Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

4. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1922

Bücherschau · Franz von Assisi

Das Problem der fermentartigen Bedeutung, welche Hans Blüher sowohl als dem Judentum zukommt, bringt mich dazu, einige Worte über das große Erlebnis zu sagen, welches mir im vergangenen März zuteil ward: das Erlebnis des Franz von Assisi. Ich verbrachte mehrere Wochen dieses Monats teils in Assisi selbst, teils im übrigen Umbrien, deren längste Zeit an den geheiligten Stätten der Franziscus-Legende meditierend. Dabei wurde mir die wundersame Gestalt des Poverello greifbar lebendig. Ich bedurfte ihres Einflusses: mir war bewusst geworden, dass just einem Menschen meiner Strebensrichtung ein gewisser Prozentsatz franziskanischer Demut nottut, denn dem, der sich dem Logos verschrieb, droht wieder und wieder die Gefahr des Luzifer. Und über die Maßen heilsam ward mir das Nacherleben der Franziskus-seele. Besonders die Legende hat meine Seele befruchtet, in welcher Franz auf seine Art die wahre Seligkeit bestimmt: nicht Redegewalt, nicht Wissenschaft, nicht Bekehrungserfolg, nicht Gnade von oben, nicht einmal Gottnähe bedeute die höchste Seligkeit, sondern die Freudigkeit in der Erniedrigung. Denn alles Gute komme von Gott, wir selbst hätten ein Verdienst nur an der Art, wie wir das Übel tragen. Auf die innere Einstellung einerseits, deren Charakter vom freien Willen abhängt, und das, was wir aus unseren Anlagen selber machen, kommt in der Tat alles an.

Diese Wahrheit hat Franz allerdings in ungeheuer einseitiger Fassung vertreten. Aber das Große an ihm war, dass er sich dieser seiner Einseitigkeit auch voll bewusst war: die Minoriten wollten und sollten nicht mehr sein, als ein Sauerteig innerhalb der Menschheit. Und das sind sie geworden. Ferner vollendete der als Vollendungstypus sehr einseitige heilige Franz in seiner Persönlichkeit ein Wichtigstes der Menschenseele und erteilte durch sein Beispiel den entsprechenden Kräften und Keimen überall einen Wachstumsantrieb. So hat er nicht allein bei seinen Lebzeiten die verkommende Kirche recht eigentlich regeneriert: so bedarf gerade die heutige erkenntnisstolze Menschheit in besonderem Grad der Betrachtung der demutsvollen Ergänzung ihrer Art, die sich im Poverello verkörperte. Besonders gut tut nun Versenkung in das Franziskanertum dem Weisheitsjünger. Dieses bedeutet seiner Gattung genaues Komplement. Wer nach Italien kann, versäume ja nicht, Umbrien zu besuchen: die heiligen Stätten stehen noch heute im großen Ganzen so da, wie Franz sie verließ. Sonst studiere er die Schriften, welche sein Wesen am besten schildern. Unter diesen steht an weitaus erster Stelle das berühmte Buch Paul Sabatiers (Paris, Fischbacher); sehr geschätzt wird ferner das des dänischen Konvertiten Johannes Jørgensen, dessen genauer Titel* mir entfallen ist. Aber mehr als letzteres möchte ich das zweibändige Buch San Francisco de Asis der spanischen Gräfin Emilia Pardo Bazán (Ausgabestelle: Madrid, Calle de S. Bernardo 37) empfehlen, weil dieses die Erscheinung des süßen Heiligen mit großartiger Plastik auf dem Hintergrunde des gewalttätigen Mittelalters darstellt. Spanier sind wie kein anderes Volk berufen, das Mittelalter zu schildern, weil ihr Katholizismus und ihre spezifische Ritterlichkeit noch heute in hohem Maße dem Geist des 13. Jahrhunderts entsprechen; auch von der Sprache gilt dies. Nun wird der heilige Franz in seiner Süßigkeit dann erst ganz gewürdigt, wenn man seine Gegensätzlichkeit zur unerhörten Rauheit und Roheit seines Jahrhunderts realisiert, welche die Spanierin, wie gesagt, selten eindrucksvoll zum Leben wiedererweckt. — Dies führt mich denn zum Problem der Fermentwirkung zurück. Keine Bewegung, vom Einzelnen zu schweigen, kann mehr bedeuten, als eine Beschwingung des allgemeinen Fortschritts durch einseitige Betonung dessen, was zur Zeit besonders nottut. So hat der heilige Franz eben deshalb seiner Zeit Unermeßliches bedeutet, weil er sich so sehr von ihrem Normaltypus unterschied. So kann auch der Impuls der Schule der Weisheit nicht mehr Bedeutung beanspruchen, wie die eines Ferments. Aber es ist meine Überzeugung, dass gerade dieses Ferment vor allen im 20. Jahrhundert die Menschheitsentwicklung fördern wird.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME