Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

28. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1939

Bücherschau · Guy de Pourtalès · La pêche miraculeuse

Nunmehr sei das nachgeholt, was ich das letztemal versäumen musste: die Würdigung des nur kurz unter den Erwünschtheiten für unsere Bibliothek genannten Romans Guy de Pourtalès’ La pêche miraculeuse (welchen der Verfasser auf meine Bitte hin denn auch gleich unserer Bibliothek gestiftet hat). Da nun aber seit der Zeit, da dieses Buch so großen Eindruck auf mich machte, über anderthalb Jahre verflossen sind, so entschließe ich mich dazu, in deutscher Übersetzung das Wesentliche dessen abzudrucken, was ich Graf Pourtalès privat im Januar 1938 darüber schrieb:

Die extreme Art von Muße, die ich zur Zeit genieße, hat es mir ermöglicht, etwas zu tun, was ich sonst nicht so bald getan hätte: Ihre Pêche Miraculeuse sehr genau zu lesen. Im allgemeinen bin ich der schlechteste Romanleser, den es überhaupt gibt. In bezug auf die allermeisten Romanschreiber spricht das Witzwort meines alten Freundes Wolkoff wahr: Le roman, c’est l’esprit des autres. Und im besonderen spricht für die allermeisten deutschen Romane meine Formel wahr: Der Roman ist das brouillon einer schlechten Philosophie. Grundsätzlich stellt der Roman meiner Ansicht nach keine eigentliche Literaturgattung dar, er bedeutet ein pis-aller: ähnlich wie heutzutage viele an sich durchaus nicht Perverse sexuelle Perversionen ausüben, einfach weil dieser Modus so viel einfacher ist (es bedarf kaum des Mutes, kaum der Eroberung, kaum der geschlechtlichen Tüchtigkeit). Da nun die Gattung Roman an sich etwas Unzulängliches ist, so gelingt es nur Ausnahmegeistern hie und da, dauernde geistige Werte in ihm zu verkörpern. So Flaubert, Turgenew, Tolstoi. Nun, lieber Freund, seitdem ich Ihre Pêche Miraculeuse gelesen habe, rechne ich Sie mit zu dieser allerseltensten Elite.
Es handelt sich hier durchaus nicht, wie Sie meinen, um einen Tolstoi-artigen Roman. Bei Tolstoi bildet die russische Unermeßlichkeit (l’immensité russe) den Hintergrund der geringsten Einzelheit, — eine Unermeßlichkeit im Sinn von Zeit sowohl als Raum. Sie hingegen haben mit wunderbar visionärer Kraft das Allerengste, was es auf Erden gibt, evoziert und es zum Symbol jenes zugleich Alltäglichen und Ewigen gemacht, welches Maeterlinck preist und welchem Flaubert aus Mangel an Liebe und aus Übermaß an bitterer Ironie nicht gerecht werden konnte. Aus dem eigentlich-Genferischen, ja dem Ville-Haute’schen am Genferischen ein großes allgemeinmenschliches Symbol geschaffen, die Weltkrise in Funktion derer bestimmt und gezeichnet zu haben, die am wenigsten an ihr teilhatten — das bedeutet eine einzigartige Leistung in der modernen Literatur. Ihr Buch ist gleichzeitig ein chef d’œuvre et un tour de force… Endlich bedeutet Ihr Buch ein großes historisches Monument. Sollte nur dieses vom ganzen Genf des neunzehnten Jahrhunderts übrigbleiben — dieses Genf wird fortleben. Und es lohnt sich, dass es fortlebe: diese kleine und trockene Gottesstadt (Cité de Dieu) bedeutet auf ihre Art ein Pendant zur Insel Patmos, deren Atmosphäre sich kaum verändert hat, seitdem der Verfasser der Apokalypse sie bewohnte.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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