Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Bücherschau · Huizinga, Stosch-Sarrasani

Nichts ist gefährlicher, als Gedanken um jeden Preis zu Ende denken und bis zu ihren letzten Konsequenzen durchführen zu wollen. Immer unterstellt sich nämlich alsdann der Erkenntnistrieb wie zwangsläufig dem primitiven Verallgemeinerungstrieb des Menschen-Tiers, welcher alles von einem Standpunkte aus begreifen will, so wie die Spinne alle Beute mit einem Netze einfängt, und das Ergebnis ist dann von einem bestimmten kritischen Punkte an unvermeidlicherweise erkenntniswidrig; je mehr in diesem Fall das Einfache und Einheitliche einleuchtet, desto sicherer kann man sein, dass es eben dem Tier im Menschen einleuchtet und dass das Einleuchten darum nicht Wahrheit verbürgt. Im übrigen ist jeder Gedanke als aperçu — genau das ist er nämlich, wo er sich auf äußere Gegenstände bezieht — immer nur in bezug auf bestimmte Entfernung wahr, genau wie mit impressionistischer Technik gemalte Bilder aus ganz bestimmter Entfernung betrachtet werden müssen, um überhaupt als Gemälde zu wirken. — Alles hier Gesagte und Angedeutete gilt auch für die These der Meditationen, dass die eigentliche Ebene des geistbestimmten Lebens die des Schau-Spiels und insofern des Spieles überhaupt ist. Genau das dort Ausgeführte ist wahr, aber weder mehr noch weniger; weiterdenken führt hier nach wenigen Schritten von der Wahrheit zum Falschen. Zwei moderne Denker haben hier nun weiter gedacht, gleichviel ob abhängig oder unabhängig von mir, und beide hat dieses in die Irre geführt. Deren erster ist Ortega y Gasset mit seiner Lehre, dass alles Geistbedingte am Menschenleben, unter anderem auch das Denken, Sport (ausgerechnet Sport) sei. Doch dabei möchte ich nicht verweilen, denn schwerlich ist diese Lehre Ortegas letztes Wort. Wohl aber scheint für den Holländer Huizinga sein Homo Ludens, Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur (Pantheon Akademische Verlagsanstalt, Amsterdam) ein letztes Wort zu bedeuten, und darum sei auf dieses im übrigen sehr interessante Buch als beste mir unter neuen Erscheinungen bekannte Illustration der obigen allgemeinen These hingewiesen. Huizinga ist ein ausgezeichneter Kulturhistoriker. Sein weltbekannter Herbst des Mittelalters zumal stellt eine selten farbige Evokation der Zustände des 14. und 15. Jahrhunderts dar und im übrigen die beste mir bekannte Schilderung Burgunds, dieser bisher reichsten Synthese germano-romanischen Europäertums (man lese in diesem Zusammenhang das Fragment Meditation über Burgund aus der Reise durch die Zeit wieder; unsere Bibliothek besitzt es). Aber bereits bei der Lektüre dieses Buches wurde mir jedesmal unbehaglich zumut, wo sich Huizinga auf mehr philosophische als historische Betrachtungen einließ. Schon dort neigte er bedenklich zu Deutungen im Geist des Freudschen nichts als; mit Vorliebe führte er Hohes auf Niedriges zurück, und vieles nicht allein hoch Geltendes, sondern unzweifelhaft Hohes suchte er, offenbar aus persönlicher Antipathie, zu entwerten. Dies gilt zumal von aller adeligen und Adelsgeborenen Kultur, deren Positives Huizinga überhaupt nicht sieht. In Homo Ludens nun geht er so weit, die meisten für ethisch und metaphysisch inspiriert geltenden Betätigungen und Normen in letzter Instanz auf naturalistisch verstandenen und wertfreien Spieltrieb zurückzuführen. Dies geht so weit, dass Huizinga eigentlich (dieses Wort füge ich hinzu, weil ich doch ein wenig übertreibe!) kaum Qualitätsunterschiede anerkennt zwischen dem spielenden Tierkind und den Formen, mittels welcher sich der Gerechtigkeitssinn oder das religiöse Streben des Menschen zu verkörpern trachtet. Freilich hat Huizinga in bezug auf das Tatsächliche in vielen, wenn nicht den meisten Fällen recht, Und alle seine Beschreibungen und Schilderungen sind interessant und enthalten überdies den meisten bisher Unbekanntes. Ich zum Beispiel wusste früher nicht, wie sehr die mittelalterliche Idee des Gottesgerichts und Gottesurteils einer allgemein-menschlichen Tendenz entspricht. So sehr glaubt der Primitive überall — darin auf dem gesamten Erdball Calvins Lehre von der Beweiskraft des Erfolges vorwegnehmend — daran, dass höhere Mächte beim Siege mit- und letztentscheiden, dass dadurch sekundär jede Rekordleistung in seinen Augen zum Gottesurteil wird, dass Wettkampf sich als sicherstes Rechtsmittel erweist und im Extremfall das Wettspiel, ja das Wetten überhaupt als Weg der Gerechtigkeit erscheint. Das pittoreskeste Beispiel dieser Art geben die Eskimos, bei denen ein Rechtsfall damit für erledigt gilt, dass einer der Wettkämpfer ermüdet. Und nicht viel anders steht es ja auch mit der Auffassung europäischer Duellanten, welche die Ehre dadurch für wiederhergestellt halten, dass sich der Beleidigte überhaupt schlägt. Alles, was Huizinga an Tatsachen vorbringt, ist, noch einmal, hochinteressant. Doch die Deutung, welche ich dem Zusammenhang gab, ist nicht diejenige Huizingas: für diesen erschöpft sich das ethische und metaphysische Bewusstsein überhaupt im Spiel. Er, dieser vielleicht gebildetste und geistig reichste unter lebenden Kulturhistorikern, ist in bezug auf die Welt der Werte, ja der metaphysischen Wirklichkeit überhaupt, so etwas wie Bolschewist. Sein Buch ist unter anderem ein Lehrbuch der Entwertung.

Ich weiß, so wird Huizinga selten, wenn überhaupt von irgend jemand außer mir gesehen. Aber so ist er. Er ist Antimetaphysiker. Er ist auf eine besondere Art naturalistischer Tatsachenmensch und Geistfeind. Ich kenne wenig Absurderes als seine Lehre vom Ursprung von Poesie und Musik aus den Regeln von Gesellschaftsspielen. Und schlimmer noch ist Huizingas Versagen in der Würdigung der Primärausdrücke des Geistes Mut und Glaube. Alles in allem gehört Huizinga, so sicher er selber gar nichts davon weiß, denn er hält sich ja sogar ehrlich für einen der Hauptverteidiger der alten Kultur und polemisiert oft in bewusst dahingerichteter Intention, zu den vornehmsten unter denen, welche im Westen die alte Kultur vom Verstande her abzubauen versuchen.

Nachdem ich dieses gesagt habe, rate ich jedem, Huizinga zu lesen. Hat er mich ganz verstanden, so wird er von dieser Lektüre sehr viel haben, und zur Bereicherung seines kulturgeschichtlichen Wissens wird Vertiefung seiner Einsicht in metaphysische Zusammenhänge treten. Vor allem wird er dann tiefer als bisher den Sinn dessen einsehen, was ich unter Divina Commedia verstehe, und wie tiefe Wurzeln jedes Leben als Schau-Spiel haben kann, In diesem Zusammenhang kenne ich wenig Belehrenderes als die Lebenserinnerungen des berühmten Zirkusdirektors Stosch-Sarrasani, die natürlich hauptsächlich den Vater des Lebenden betreffen, denn der war, so bedeutend in seiner Art der heute lebende1 sei, der große Bahnbrecher. Das Buch heißt Hans Stosch-Sarrasani, Durch die Welt im Zirkuszelt (Berlin, Schützen-Verlag). Ich glaube nicht, dass je ein Staatsmann, je ein Kirchenfürst, je ein Philosophieprofessor mehr und ernster seiner Aufgabe gelebt hat als Stosch-Sarrasani seinem Zirkus. Dieser war ihm eine buchstäblich heilige Angelegenheit. Wenn er Opfer über Opfer für sein Werk brachte, ganz klein anfangend die ungeheuerlichsten Schwierigkeiten überwand, nach jedem seiner zahlreichen finanziellen Niederbrüche tapfer neu anfing, allemal letztendlich durch seine Überlegenheit siegte, so geschah das alles genau im gleichen Geiste, welcher die überzeugtesten Kreuzfahrer beseelte. Dann noch dieses sorgende, tief ethische, im höchsten Sinne christliche Interesse für Mensch und Tier! Ich habe lange nichts so Ergreifendes gelesen wie die Erinnerungen dieses Zirkusmenschen. Von jeher hege ich eine besondere Sympathie für das, was das Mittelalter Fahrendes Volk hieß. Knapp aus dem Gymnasium ausgeflogen, traf ich irgendwo in Thüringen einen Jahrmarkts-Vagabunden, welcher als einzigen Besitz die letzte Sirene ausgestopft mit sich führte — ich glaube wirklich, es war das einzige Exemplar dieser im 18. Jahrhundert ausgestorbenen äußerst menschenähnlichen See-Säugetierart, das überhaupt erhalten worden ist. Nicht für ein Königreich hätte sich dieser arme Vagabund von diesem Heiligsten getrennt, Später in Darmstadt erfuhr ich immer wieder viel vom fahrenden Volk, weil Graf Hardenberg unter Zirkusmenschen viele alte Freunde hatte. Immer wieder hob er den besonderen Ernst und die große Desinteressiertheit dieses Menschentypus hervor, welcher mehr als irgendein anderer außer dem Soldaten während des Feldzugs und auf ausgesetztem Posten tagtäglich in seinem Leben gefährdet ist, überaus häufig bei der Ausübung seines Berufes stirbt und dennoch nie an Aufgabe seiner denkt. In das gleiche Gesinnungsbild gehört auch, dass die Zirkusreiterdynastien zu den ältesten der Welt zählen und in ihrem Standesgefühl kaum weniger exklusiv sind als Fürstlichkeiten.

Nachdem ich dieses gesagt habe, rate ich jedem, die Erinnerungen Stosch-Sarrasanis, welche ein Mitglied hoffentlich recht bald unserer Bibliothek stiften wird, sehr aufmerksam zu lesen und nachher erneut über das Problem der Divina Commedia und das Missverstehen seiner durch Huizinga nachzudenken. Auch echte Zirkusmänner, ja heutzutage gerade sie, sie mehr vielleicht als alle anderen, sind das, was man in der Troubadour-Zeit Jongleurs de Dieu hieß. Das geistbestimmte Leben ist unter allen Umständen Schau-Spiel. Was einer spielt, hängt von Anlage und Gelegenheit ab. Der Ernst der Betätigung wird aber nicht durch Gegenstand und Zweck bedingt, sondern durch die beim Spiele obwaltende und dasselbe inspirierende Gesinnung. Wer, wie der alte Stosch-Sarrasani, im Sterben als letztes Wort ausrief: Und der Zirkus muss doch weiterspielen!, aus dem spricht ein gleicher Geist wie aus Epaminondas, welcher, tödlich verwundet, aus Freude über den Sieg das eigene Sterben vergaß. Nur auf die Gesinnung und damit den Sinn kommt es überhaupt an. In den Meditationen zeigte ich, dass die Urtypen des Geistverwirklichers der Schauspieler und der Asket sind; im Puritaner-Kapitel der Reise durch die Zeit wird mehr darüber zu lesen stehen. Der große Bühnenschauspieler dieser Zeit, der zu den staatlich und gesellschaftlich anerkanntesten aller Berufstypen gehört, entspricht selten mehr der großen sakralen Norm; er geht selten mehr mit ganzer Seele in seinem Schau-Spielen auf. Vom Zirkus-Menschen hingegen gilt dies noch, vielleicht werden in Europa die letzten echten Heiligen unter Clowns und Tierbändigern zu finden sein.

1 Einige Monate, nachdem ich diese Zeilen niederschrieb, verstarb leider auch er.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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