Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Bücherschau · Corrado Gini · Una Società Lavorista

In der Zeitung las ich neulich vom amerikanischen Test-System: durch ein bestimmtes Frage- und Antwort-Spiel wird auf amerikanischen Schulen und Hochschulen immer mehr alles Forschen und Selbstdenken durch eine Kultur der Schlagfertigkeit im Finden Schlagwort-ähnlicher Antworten ersetzt, was zu einer Wiedergeburt führt einer reinen Gedächtnis- im Gegensatz zu unserer Einsichts-Kultur, einer Gedächtnis-Kultur, wie sie gleich ausgesprochen in erinnerbarer Zeit nur die islamische Welt charakterisiert hat. Geht diese Entwicklung nur noch ein klein wenig weiter, als sie bereits gediehen ist, dann wird die Geistesverwandtschaft Amerikas und Europas nur mehr eine äußerliche sein. Die letzten gemeinsamen Wurzeln wird man bald im enzyklopädischen Kultur-Ideal des achtzehnten Jahrhunderts feststellen können.

Dass Nordamerika im 18. Jahrhundert stehengeblieben ist, habe ich aus anderen Gründen schon lange behauptet und in meinem Amerika-Buche nach allen Richtungen aufgezeigt, dass ein fortschreitendes Auseinander-Wachsen von alter und neuer Welt unvermeidlich ist. Vor einem Jahr nun schickte mir der italienische Soziologe Corrado Gini eine Arbeit zu, die mich die Fremdheit der amerikanischen Welt für unsereinen von einer neuen Seite her verstehen lehrte. Das Buch heißt: Una Società Lavorista (Studi di Politica, Finanza ed Economia, pubblicati a cura della Rivista di Politica Economica, Roma, Piazza Venezia 5) und weist nach, dass diese Gesellschaft als einzige unter weißen Menschen bisher entstandene sich vom Arbeiter-Typus her und auf diesen hin artikuliert und spezialisiert hat. Wir Europäer feiern ja auch nur mehr den Wert der Arbeit: diese ist uns aber nach wie vor Mittel, nicht Zweck. Jedem geistig erwachten Europäer schwebt heute noch als Ideal ein Leben vor, das ihm für ein Minimum niederer Arbeit ein Maximum an Schaffen und Erleben des geistig und menschlich Wertvollen ermöglichte. Ganz anders liegen die Dinge nach Gini in Amerika: auf den Arbeiterstand hin typisiert, wollen die Amerikaner arbeiten um der bloßen Beschäftigung willen, so dass man sie logischerweise im Falle schwerer Verbrechen eher zur Zwangsmuße als zur Zwangsarbeit verurteilen müsste. Diesen ganzen Gedankengang hat Gini ebenso geistreich wie überzeugend und vollständig durchgeführt. Das Ganze aber würzen viele pittoreske Konkreta. Allen Arbeitern der Erde sei gemein, dass sie die Gabel in der rechten Hand halten: nur in Amerika gelte dies für alle Gesellschaftsklassen. In allen Arbeiterkreisen der Erde sei es Sitte, alles Essen auf einmal aufzutragen: ähnlich, mit vielen kleinen Schüsseln um sich, speise auch der amerikanische Millionär. Vor allem aber trage der Arbeiter nirgends Hosenträger, sondern einen Gürtel: in Amerika mache auch der Gebildetste und Reichste diese Sitte mit, Jahrzehnte bevor das seither angebrochene Nordamerikanische Zeitalter den Europäer zu ähnlichem verführte. Der ganze amerikanische Kollektivismus mit seiner Organisation des Lebens nicht von geistigen Werten her, sondern auf das der Gemeinschaft Gefällige, also das, was die Leute sagen, hin, die ganze Standardisierung des dortigen Lebens im Geiste des Simplismus habe zutiefst die gleiche psychologische Ursache — eben dass die Mentalität des Arbeiter-Typus die bestimmende ist. Das Verblüffendste an Ginis Untersuchung aber ist der Erweis, wie unglaublich wenig geistige Initiative die geborenen Amerikaner gerade auf wirtschaftlichem Gebiet bewiesen haben: alles Produktive sei bisher europäischen Ursprungs und dabei sei das europäische Geisteskapital noch äußerst schlecht angelegt gewesen. Bei größerer Begabung und besserer Ordnung des Lebens wäre unvergleichlich viel mehr, als geschah, aus Amerikas natürlichen Reichtümern herauszuwirtschaften gewesen. — Was kann unter diesen Umständen werden, wenn USA, in diesem Kriege schlecht abschneidet? Die von mir schon 1928 festgestellte Grundähnlichkeit mit Sowjetrussland mag dann auf der ganzen Oberfläche bestimmend werden. Vielleicht stürzt dann die ganze Hochhaus-Fassade der Reichen zusammen. Vielleicht wird dann graue Verzweiflung in Gottes eigenem Lande zum Grundmotiv. Die neueste amerikanische Literatur atmet solche bereits in erschreckendem Grade. Und dann mag es sehr lange in gleichem Sinne weitergehen. — Nichts hat ein zäheres Leben auf Erden als das graue Elend. Durchreisende Europäer haben Sowjetrussland den Taufnamen Slums of the World gegeben: die Menschen der Slums, denen keinerlei Hoffnungsstern leuchtet, hängen mehr als alle anderen am nackten Leben und streben so aus bloßer Lebensangst keinem besseren Zustand zu. Es machte mir einen furchtbaren Eindruck, wie ich vernahm, dass während der Luft-Bombardierung Londons die Bewohner der Slums und sie allein sich hartnäckig weigerten, ihre zerstörten Wohnsitze zu verlassen…

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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