schluss-Vision, die sich mehr oder weniger an die Apokalypse hält, wirkt dermaßen unecht, dass mich bei dieser Lektüre Ekel packte.

Nichtsdestoweniger: Dacqués Buch enthält auch Gutes, und zwar so viel dessen, dass ich lange Seiten desselben mehrere Male gelesen habe. Dieses Gute findet sich in allen den Betrachtungen, die sich nicht allzuweit von möglicher Naturwissenschaft entfernen. Und hierzu gehört das ganze reiche Gebiet dessen, was Dacqué (hier eine ganz andere Nomenklatur benutzend, als ich es tue) magisch heißt. Zwar ist sein Glaube, dass alle Magie das wirklich ist und vorstellt, was sie vorstellen soll, arg unkritisch und seine eigenen Deutungen sind oft recht willkürhaft. Aber Dacqué ist ein so guter Naturforscher, dass er über die Innenseite der Natur, die sich völlig unzweideutig in der lebendigen Schöpfung äußert, auch wo er falsch oder vorschnell urteilen mag, sehr Beachtenswertes sagt.

So ordnet er das Urphänomen der organischen Korrelation einem weiteren Zusammenhang gleicher Ordnung ein, dessen Dasein mir wahrscheinlich scheint und dessen bloße Möglichkeit neue, sehr weite Ausblicke eröffnet. Dacqué führt nämlich die Korrelation als Sonderfall auf jene Entsprechung oder Korrespondenz zurück, deren Begriff die Renaissance erschuf und der auch mir immer produktiver erscheint. Hier möchte ich nicht zuviel sagen, der Interessierte lese unbedingt die ganze Betrachtungsreihe auf die ich hiermit hinweise ja mehr noch: er meditiere sie. Denn Dacqué zeigt hier tatsächlich sehr große Möglichkeiten auf. Von seinen Voraussetzungen her hätte z. B. die organische Korrelation einerseits mit der der Ordnung, welche die Astrologie voraussetzt und deren Bestehen sie in hohem Grade nachweist, andererseits mit der seither rein mechanisch gedeuteten der Gestirneordnung durch den Kitt der so problematischen Gravitation einen gleichen Grundsinn. Ja von hier aus erscheint noch ein Problem in neuem Licht, welches Dacqué in seinen Untersuchungen gar nicht einbezogen hat: das von Schicksal und Zufall, wie es Wilhelm von Scholz in seinem so anregenden Buche Das Schicksal und der Zufall aufgerollt hat. Nach Scholz äußert sich das Zusammenspiel von Notwendigkeit und Zufall im Menschenleben so, als werde der Mensch geträumt, als stelle ein transzendenter Träumer das innere Schicksal des Menschen und die ihm innerlich und äußerlich zugehörige Welt, einschließlich der reinen Zufälle die ihn betreffen, auf einmal heraus. Meine Auffassung dieses Zusammenhangs enthält die Vorrede Anticipation et Réalisation der neuen französischen Ausgabe von Menschen als Sinnbilder (Figures symboliques, Paris 1939, Librairie Stock) die unter anderem auch meine Autobiographie bis zum Jahre 1939 fortführt; unsere Bibliothek besitzt das Buch, so brauche ich hier nicht mehr darüber zu sagen. — Was nun das Positive von Dacqués Anschauungen auf geistig kulturellem Gebiet betrifft, so sei vor allem auf das Folgende hingewiesen. Ihm und dem hier angezeigten Buche verdanken wir die erste ernstzunehmende Phänomenologie des Heidentums als einer Seelenverfassung, die es nur mit der Naturseele und gar nicht dem metaphysischen Geist zu tun hat. Hier tut es nichts, wenn vieles, ja wenn das Meiste dessen, was Dacqué als tatsächlich existierend behauptet, nicht wirklich so existiert: grundsätzlich hat er recht.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME