Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Bücherschau · Hans von Eckardt · Iwan der Schreckliche

Sobald sich Völker einmal in fester Gestalt konsolidiert haben, vermag der stärkste äußere Einfluss sie kaum mehr zu verwandeln — bis dass sie eben als diese Völker zu sein aufhören; welcher Mutationsprozess am leichtesten durch Auswanderung in eine neue, von der bisherigen sehr verschiedene Umwelt ausgelöst wird, am zweithäufigsten durch das Ergriffenwerden durch einen ungeheuer starken neuen Geist. In diesem Sinne sind die Nachkommen der West-Germanen des Römischen Reiches, die noch heute die gleiche Landschaft wie dazumal bewohnen, von ihren Altvorderen sehr wenig unterschieden, hat umgekehrt der Islam zahllose Völker in unglaublich kurzer Zeit ein- und umgeschmolzen. Ein solches radikales Neuwerden nun hat vor etwa fünfhundert — nicht etwa vor fünfundzwanzig — Jahren in — Russland stattgefunden. Und zwar dank der Macht und dem Vorbild der einen und einmaligen Persönlichkeit Iwans des Schrecklichen.

Schreiber dieser Zeilen glaubte Russland und seine Geschichte verhältnismäßig gut zu kennen. Wie er nun aber Hans von Eckardts Iwan der Schreckliche (Frankfurt/Main 1941, Vittorio Klostermann Verlag) las, da musste er sich eingestehen, dass er Entscheidendstes bis dahin nur unklar wahrgenommen hatte. Und da die meisten Deutschen Russland nicht besser kennen dürften als er, fühlt er sich verpflichtet, jeden, welchen Russland wie die Zukunft des russischen Menschen angeht, auf dieses Werk so plastischer Evokation einer fremdgewordenen Welt aufmerksam zu machen, dass ihm in dieser Hinsicht aus jüngerer Zeit nur Carl J. Burckhardts Richelieu (München, Callwey Verlag) zur Seite zu stellen sein dürfte. Es ist nämlich wirklich so, wie Eckardt es darstellt: alles, was heute als ewiges oder Mütterchen Russland, als dessen Weitengeist und dumpfe Tiefe geliebt oder gehasst wird, geht auf den furchtbarsten aller Zaren zurück, der übrigens den Typus eines russischen Zaren überhaupt allererst geprägt hat. Vor Iwan IV. war Russland, soweit es überhaupt organisiert und nicht nur bewohnt war, wie Nordamerika von den Indianern, ein Feudalstaat normannisch-germanischer Prägung, insofern Europa ähnlicher als dem, was seither ward. Es herrschte dort ein größerer Partikularismus, eine kleinlichere Uneinheitlichkeit als je in Deutschland; die einflussreichen Geschlechter — und nur wenige zählten — waren uralt, nur auf Stammbaum und ererbten Rang bedacht; sie waren geistigseelisch viel erstarrter und starrer — zum Teil wohl dank byzantinischem Einfluss —, als Europas Adelsgeschlechter je waren. Die mehr als zweihundertjährige tatarische Oberherrschaft hatte der herrschenden Schicht wohl viel von ihrer Sicherheit, inneren Unabhängigkeit und Würde genommen, aber die Uranlage andererseits — natürlich auch mit dank Blutmischung — an Klugheit, Zähigkeit, Geschmeidigkeit, Härte und Steppegeborenem herrschaftlichem Weitengefühl bereichert. Doch diese Schichten kennzeichnete noch nichts von dem Russen, den Dostojewsky schildert und der sich zugleich als imperialer Mensch von ungeheuerer Wehrkraft erwiesen hat. Denn andere Familien als die Geschlechter spielten keine Rolle, die Masse zählte gar nicht, sie war anarchisch-weich oder aber im Kleinen praktisch und nüchtern, ohne Idealismus und ohne Schwung, wie dies von den meisten ugrischen Völkerschaften Nord-Russlands und Zentralasiens gilt (im großrussischen Bauern herrscht das finnisch-ugrische Element über dem slawischen vor). Iwan der Schreckliche nun zerstörte und beseitigte die überkommene Struktur des Landes nicht weniger radikal, als es in unseren Tagen der Bolschewismus tat. Er schuf den grenzenlosen großrussischen Raum und das Gefühl dafür, indem er bei aller Förderung von Menschen den Akzent aufs Weiträumige und Imperiale legte. Er schuf den heutigen russischen Menschen, indem er, allen Partikularismus verdammend, bewusst und gewaltsam Slawen, Finnen, Germanen und Tataren miteinander verschmolz und nur mehr Russen gleichviel welcher Abkunft, wenn sie sich nur zum russischen Großreich bekannten und ihm allein dienten, anerkannte. So entstand denn in unglaublich kurzer Zeit der Russe als ein völlig neuer Typus, vom bisherigen nicht weniger verschieden, als es der Amerikaner vom Engländer ist. Iwan der Schreckliche als erster entwickelte den großzügigen praktischen und zugleich den subtil-diplomatischen Sinn des Russen, welcher vorher als politische Kraft gar nicht in Erscheinung trat, überdies aber verschmolz er im ganzen Volke, dank der unglaublichen Suggestionsmacht, welche von seiner Persönlichkeit ausging, byzantinischen und tatarischen Geist, wodurch das Starre jenes sich mit dem Weitumsichgreifenden dieses vermählen konnte — welche Verschmolzenheit erst im Bolschewismus reif in die Erscheinung getreten ist. Endlich verschmolz er noch den finnisch-tatarischen Positivismus mit der slawischen Weichheit und mystischen Religiosität. Alles dieses aber, indem er — hierin vollkommen dostojewskyhaft — mit unglaublicher Wahrhaftigkeit, ja mit völlig schamlosem Exhibitionismus alle Widersprüche seiner Natur öffentlich auslebte, sich nach allen Richtungen phantastisch gehen ließ, sowohl predigte wie mordete, sowohl eroberte wie meditierte, sowohl asiatisch wie europäisch, sowohl großartig wie kleinlich, sowohl spirituell wie roh-materiell erschien, damit den Widerspruch als mögliche Synthese heiligend. Durch einen ähnlichen Verschmelzungsprozess muss auch das heute so einheitliche, aber andererseits heute noch so hochexplosive Japanervolk aus den Komponenten des Polynesiers, Malaien und Chinoiden (ich sage Chinoiden, weil es sich nicht eigentlich um Chinesen als Vorfahren handelt) zustande gekommen sein. Man lese Eckardts glänzende Evokation dieses vielfältigsten und möglicherweise reichst begabten aller bekannten Despoten nach. Iwan der Schreckliche war Russlands nicht allein größter Sadist, sondern auch größter Masochist. In ihm lebten als Erben die Helden der Bylinen, als Gegenwart die Conquistadores und Bandeirantes des sibirischen Ostens und als Keime alle Dostojewsky-Helden. Iwan war damit wahrhaftig der Vater eines neuen Volkes. Als solcher vor allem hat er dann auch späteren Geschlechtern eingeleuchtet. Er zuerst wurde Väterchen Zar geheißen und geliebt, und in bezug auf ihn erwuchs der Begriff vom Mütterchen Russland.

Aber ebenso bildete Iwan der Schreckliche auch den Bolschewisten vor. Nicht allein durch seine Regierungstechnik: zweifellos war seine Opritschnina, der Henker-Orden, mittels dessen er regierte und der so sehr Staat im Staate war, dass Iwan zeitweilig alle offizielle Zarenmacht einer tatarischen Puppe übergeben konnte, selber derweil nur das Oberhaupt der Opritschniki verbleibend, das übrigens unerreichte Vorbild der späteren Gepeu. Nein, Iwan der Schreckliche bildete den Bolschewisten vor als Substanz. Schon er, ganz wie Lenin, bevorzugte die dumpfe graue Masse. Zu seiner Zeit war diese unfähig zu Initiative irgendwelcher Art. Darum konnte nach dem Zwischenreich der Wirren der große imperiale Aufstieg Russlands in Annäherung an den Westen erfolgen. Das war das Werk der dem neuen Zeitgeist gemäß gewandelten alten Oberschichten. Aber wie nun, wenn einmal ein Terror nicht nur die mächtigsten Bojarengeschlechter, sondern die ganze Oberschicht fortfegte? Nun, dann konnte nur das kommen, was seit 1917 gekommen ist. Die tatarisch-finnisch-slawische Unterschicht konnte von sich aus nichts Besseres zustande bringen, als hasserfüllten Renegaten oder Fremden gehorchen. Juden und Kaukasiern. Wird nun der Bolschewismus vernichtet, was dann? Das ist die Schicksalsfrage unseres Kontinents. Die Vernichtung des Bolschewismus allein ist noch keine Problemlösung. Denn ein ungeheures Volk eigenster Uranlage bleibt da.

Knüpfen wir nun am Anfang dieser Betrachtungen wieder an. Einmal geprägte Völker wandeln sich schwer. Iwan der Schreckliche hat nun — einmal das großrussische Volk geschaffen und auf bestimmte Art geprägt. Dieser Typus lebt heute genau so wie vor vierhundert Jahren. Hört er auf, sich als bolschewistischer Phänotypus zu manifestieren, dann kann es leicht passieren, dass sein Genotypus sich eine ganze Weile lang ähnlich darstellen wird, wie der büßende und in sich gehende Iwan der Schreckliche nach seinen Orgien der Foltern und Hinrichtungen. Dostojewsky schildert einen Soldaten, welcher viehischen Blicks die Hostie herunterschießt, dann aber zusammenbricht und vollkommen in sich geht. Seiner Anlage nach wird der Russe die jetzt wohl verendende Schreckenszeit sicher ganz anders beurteilen, als es Europäer täten. Eckardt sagt darüber (S. 120):

Die russischen Kirchenväter huldigten der Macht und predigten Unterwerfung — aber mit einem sehr feinen und besonderen Unterton. Vielleicht — sie ließen es offen — ist jede Macht vom übel. Vielleicht will Gott nicht die Macht der Herrscher…, sondern nur die Demut der sich Unterordnenden. Das heißt: Gott kommt es gar nicht auf die Großen dieser Welt an, Gott braucht die Prüfung der anderen, der Vielen, der Gläubigen. Um ihretwillen schuf er und duldet er Könige und Kaiser. Der Herrscher — ein Mittel zum Zwecke Gottes. Der Herrscher eine alles Mitleides würdige Kreatur. Wen Gott lieb hat, dem verleiht er alles, nur keine Macht. Lasset uns beten für den Diener Gottes Iwan Wassiliewitsch, den Gossudar. Herr erbarme Dich des Vielgeprüften, erbarme Dich Deines armen, vor Dir bloß und nackt erwiesenen Dieners, des Zaren…
Das Böse ein Machtmittel Gottes: was dahin gedeutet werden konnte, dieses Böse um Gottes Willen nun auch zu tun. Also bediente sich Gott auch des Unholdes, des grausamen, zynischen, halb, aber sicher nicht völlig wahnsinnigen Quälers und Menschenschinders, um sein Volk zu prüfen…

Aber vielleicht wird Russland in naher Zukunft tief religiös, wie das alle seine Propheten und viel tiefe Nichtrussen erwarten. Es kann andererseits auch sein, dass mit der Ausrottung der Oberschicht eine Wiedergeburt des russischen Menschen, wie wir ihn aus Russlands großer Literatur kennen, auf Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte hinaus verunmöglicht worden ist. Es könnte sogar die mit Iwan dem Schrecklichen in die Welt gesetzte Gestaltung baldigem und schlechthinigem Artentod entgegengehen. Wie viele Völker, immer neue Völker haben einander im Laufe der Jahrtausende auf dem gleichen Raume abgelöst.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME