Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

5. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1923

Bücherschau · Ludwig Klages

Neben Spranger hatte ich mir einen Teil der Schriften von Ludwig Klages für meine Sommerferien mit hinausgenommen. Und finde nun, dass diese Lektüre zu einer unmittelbaren Fortsetzung der letzten Betrachtungen willkommenen Anlass gibt. Dass Klages, als Graphologe Autorität, neuerdings auch als Philosoph gewürdigt zu werden beginnt, ist ein Zeichen unter anderem der Tatsache, dass schon recht weite Kreise der Grenzen des Begriffs bewusst zu werden beginnen. Für Klages ist das Bild das schlechthin Wirkliche.

Wirklich ist alles Bildliche, unwirklich das bloß Gedankliche.

Von Klages besonderer Metaphysik gibt die folgende Erläuterung des zitierten Satzes (Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1921, Wilhelm Engelmann, S. 128) einen vorläufigen Begriff:

Wenn sehr frühe sowohl das indische als auch das griechische Meditieren darauf verfiel, die einzig wirkliche Wirklichkeit der Bilder eine Wirklichkeit der Erscheinung zu nennen, und damit die Frage aufwarf, was denn in ihr erschiene, so darf uns die ausnahmslos fehlgreifende Antwort, es sei das der Geist, der Logos, die Idee, oder denn die Materie, das Ding, darüber nicht täuschen, dass der ursprüngliche Anstoß zur Bildung des Erscheinungsbegriffs im nämlichen Erlebnis liege, welches auf einer noch früheren Stufe der Menschheit die Dämonisierung der Welterscheinung und im Anschluss daran die sinnbildende Auffassungsweise veranlasst hatte. Wäre der Mensch, statt machtbegierigen Geistes von der Wirklichkeit sich zu lösen, dem Sinn der Symbole nachgegangen, die sein noch weltverwobenes Schauen zu finden vermochte, so hätte er den logozentrischen Irrweg vermieden und wahr gedeutet, was sogar heute noch jeder erlebt, dessen Eigenleben tief genug reicht, um empfängnisfähig zu sein: dass nämlich das in den Bildern Erscheinende und mithin eigentlich Wirkliche die Seelen der Bilder sind! Die Wirklichkeit der Bilder ist eine Wirklichkeit der Erscheinung, sofern sie eine Wirklichkeit erscheinender Seelen oder, da Seelen jedenfalls leben, eine Wirklichkeit des unablässig sich wandelnden Lebens ist. Die Steigerung: wirklich, wirklicher, am wirklichsten, meint: lebend, lebender, am lebendsten; und der Grund aller weltangemessenen Wertabstufung liegt im Grade der Lebensfülle.

Ich sehe zunächst von jeder Kritik dieser Sätze ab: Klages Absicht ist insofern richtig, als in der Tat als jenseits des Ausdrucks nur sein Sinn, synonym mit Leben, zu fassen und jeder Ausdruck bildhaft ist (vgl. Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben in Schöpferische Erkenntnis). Deshalb darf der Begriff als solcher niemals als letzte Erkenntnisinstanz gelten — es kommt darauf an, welche Meinung er zum Ausdruck bringt. Diese Erkenntnis beseelt nun Klages graphologisches und charakterologisches Schaffen durchaus. Ich wüßte insofern keine bessere Einführung in die Lehre vom Ausdruck als Korrelat des Sinnes zu empfehlen als das obenangeführte Werk und in noch höherem Grade wahrscheinlich die mir bisher unbekannt gebliebenen Schriften des gleichen Verfassers Prinzipien der Charakterologie und Probleme der Graphologie (Leipzig, Johann Ambrosius Barth). Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft enthält überdies das beste mir bisher bekannte über das Wesen des Willens (S. 79 ff.)1, als welcher nichts Schöpferisches ist, sondern vielmehr lediglich einen Hemmungsmechanismus darstellt; schöpferisch ist, in der Tat, allein die Phantasie (vgl. den Vortrag Der Weg in Schöpferische Erkenntnis). — Aber noch mehr als um seiner Vorzüge willen ist Klages wegen seines Unzulänglichen lesenswert: ich kenne kein lehrreicheres Beispiel übertriebener Reaktion gegen Vernunft und Geist als ihn. Selbstverständlich ist Geist an sich nie Leben, und gegen die folgenden Sätze auf S. 56 des zitierten Werks an sich wäre nichts zu sagen:

Wir haben es in den letzten anderthalb Jahrzehnten mit ansehen können, wie mechanistische und telelogische Biologie mit unbestreitbaren Widerlegungen ihrer beiderseitigen Aufschlüsse darüber einander vernichten, und dürften leichter als frühere Geschlechter zur Einsicht kommen, dass beide nur gegensätzliche Spielarten des nämlichen Irrtums sind, indem sie so oder so mit den Mächten des Lebens die geistigen Akte vertauschen, die wie der aufzuckende Blitz das vor, her bloß unsichtbare Wogen der Landschaft, ebenso zielvolle Abläufe zwar augenblicklich beleuchten, niemals aber sie schaffen.

Aber die folgende Betrachtung über den Mythos des Schleiers der Isis, aus dem Kosmogonischen Eros (München 1922, Georg Müller Verlag), S. 167 ff., weist schon auf den Irrweg hin, auf dem sich der Metaphysiker Klages schließlich ganz verliert:

Weshalb will der Jüngling den Schleier heben? Aus Forschbegierde oder, ganz nüchtern gesprochen, aus Neugier. Zwischen Forschtrieb und Neugierde besteht kein essentieller Unterschied. Jener wie diese entspringt aus einer Beunruhigung des Verstandes, und den Verstand beunruhigt alles, was er noch nicht besitzt… Wer das Weltgeheimnis erforschen will, der will sich seiner bemächtigen (entgegengesetzt dem Mysten, der sich hingibt und bemächtigt wird). Und wessen der Geist sich bemächtigt, das ist unfehlbar entzaubert und es ist mithin zerstört, wenn es dem Wesen nach ein Geheimnis war. Der geistige Bemächtigungswille ist Frevel am Leben, darum trifft den Frevler der rächerische Rückschlag des Lebens… Was sah denn eigentlich der Jüngling?… Er sah mit einem Schlage die Wahrheit, die sich dem forschenden Verstande als letzte und äußerste bietet. Was ist das für eine Wahrheit? Nun, man verfolge die Geschichte des Geistes und insbesondere der Wissenschaften durch alle Zeiten und Völker, oder man denke auch nur ein Problem zu Ende so, wie es uns die späteste Wissenschaft die von heute, darlegt … und man endet zuletzt unweigerlich beim absoluten Nichts. Alle Richtungen des Erkenntnistriebes konvergieren auf das Nichts (d. i. auf die Projektion des aktiven Nichts des Geistes)… Der Wille der verstandesmäßigen Wahrheit ist der Wille zur Entwirklichung der Welt.

Inwiefern diese an sich zum Teil noch richtigen Sätze in eine falsche Richtung weisen, machen nun die folgenden endgültig klar:

Die Kraft, die aus dem Menschen sich gegen die Welt aufbäumt, ist genau so alt wie die — Weltgeschichte. Der Geschichte genannte Entwicklungsgang, der aus der Kreisbahn des Geschehens hinausführt und fürder nicht zu vergleichen ist dem Schicksal sonstiger Lebewesen, beginnt in eben dem Augenblick, wo der Mensch den Zustand des Paradieses verliert und unversehens mit entfremdeten Blicken in nüchterner Helle draußen steht, entrissen dem unbewussten Zusammenhange mit Pflanzen und Tieren, Wässern und Wolken, Felsen, Winden und Sternen… Dies ist überall der eine und selbe Sinn jener Neugestaltung, mit der die Geschichte anfängt: dass über die Seele erhebe sich der Geist, über den Traum die begreifende Wachheit, über das Leben, welches wird und vergeht, ein auf Beharrung gerichtetes Wirken. Im Jahrtausende vorher eingeleiteten Werdegang der Geistentfaltung war das Christentum nur der letzte und entscheidende Schub, demzufolge die Entwicklung aus dem Zustand der noch ohnmächtigen Erkenntnis heraustretend nun auch den Willen durchdrang und in den mörderischen Taten, von denen seither die Geschichte ununterbrochen widerhallt, für jeden nicht völlig Verblendeten offenbarte: dass eine außerweltliche Macht in die Sphäre des Lebens einbrach. — Dafür die Augen zu öffnen, ist das einzige, was wir vermögen. Wir sollten endlich aufhören, zu vermengen, was im tiefsten gespalten ist: die Mächte des Lebens und der Seele mit denen des Verstandes und des Willens. Wir sollten einsehen, dass es zum Wesen des rationellen Willens gehöre, den Schleier der Maya in Fetzen zu reißen, und dass eine Menschheit, die sich solchem Willen anheimgegeben, in blinder Wut die eigene Mutter, die Erde, verheeren müsse, bis alles Leben und schließlich sie selbst dem Nichts überliefert ist… Keine Lehre bringt uns zurück, was einmal verloren wurde. Zur Umkehr hülfe allein die innere Lebenswende, die zu bewirken nicht im Vermögen von Menschen liegt. (Mensch und Erde, München 1920, Georg Müller Verlag, S. 41 ff.)
Auf die Freiheit des Willens pochend, sind wir zu Sklaven des Machinalismus geworden. Zum Beweise dafür, dass demgegenüber die gesamte Antike im Grunde pathisch gesonnen war, mag es genügen, an jene Mächte zu erinnern, denen alle noch quellnahen Völker selbst die gewaltigsten ihrer Götter unterworfen dachten: an die Moira, Heimarmene, Dike, Anangke sowie an die Parzen der Griechen; an die Fata der Römer; die Belisava und die Feen der Kelten: die Wala und die Nornen der Germanen. In ihnen allen spiegelt sich u. a. der in Lebentiefen wurzelnde Glaube an das geheimnisvoll nicht zu berechnende Walten eines Schicksals, dem nicht einmal göttliche Willkür, geschweige denn menschliche zu widerstehen oder zu entrinnen vermöchte. Und wer das nun wieder erkannte, der kann nichts mehr wollen (es sei denn sein Werk) und sieht nur mit Grauen auf den Irrsinn der Tatenden. Und weil er nun nicht mehr geistentledigt im Leben steht — das hieße in der währenden Ekstasis, wo es kein Suchen, Fragen, Streben, Urteilen, Wollen mehr gibt — so wird er zum tatvermeidenden Betrachter des Lebens. Wollen ist das Merkmal der Blindheit, nicht mehr Wollen können, das Merkmal der Entblindung. Und fragte man nun ihn, was sollen wir tun, was müssen wir lassen, so könnte er nur dies erwidern: Haltet euch bereit und würdig des Augenblicks der Empfängnis. Und sollte der auch niemals kommen, so tatet ihr doch das einzige, was ihr vermochtet, um — eure Seele zu retten!
(Vom Wesen des Bewusstseins, Leipzig 1921. J. A. Barth, S. 51; diese Schrift gibt das beste Gesamtbild von Klages’ Erkenntnistheorie und Metaphysik.) —

Hier dürfte jedem Kenner meiner Schöpferischen Erkenntnis schon klar sein, worin Klages’ Fehler liegt: aus einer von Hause aus richtigen Einschätzung der Verstandes- und Willenswelt zieht er nicht den Schluss, dass eine neue höhere Synthesis geschaffen werden muss, in welcher der entfremdete Geist wieder zum Diener des Lebens auf einer erhöhten Stufe seiner würde, sondern er predigt Absage an alle Wachheit, alles Denken und Wollen. Dies tun nun freilich sehr viele, denn diese Lösung liegt bei weitem am nächsten; gar wenige besitzen genügend innere Kultur, um nicht dem natürlichen Verallgemeinerungstrieb nach der Richtung des geringsten Widerstandes hin zu verfallen; um ihrer selbst willen hätte ich die langen Zitate auch nicht angeführt. Dies tat ich deshalb, weil in Klages das Warum einer häufigen Unzulänglichkeit außerordentlich klar in die Erscheinung tritt. Klages ist wesentlich Spezialist, und dementsprechend fehlt ihm notwendig der Überblick. Was innerhalb seines normalen Gesichtskreises — dem des Graphologen und Charakterologen — richtig ist, das extrapoliert er auf weitere Zusammenhänge — und dort wird es falsch. Jeder lebendige Standpunkt beherrscht nur einen bestimmten Horizont. Klages durfte nicht Metaphysik treiben als unmittelbares Ziel. Er hätte dabei bleiben sollen, seine metaphysischen Einsichten, deren er unzweifelhaft viele und tiefe besitzt, im Hintergrunde walten und nur gelegentlich in die von seiner Anlage selbstverständlich beherrschten Bereiche einfließen zu lassen. Weil er kein geborener Metaphysiker ist, deshalb ist der Kosmogonische Eros, trotz des schönen Titels und manches Tiefen und Guten, das er enthält, Klages’ weitaus schwächstes Werk. Seine Anlage ist, wie die jedes, auch des größten Spezialisten, eine kleinliche, was sich schon darin erweist, wie völlig schief er die meisten großen Denker (so Sokrates, Plato, Schopenhauer, Bergson, Kant) beurteilt: um kleiner Irrtümer willen verwirft er alles; Gleiches erweist sein ganz auffallend schlechter Stil, obschon andererseits niemand vielleicht besser als er über das Formniveau von Handschriften bisher geschrieben hat. Um so besser erscheint Klages Anlage noch einmal, den Aufgaben der eigentlichen Ausdruckskunde, die ja sein eigenstes Gebiet ist, gewachsen, und mit diesem positiven Hinweis möchte ich diese Betrachtung abschließen. Wer unser Wollen bejaht, der lese unbedingt auch Klages. Eine Menge der Spezialprobleme des Ausdrucks, als Korrelats des Sinns, wird er in seinen Schriften besser als irgendwo sonst behandelt und zum Teil gelöst finden. Im übrigen werden ihn Klages’ Irrtümer deshalb mehr noch vielleicht als seine Erreichnisse fördern, weil ihm auf dem Hintergrunde dieses Negativs das Positiv der neuen Synthesis von Leben und Geist, die wir anstreben, besonders deutlich werden dürfte.

1
Es enthält überhaupt sehr viele treffliche Einzelbetrachtungen. Eine für das Verständnis der Methode der Schule der Weisheit besonders wichtige setze ich in extenso her (l.c. S. 202):
Nicht durch ethische Unterweisung zerstören wir heute die Konstitution der Naturvölker, sondern indem wir ihr launisches Naturell durch eine aufgezwungene Rechtspraxis zu regelmäßiger Arbeit nötigen. So bereitet, wer sich Geduld auferlegt, die innere Ataraxia vor, die zwar nach Zone und Volksart wechselnde Bekenntnisse zeitigt: sie gehörte zum Kern christlicher und hat noch heute Teil am Wesen wissenschaftlicher Gesinnung. Langsam und an den scharfen Riffen des Verstandes zu tausend Rinnsalen zersplittert, folgen den modelnden Bräuchen die Einsichten und Sätze — wie in der Wissenschaft die Wahrheiten den Methoden — und sie können längst in der Wüste des Denkens vertrocknet sein, wenn der ursprüngliche Antrieb in Riten und Zeremonien noch immer Seelen bändigt. — Mit vollem Bewusstsein begriffen freilich, dass nicht Ansichten, sondern Ausübungen und Enthaltungen das Mittel alles Geisteszwangs sind, hat nur der Buddhismus und im Abendland die mittelalterliche Mystik. Erproben aber kann es jeder noch jeden Augenblick. Man versuche, einen Tag lang durchaus zu schweigen, und man wird Wandlungen der Seele beginnen fühlen. Weltflucht und Eremitismus erzeugen mit der Äußerungsruhe zugleich einen anderen Zustand der Seele, der bald dem von Träumen durchzogenen Schlafe ähnelt, bald auch einer beständigen Helle. In der Region der Überzeugungen bricht sich der Strahl des Geistes an der Vielheit der Gegenstände: die beliebig oft wechselnden Weltanschauungen eines Menschen sind nur verschiedene Weisen, wie sich ein und derselbe Charakter mit neuen Erfahrungsinhalten abfindet. Es ist dabei der Charakter der tätige, nicht der leidende Teil. Ihn aber modelt von innen das organische Wachstum des Leibes; von außen, was immer ihm neue Gewohnheiten aufzudrängen imstande ist: ein körperlicher Unfall, Armut, Reichtum, ein Amt, eine Einsiedelei, am dauerndsten und mächtigsten vielleicht die Rechtsatmosphäre, die er atmet.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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