Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

4. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922

Bücherschau · Leo Baeck · Wesen des Judentums

Ein zweites Werk, das ich in jedes nach Vertiefung Strebenden Hände wünschte, ist Leo Baecks Wesen des Judentums (2. Aufl. Frankfurt a. M. 1922, 1. Kauffmann Verlag). Es ist eines der merkwürdigsten Phänomene der Menschengeschichte, dass gerade das Judentum kaum jemals ernste Würdigung erfährt, wo es sei Menschengedenken keine Kulturmacht gab, die sich gleich zäh durch allen Wandel seiner Schicksale hindurch behauptet, und wohl auch keine Nation, die gleich häufig Männer von ungewöhnlicher Bedeutung hervorgebracht hat. Den Antisemitismus in Ehren: seine naturgemäße Grundlage ist der Instinkt jedes Volks, unter sich sein und sich selbst beherrschen zu wollen. Aber eben weil er eine physiologisch-biologische Selbstverständlichkeit für jeden dem Juden rassemäßig Fernstehenden bedeutet (die Judenfeindschaft ist im Orient, auch unter Semiten, eher stärker denn schwächer ausgesprochen, als in Europa, weil dort das Blutsbewusstsein intensiver ist), erscheint es recht eigentlich töricht, ihn überdies zur Weltanschauung zu erheben. Die ihrem Wirtsvolk loyal ergebenen Juden zu verfolgen, ist überdies eine Dummheit1. Solange in Deutschland z. B. keine seinen Juden als Geistes- und Willensmenschen überlegenen Germanen leben, gebietet sein eigenstes Interesse, sie zu den höchsten Stellen zu berufen. Überdies bedeutet Bevorzugung der Juden die beste antisemitische Taktik: durch jahrtausendelange Verfolgung typisiert, vertragen sie gesicherte Stellung schlecht; in den Ländern, in denen ihnen am längsten die Freiheit gewährt wurde, wie in Holland, bedeuten sie am wenigsten, weil sie an Spannkraft eingebüßt haben. Noch ein drittes Moment wäre hier zu beachten, auf welches Oscar A. H. Schmitz in seinem Disraeli-Buche2 hingewiesen hat: von Hause aus sind die Juden das konservativste aller Völker: hörte daher ihre Verfolgung auf, so stände der Radikalismus bald ohne Führer da; es bedeutet theoretisch eine Paradoxie, und praktisch die Folge ungeheueren äußeren Drucks, dass gerade Juden die Revolutionen führen. — Doch nicht von diesen aktuellen Dingen will ich hier reden. Die Juden sind zweifelsohne das als Beispiel wichtigste Volk der bisherigen Geschichte. Sie allein haben von der Prophetenzeit ab in ihrer Eigenart durchgehalten; sie allein sind weder ausgestorben noch degeneriert; sie sind das höchstgezüchtete aller Völker in bezug auf Willen und Verstand. Nun, wenn anders es einen Menschheitsfortschritt geben soll, müssen auch andere Völker mit dem vorschnellen Aussterben und Entarten endlich einmal aufhören. Unser Planet wird gewiss noch so manches Jahrhunderttausend bewohnbar bleiben, ganz neue Völker und Kulturen werden immer schwerer entstehen, die Ansprüche an das Geistesniveau möglicher Führer müssen fortan in steiler Kurve ansteigen (vgl. hierzu die Einleitung zu meiner Schrift Politik, Wirtschaft, Weisheit), also muss Eugenik in irgendeiner Form wohl eingreifen. Das bisher größte Beispiel solcher bieten eben die Juden. Man sage nicht, hier handele es sich um ein Ergebnis negativer Züchtung; dieser Anschauung gegenüber hat Richard Nicolaus Coudenhove-Kalergi3, der in den besten heutigen Juden die ersten Vorläufer der Aristokratie der Zukunft sieht, trotz seiner Unterschätzung des Blutsmoments, des Völkischen überhaupt und trotz des Radikalismus seiner Gesinnung, die eben deshalb den Tatsachen als Verkörperungsmittel des Sinnes nicht genügend Rechnung trägt, das Recht für sich. Die Juden mögen noch so unsympathisch sein, noch so viele unausrottbare Fehler und Schwächen haben, sie sind in ihrer Art höhergezüchtet, als die eigentlich europäischen Völker. Also müssen wir uns, anstatt billig über sie zu schimpfen, an ihnen ein Beispiel nehmen. Wir sollen gewiss nicht Juden werden wollen, aber wir dürfen uns auch nicht bei unserer Unterlegenheit bescheiden, wir sollen Zumindest ebenso lebens- und geistesstark werden wie sie und unser Streben darauf richten, ihnen in allen Hinsichten überlegen zu werden. Da fragt er sich nun: welchen Maßnahmen verdanken die Juden ihre Vitalität? Eine Ursache mag in der Sonderart des Blutes liegen, wie denn die dunklen Rassen im allgemeinen widerstandsfähiger als die hellen sind; vielleicht gilt solches im Höchstmaß von den Juden. Von diesem Faktor müssen wir offenbar absehen, denn soweit er bestimmt, bedeutet er ein Monopol, das wir dem Juden erfahrungsgemäß am wenigsten dadurch abnehmen, dass wir sein Blut dem unserem zumischen.

Dem gegenüber kann von physischer Züchtung auf edle Art hin, wie bei den europäischen Herrenvölkern, bei jenen nicht die Rede sein. Die ganze Eugenik der Juden ist, von der möglichen ursprünglichen Tugend des Blutes abgesehen, geistiger Art gewesen, und das ist es, was sie für uns vorbildlich macht. Die Juden haben den grenzenlos ungünstigen Lebensbedingungen, dem furchtbaren Druck, dem sie als Mehrzahl beinahe ihre ganze Geschichte entlang ausgesetzt waren, widerstanden, weil ihre Religion eine Einstellung verlangte und durchsetzte, die das Sich-selbst-treu-Bleiben und Durchhalten trotz allem zum a priori ihres Volkstums machte. Dieses Problem hat Baeck mit großer Schärfe, Tiefe und Klarheit behandelt, und soweit es historisch und psychologisch ist, wohl auch gelöst. Jehovah hatte Israel auserwählt, damit es seinen Willen tue, in der Auserwähltheit lag also vor allem Verpflichtung und implizite mehr mögliche Strafe als Lohn. Deshalb klafft grundsätzlich kein Widerspruch zwischen jener und seinem steten Versagen: das Unbedingte des göttlichen Willens tritt vielmehr gerade in der unaufhörlichen Gegensätzlichkeit, im nie gelösten Spannungsverhältnis zur menschlichen Sündhaftigkeit, am plastischsten in die Erscheinung. Der steten Gespanntheit nun, welche sein Glaube von ihm verlangte, verdankt das Judentum an erster Stelle seine Lebenskraft und -intensität. Deshalb ist es auch nicht richtig, wie liberalisierende protestantische Theologen so gern behaupten, dass durch das neue Testament das alte überflüssig geworden sei: dieses bleibt die Urkunde ethischer Religion; das alte Testament ist insofern die Wurzel jenes Westländertums, das sich zur Aufgabe setzt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, welche nicht erst auf ein christliches, sondern schon ein jüdisches Postulat zurückgeht. Die Bibel hat gerade wegen des alten Testaments von allen Büchern die größte irdische Wirkung ausgelöst, weil dessen Sinn reines Ethos ist und in seiner monumentalen und ungeheuren Einseitigkeit desto fermentartiger wirkt. Als Sauerteig betrachtet, sind die Juden zweifelsohne das auserwählteste aller Völker der Erde. Dass aber das geistige Prinzip, das sie vertreten, besonderen Bluts bedurfte, bestärkt wieder einmal die alte Menschheitsüberzeugung, dass es sich dabei um einen besonderen Saft handelt.4 — Nun, die Bedeutung des alten Testaments hat kein tiefer Mann der Tat jemals verkannt. Der Protestantismus griff überall, wo er aktivistisch wurde, aufs Alttestamentliche zurück, und dessen Geist viel mehr als dem Jesu Christi verdankt die calvinistische, also die gesamte englisch sprechende Welt ihren irdischen Siegeszug. Aber was fast immer vergessen wird, das ist das doch so Naheliegende, dass eben auch die heutigen Juden dieses Geistes Kinder sind, und dass man die Erfolge der Bolschewistenführer z. B. nur aus eben dem Geist verstehen kann, der einen Cromwell und die Pilgerväter beseelte. Dieser Geist ist grundsätzlich ein fortschrittlicher, nicht allein unter Protestanten, sondern auch in der Gestaltung des orthodoxen Judentums. Dieses war niemals, wie wiederum Baeck sehr einleuchtend ausführt, dogmatisch festlegt — es war dogmatisch nur im Gebot des rechten Handelns. Deshalb konnten die Juden zu aller Zeit, trotz ihres extremen Konservativismus, vorzüglich rerum novarum cupidi sein; deshalb sind sie geistig niemals erstarrt. Liegt nicht auch hierin Vorbildlichkeit? Von diesen Erwägungen her scheint mir die Forderung einer Wiedergeburt des Judentums nicht bloß berechtigt, sondern als solche schon der Weg zu einer neuen historischen Wirklichkeit, die es nach Kräften zu fördern gilt. Das Unsympathische an den Juden ist zum großen Teil Folge jahrtausendelanger Misshandlung. Wer da meint, dass sie niemals ganz sympathisch werden dürften, der bedenke, dass Gleiches von den allermeisten Völkern gilt; auch die Deutschen, schon gar die Belgier, gefallen als Volkscharakter nicht allen Fremden. Aber jeder Volkscharakter kann andererseits veredelt werden, wie denn jeder höchststehende Einzelvertreter findet. Wenn daher die Judenverfolgung endlich vollständig aufhört, dann liegt eine Veredelung der ganzen Rasse durchaus im Bereich praktischer Möglichkeit. Selbstverständlich können die Juden nicht erwarten, wieder zu dem zu werden, was sie zur Zeit der Schöpfung des alten Testaments waren. Höhepunkte als solche kehren niemals wieder; der Zionismus bedeutet insofern nicht mehr als eine romantische Schrulle. Aber jedes Volk von alter Kultur ist grundsätzlich der Renaissance im gleichen Sinne fähig, wie das italienische solche schon zweimal erlebt hat. Die nächstfällige dürfte die hellenische werden. Die Neugriechen werden sich ihrer Verwandtschaft mit den alten immer mehr bewusst; durch Erfahrung darüber belehrt, dass die Übernahme fremd, gewachsener Kultur nicht frommt, wenden sie sich immer mehr den Müttern zu, welche dieses Mal an der Volkspoesie ihren Körper haben; diese erinnert, trotz ihres Lyrismus, der wohl vom slawischen Blutseinschlag herrührt, mehr an Homer als an irgendein anderes… Da die Juden kein politisches Volk sind und wohl für immer ihrer Hauptmasse nach in der Diaspora leben bleiben werden, so steht eine eigentlich völkische Wiedergeburt kaum im Bereich ihrer Möglichkeit. Desto mehr eine geistig-sittliche; aus der elenden Masse der bisherigen Juden mag sich bei neugepflegtem Selbstbewusstsein bald eine Aristokratie edelster Artung herausdifferenzieren, die auf die Dauer typusbestimmend würde; die Ansätze zu einer solchen gibt es schon. Und man sage nicht, dass diese Aussicht durch den Mangel einer politischen Einheit versperrt wird: in der übernationalen, universalistischen Welt, die jetzt entsteht, werden Vereinigungen, wie die erdumspannend-jüdische, leicht die gleiche Basis für den Einzelnen und für Kulturen abgeben können, wie es früher der Nationalstaat allein vermochte5. — Übrigens empfehle ich Baecks Buch durchaus nicht bloß den Interessenten des Judentums: es ist für jeden, den das religiöse und das ethische Problem interessiert, von Wichtigkeit. Es ist ferner für jeden heutigen Deutschen ohne Ausnahme beherzigenswert: aus dem Verständnis dessen, dank wem die Juden durch die Jahrtausende durchgehalten haben, wird ihm am ehesten die richtige Einstellung zum heutigen Schicksal seines Volks erwachsen und aus dieser wiederum die Kraft, dasselbe zu überwinden.

1 Inwiefern es eine Gemeinheit ist, die Juden auf die Weise zu verfolgen, wie dies seitens nationaler Kreise leider so oft geschieht, und geradezu ein Verrat am Deutschtum, hat Wilhelm Michel in seiner gleichnamigen Streitschrift (Hannover und Leipzig, Paul Steegemann Verlag) sehr schön auseinandergesetzt.
2 Die Kunst der Politik, München, Georg Müller-Verlag. Es ist das vielleicht lehrreichste deutsche Buch über Politik, von dem ich wüßte.
3 Man lese seine Broschüre Adel Leipzig 1922, der Neue Geist Verlag.
4 Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht verfehlen, auf das bisher beste Buch über Rassefragen hinzuweisen: es ist Reibmayrs Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies. München, J. F. Lehmann’s Verlag. Jeder, zumal wer sich für Eugenik interessiert, sollte es lesen.
5 Man lese in diesem Zusammenhang meinen Vortrag Wirtschaft und Weisheit in Politik, Wirtschaft, Weisheit, Darmstadt 1922.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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