Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939

Bücherschau · F. Matthias Alexander

Die Fragestellung, gemäß der es auf die Mittel mehr ankommt, als auf die Ziele, ist dermaßen fruchtbar, dass ich an das vorhin darüber Gesagte — das übrigens ausführlichere Betrachtungen des Buchs vom persönlichen Leben zusammenfasst — einige weitere Betrachtungen schließen möchte. Es ist kein Zufall, dass es gerade ein Engländer war, der die bisher erschöpfendste Untersuchung über das gegensätzliche Verhältnis von Mitteln und Zwecken angestellt hat: die imperiale Befähigung der Briten wie vormals diejenige der Römer und jahrhundertelang auch die der Chinesen hat ihren Hauptexponenten eben im instinktiven Wissen darum, dass es aufs Wie viel mehr ankommt als auf das Was. Ein Imperium ist unhaltbar ohne unwillkürlich werbende, und zwar menschlich werbende Kraft der dasselbe beherrschenden Schicht. Menschlich werbende Kraft nun hat die größte sachliche Tüchtigkeit nie, und Zwanganwendung muss sehr schnell durch deren Forderung entsprechende Gewohnheit abgelöst werden, wenn nicht der Gegendruck stärker werden soll als der Druck. Alle englische Regierungstaktik und -technik nun hat zum Grundprinzip, die Empfindlichkeit zu schonen. Als im Januar 1939 die allgemeine Wehrpflicht angebahnt werden sollte, fiel bei allen Aufrufen auf, dass nicht ein Mal das Wort müssen gebraucht wurde. Solange und soweit als irgend möglich vermeidet der Brite direkte Zwangsanwendung, und immer vermeidet er Worte, die nach Zwingen-Wollen klingen — denn Worte sind bei einem wesentlich psychischen Wesen, wie dem Menschen, immer wichtiger als Tatsachen, und das Subjektive bedeutet immer mehr als das Sachliche; immer drückt sich der Engländer so aus, als sei der freie Wille des von einer Entscheidung Betroffenen für ihn die Hauptsache. Da der Mensch nicht nur wesentlich psychisches Wesen, sondern zutiefst Verkörperer und Träger des Freien ist, so genügt solche Rücksichtnahme, um versöhnend und werbend zu wirken. Bei dieser Politik nun handelt es sich offenbar darum, dass auf die Mittel und nicht die Ziele der Hauptwert gelegt wird. Tatsächlich dienen jene oft der Erreichung selbstsüchtigster, ja grausamster Ziele: aber diese werden wie von selbst erreicht, da eben für die Betroffenen auf die Mittel alles ankommt. Man muss sich nur Zeit lassen, besonders bei Reformen, nichts überstürzen, unter keinen Umständen auf Hühneraugen treten: aus dem hiermit Umrissenen erklärt es sich, dass das Britische Weltreich ohne bewusste Absicht hat entstehen können. Und als Gewachsenes kann es sich sogar in der Zeit eines äußersten Nationalismus als Imperium halten.

Bei den alten Römern nun beruhte die werbende Kraft, die das Imperium zusammenhielt, auch wo es längst sehr schwach geworden war, auf dem vorherrschenden Rechtsgedanken. In einer Welt so selbstverständlicher Rechtsunsicherheit, insonderheit in bezug auf Besitz und Eigentum, wie es die nicht-römische antike Welt war, wirkte das römische Recht, so hart es war, als ein einziges Rücksicht-Nehmen auf die Interessen des Einzelnen. Es wirkte also psychologisch ähnlich als Mittel wie die englische Ausdrucks- und Handlungsweise. Jeder wollte auf die Dauer einem Reiche angehören, wo es so viel Rücksichtnahme und damit Sicherung des Menschen im Menschen gab. — Gleichsinnig nun hat in China die Gefühls- und Gebärdenkultur als Bindemittel gewirkt. Die älteste Staatsweisheit lehrte: Hat der Fürst seine Person in Ordnung gebracht, dann werden die Völker von allen Enden der Welt kommen, um sich seiner Herrschaft zu unterstellen. Von sachlicher Leistung hielt diese Weisheit wenig. So lautet ein Satz des Mong Tse dem Sinne nach ungefähr wie folgt:

Durch Tüchtigkeit hat niemand die Welt gewonnen. Hat er aber seine Tüchtigkeit überdies zu sehr betont, so hat er sich die Welt mehr entfremdet als der Untüchtige.

Das Weiche ist stärker als das Harte: dieser letzte Satz erweist vollends, dass in Alt-China die Delicadeza suprem regierte. So erklärt es sich, dass es in bezug auf Alt-China relativ unwichtig erschien, ob es im Kampfe siegte oder unterlag: die chinesische Kultur assimilierte schnell jeden, Sieger und Besiegte vergaßen bald, dass sie jemals nicht Chinesen waren.

So viel gilt von der Politik, und allgemein vom Verhalten zu anderen. Aber das gleiche gilt auch von der Selbsterziehung. Coué und Baudouins wahrste und wichtigste Lehre ist die vom effort converti: sucht man sich zu etwas zu zwingen, so ruft man nur Gegenbewegungen wach. Wogegen das Ziel sich ganz von selbst verwirklicht, wenn unterwegs dahin nur jede Willensanstrengung und Zwangsvorstellung vermieden wird. Das eigene Unbewusste ist in bezug auf die angewandten Mittel genau so empfindlich, und diese Empfindlichkeit wirkt genau so entscheidend wie im Verhältnis von Fremd-Herrschern und Fremd-Beherrschten. Nun sind mir die Bücher eines amerikanischen Erziehers in die Hände gekommen, die noch einen Aspekt des gleichen Grundverhältnisses aufzeigen; es sind die Bücher Constructive conscious control of the Individual, Man’s supreme inheritance und The Use of the Self von F. Matthias Alexander (New York, E. P. Dutton & Co.). Das Grundgesetz bei der Re-Education eines irgendwie nicht Angepassten, sein Sein und Denken und Handeln nicht richtig Koordinierenden, welches Alexander theoretisch aufstellt und bei seiner Praxis befolgt, fassen die beiden folgenden Sätze gut zusammen: Forget the end, think only of the means, und ferner: Take care of the means, and the end will take Care of itself. Diese Sätze scheinen im schroffen Widerspruch zum als richtig erwiesenen Satze Baudouins zu stehen, dass sich ein klar vorgestelltes Ziel vom Unbewussten her von selbst verwirklicht — und sie tun es auch. Aber sie betreffen verschiedene Fälle und Lagen. Nur solche Ziele verwirklichen sich im Sinn von Baudouins Lehre von selbst, die in richtiger Einstellung richtig vorgestellt werden, wo also der Betreffende automatisch richtig koordiniert. Alexanders Regeln hingegen betreffen falsch Eingestellte. Bei diesen nun gilt vom Erzieher Gleiches wie vom Völkerbeherrscher: er muss vor allem die richtigen Mittel anzuwenden lehren, vom Ziel möglichst schweigen: aus der Anwendung der richtigen Mittel ergibt sich die Erreichung des Ziels von selbst, wogegen der fortgesetzte Versuch, richtige Ziele mit falschen Mitteln zu erreichen, den Zustand des Nicht-Angepassten von Mal zu Mal verschlimmert und schließlich die Dauerhaftigkeit irgend einer Ziel-Erreichung fraglich macht. Im Laufe seiner Untersuchung stellt nun Alexander mancherlei fest, was eine Ergänzung und Illustration der Erkenntnisse des Buchs vom persönlichen Leben und von Alexis Carrels Der Mensch, das unbekannte Wesen bedeutet. Unter heute lebenden weißen Menschen gäbe es nur noch ganz wenige als Ganzheiten so richtig Reagierende, wie jedes Tier als Ganzheit richtig reagiert. Und die meisten heute angewandten Heilmittel wirkten der Erreichung des Ziels entgegen. So hülfe körperliche Ertüchtigung zu nichts, sie schade viel mehr, wenn sie nicht von der Umstellung des Ganzen, des geistig-seelisch-physischen Menschen von falscher zu richtiger Einstellung geschieht. Tiger brauchen nicht zu trainieren: noch nach jahrelanger Gefangenschaft im Käfig sind sie genau so sprungbereit, wie sie’s im Dschungel waren: ihr ganzes Wesen ist eben in richtiger Dauerform. So diente die Gewinnung richtiger allgemeiner Einstellung des ganzen Menschen jeder einzelnen Sonderbetätigung besser als deren Sonderschulung. Versteht sich: sofern Höher-Zucht und -Bildung des Menschen Ziel ist und nicht die Sache einer Rekordleistung. Aber die bloße Einstellung des modernen Menschen auf spezialistische Spitzenleistung sei von Grund aus verfehlt und die Hauptursache der meisten für diese Zeit für weiße Menschen typischen Krankheits- und Schwächezustände, Alexanders praktische Heilslehren und Heilstechniken, die sich so sehr bewähren sollen, dass Amerikas erster Erziehungstheoretiker, John Dewey, nicht ansteht, dieselben als epochemachend, ja als das bisher vielleicht wichtigste Columbus-Ei auf dem Gebiet der Höherbildung des Menschen hinzustellen, konvergieren nun samt und sonders in der Forderung, die bisherige instinktive und unbewusste Lenkung des Gesamt­organismus durch bewusst-verstehende zu ersetzen, bis sich neue Automatismen bilden. Alle überkommenen entsprächen einer nicht mehr bestehenden Einpassung des Menschen in seine Umwelt. Der heutige Mensch, der sich auf seine ererbten Instinkte verlässt, gliche einer Ameise, die sich in einer von ihren Instinkten nicht vorgesehenen Situation befindet. — Der Leser wird von hier aus ohne weiteres von selbst die Verbindungsstriche zu den Grundeinsichten der Einleitung des Buchs vom persönlichen Leben und allgemein der Grundlehren der Schule der Weisheit ziehen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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