Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Bücherschau · Lothrop Stoddard

Europa ist nur mehr auf einen neuen Zustand hin zu verstehen. Wie sehr diese Behauptung zutrifft, wird einem besonders klar, wenn man den Blick auf Amerika hinüberwendet: Erschien dieses Land vor dem Krieg als das der Zukunft, so mutet es heute alle, die es von hier aus besuchen, als der Hort fernster Vergangenheit an. Dort genießen die Oberschichten noch eine privilegierte Stellung, deren die europäischen allgemach entwöhnt sind; dort herrscht, verglichen mit dem des neuen Deutschland, mittelalterlicher Geist; dort wird der mildeste Sozialismus allgemein so beurteilt wie der blutigste Bolschewismus etwa von einem preußischen Reaktionär. Der Amerikaner fühlt sich uns gegenüber natürlich desto vorgeschrittener: dass er hierin irrt, bedarf keines Nachweises. Um so lehrreicher sind für uns die Probleme seiner Zurückgebliebenheit, denn gemäß dem spiralförmigen Weg des geschichtlichen Fortschritts stellen sich die gleichen in der Tat auch unserer Zukunft — nur auf erhöhter Basis. Was die Amerikaner heute beunruhigt, ist die Gefährdung der im Aussterbezustand befindlichen ältesten Oberschicht durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Dieses Problem ist nun grundsätzlich kein anderes als das der russischen Herrenklasse vor deren Fall; praktisch stellt es sich gleichwohl völlig anders dar, weil die Herrenschicht drüben die Besserung des allgemeinen äußeren Zustands längst durchgeführt hat, und zwar in einem in Europa noch unbekannten Grad, um welche die meisten Revolutionen der alten Welt gemacht werden. Deshalb denkt man in Amerika, um das Unheil abzuwenden, auch nicht an äußere Maßnahmen — man denkt vor allem an eine Besserung der Rasse. Man trachtet unmittelbar die Blutsbasis zu schaffen für eine neue Aristokratie.

Gleiches tut auch hier not; auch in Europa wird der uralte Züchtungsgedanke, der alle Kulturblüten bisher herbeigeführt hat, neu aufleben. Auch hier wird die Fortpflanzung des Minderwertigen notgedrungen eingeschränkt, wenn nicht verhindert, auch hier wird edles Blut bald neu privilegiert werden. Sobald die äußeren Lebensumstände allgemein erträglicher gestaltet worden sind, wird der Bedeutsamkeitsakzent von selbst auf das andere Hauptmoment im Fortschritt, die Vererbung, zurückgleiten, und sollten die äußeren Probleme einmal vollkommen gelöst sein (welche Möglichkeit allerdings nur im Begriff besteht), dort wohl auch dauernd ruhen bleiben. Nur werden wir das Problem so radikal kaum je zu stellen brauchen, wie dies Lothrop Stoddards neues Buch The revolt against civilisation (New York 1922, Charles Scribners Sons), welches mir den Anlass zu dieser Betrachtung gibt, darstellt: unsere Unterschichten sind nicht minderwertig wie die Amerikas, welches ethnisch den Zustand Indiens wiederholt und deshalb eigentlich eine richtige Kastenordnung einführen sollte, falls es der sonst wahrscheinlich unvermeidlichen Mexikanisierung entgehen will; sie kommen, im großen betrachtet, rechtmäßig hoch; wenn wir eine neue Aristokratie anstreben, so tun wir’s deshalb, weil wir einen höheren Gesamtzustand wollen als den aristokratischen von einst; wir sind Amerika gerade biologisch um Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende voraus. So vertieft denn diese Betrachtung den Eindruck, dass es sich bei Amerika neuerdings um ein zurückgebliebenes Land handelt, das sich, von höherer Warte aus betrachtet, nicht viel anders darstellt als seinerzeit das früheroberte Ägypten oder Indien. Dennoch sind die Probleme der Amerikaner für uns, wie gesagt, äußerst beherzigenswert, nämlich als Erfahrungsmaterial für unsere künftige höhere Eugenik. Die Amerikaner, die am schnellsten demokratisiert haben, haben deshalb eines feststellen können, was man hier noch gar nicht zu erkennen Gelegenheit hatte: nämlich dass die Leichtigkeit des Talentaufstiegs die Unterschichten an Begabung sterilisiert. Wenn alle Begabten sozial aufrücken, so bleibt unten auf die Dauer nichts mehr übrig, und wenn die Oberschichten unfruchtbar werden, was beim Raubbau, welchen das Leben drüben an der Rasse treibt, gar schnell geschieht, so droht dort tatsächlich der Untergang alles begabungstüchtigen Bluts. In Amerika ist diese Gefahr in der Tat sehr groß, eben wegen der Minderwertigkeit der späteren Einwanderung und des besonders Aufreibenden des amerikanischen Lebens; dort mag wirklich zuletzt, falls dem Naturprozess nicht vom Geist her Einhalt geboten wird, der Neger zum Alleinherrscher werden, wie er es ja auch in Afrika (vgl. die Forschungen von Leo Frobenius) erst geworden ist, nachdem dessen große Kulturvölker ausgestorben waren. Uns Europäern droht diese Gefahr in geringerem Grad — doch sie droht auch uns. Deshalb müssen auch wir frühzeitig daran denken, dem Rassenselbstmord der Begabten Einhalt zu gebieten.

Wie dies geschehen könnte, darüber lese man Stoddard und andere Eugeniker nach. Ich mag hier kein Urteil fällen, da wir über die Vererbungsgesetze noch zu wenig wissen, um Begabungshochzucht mit Erfolg zu treiben. Die amerikanischen Ansprüche sind für uns auch zu gering: dort gilt ein normal gebildeter Mann schon als Kulturideal und eine Familie als hochstehend, welche hundert Jahre in liberalen Professionen tätig war. Worauf ich hier noch die Aufmerksamkeit lenken möchte, ist der ausgesprochen nichthumunitäre, beinahe menschenverächterische Zug, der auch das fortgeschrittenste Denken der Neuen Welt beseelt. Ruhig wird dort heute die Sterilisierung von Millionen als zweckmäßige Maßnahme erwogen. Die Welt ist doch schon sehr einheitlich geworden. Bolschewismus und Fascismus sind, mögen sie im einzelnen noch so viel härter zupacken, keines wesentlich anderen Geists. Überall wird der Einzelmensch weniger ernst genommen als irgendwo und -wann im Westen seit der Aufklärungszeit. Dean Inge, einer der ersten Kirchenfürsten Englands, scheut sich nicht, Stoddards Gesichtspunkte seinerseits öffentlich zu vertreten (man lese seine Outspoken Essays). Das Erstaunlichste in dieser Hinsicht erlebte ich anlässlich eines Quäkerbesuchs. Der betreffende Quäker, welcher das Elend in Mitteleuropa eingehend studiert hatte, meinte zu mir geradezu, wenn man der heutigen Menschheit wieder aufhelfen wolle, so müsste man in der einen Hand Millionen, in der anderen eine — Morphiumspritze haben; dies (wie ich ausdrücklich feststellte) um den unrettbar Minderwertigen schmerzlos ins Jenseits hinüberzuhelfen. Wahrscheinlich ist solch harte Gesinnung heute überall geboten. Mehr noch: wahrscheinlich liegt das Zeitalter einer sentimentalen Humanität für immer hinter uns. Bernard Shaw, dessen letzte Komödie Back to Methusalah bis ins Jahr 34000 nach Christo hinüberspielt, weiß schon vom nächsten Jahrtausend ab von keiner Achtung des Lebens als solchen mehr zu berichten. Was wird erst werden, wenn die Wiederverkörperung zum allgemeinen Glaubens, oder gar Erkenntnissatze würde (man gedenke der Möglichkeiten, auf welche die Experimente hinweisen, die im von Graf Hardenberg, Dr. Happich und mir gemeinsam verfassten Buch Das Okkulte beschrieben und verarbeitet sind)? Vielleicht werden die härteren Völker unter uns mit ihren missglückten Exemplaren alsdann nicht anders wie mit Schlachtvieh umspringen…

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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