Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

7. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924

Zum Problem des Führertums

Im zweiten Heft dieser Mitteilungen führte ich unter anderem aus, dass es in Deutschland deshalb keine Führer gibt, weil kaum jemand weiß, was Führerschaft bedeutet; dass es sich bei solcher um eine besondere Seelenqualität handelt, völlig unabhängig von Wissen, Können, Reife, Erfahrung und Alter; eine Qualität, die als solche erkannt werden muss, wofern sich echte Führer finden sollen. Heute möchte ich meine damaligen Betrachtungen, auf Grund späterer Erlebnisse, durch einige Hinweise ergänzen, die mir zur Erziehung zum Führertum besonders förderlich scheinen.

Alle Welt ist darüber einig, dass das deutsche Volk von allen das am meisten durch Neid belastete ist. Schon deshalb allein erträgt es nur ausnahmsweise die rechten Männer an seiner Spitze. Ist Neid nun abzuerziehen? Unmittelbar wohl kaum. Er schwindet aber erfahrungsgemäß von selbst überall, wo sich das Selbstbewusstsein hebt, weil nur der sich klein Fühlende beneidet, so dass der tiefste Grund der Neidhaftigkeit des Deutschen kein anderer sein dürfte, als dessen Minderwertigkeitsgefühl. Also gilt es dem Deutschen Selbstbewusstsein beizubringen, wofern man ihn vom Neid befreien will. Zur Heilung des Minderwertigkeitsgefühls (und zugleich der Überheblichkeit, welche ihrerseits die gleiche Unsicherheit beweist) hat nun die Psychoanalyse, hier in erster Linie Adlers Individualpsychologie, schon allgemeingültige Methoden entdeckt. Hinsichtlich dieser studiere man die einschlägige Literatur. Ich will an dieser Stelle nur den begonnenen Gedankengang auf das bestimmte Ziel möglichen Führertums hin weiter verfolgen. Minderwertigkeitsgefühl besteht immer mit Angst zusammen. Folglich muss auch Angst Führerschaft, im aktiven wie passiven Sinne, hindern. Dies ist nun so sehr der Fall, dass ich in der typischen deutschen Ängstlichkeit die Hauptursache dessen sehe, warum es in Deutschland so selten Führer gibt. Dem Deutschen fehlt typischerweise die Zivilcourage; inwiefern sein unbezweifelbarer physischer Mut dieser Bestimmung nicht widerspricht, lehrt die eine Erwägung verstehen, dass man aus moralischer Feigheit körperlich tollkühn sein kann. Und zwar musste der Deutsche, wie er bisher erzogen wurde, typischerweise moralisch feige sein, weil die Grundeinstellung auf Sachlichkeit als letzten Wert in jedem Sinn keinen in sich selbst, in seinem subjektiven Fühlen und irrenden Wollen, ein Letztes anzuerkennen erlaubte. Sobald einer nun sein lebendiges Wesen als für sich Letztes nicht anerkennt, muss er sich minderwertig fühlen, denn jenes ist tatsächlich, was immer er theoretisch vorschütze, seine letzte Instanz. Und sobald einer jenes anderen gegenüber nicht tut, muss er ihr Subjektives vergewaltigen wollen. Aus diesem Grunde versteht beinahe jeder Deutsche unter Autorität Gewalt. In Wahrheit widersprechen sich beide Begriffe: Autorität ist einzig das freiwillig als Macht Anerkannte. Aber was bedeutet Freiwilligkeit, wo das Subjektive an sich nichts bedeutet? — So kennt der Deutsche typischerweise keine Autorität, außer wo er katholisch ist oder wo Autoritätsglaube nur Denkfaulheit bedeutet, und weiß sich den großen Mann nur in Form des Feldwebels vorzustellen.

Dem Vergewaltiger gegenüber ist Angst die normale, unwillkürliche Reaktion. Da nun kein Deutscher des anderen Subjektives selbstverständlich anerkennt, sondern nur Sachliches wertschätzt, so hat jeder Deutsche zunächst Angst vor dem anderen. Mag diese sich nun nach außen zu noch so oft als Pseudo-Hingabe an den Stärkeren äußern — im Unbewussten bedingt sie eine allgemeine Abwehreinstellung. Diese letztere ist es nun, die letzten Endes jede Führerschaft unmöglich macht. Führen beruht überall auf Suggestion, diese aber wirkt nur dort, wo Wille nicht entgegenarbeitet. Und beim Deutschen arbeitet der Wille immer entgegen, weil er ja als solcher nicht anerkannt wird und sich desto mehr im Hinter- und Untergrunde spreizt. Genügen diese kurzen Erwägungen nicht schon, um die typische Zersplitterung und Ohnmacht des deutschen Volkes zu erklären? Auch der deutsche Individualismus beruht weit häufiger auf Angst als auf Originalität…

Doch nun zum Heilmittel. Die innere Freiheit und Unbefangenheit des Engländers beruht einzig darauf, dass jedem von Kind auf selbstverständlich sein Wille und seine Meinung als letzte Instanzen zugestanden werden, ganz einerlei, was sie sachlich wert sein mögen. Dort kommt keiner je darauf, einen Willen brechen zu wollen, dort gilt Vergewaltigung grundsätzlich als unanständig. Dementsprechend fehlt in der englischen Seele typischerweise jede Abwehreinstellung anderen gegenüber; dementsprechend öffnet sie sich typischerweise dem Einfluss, welcher sie fördern kann. — Nun, deshalb fehlt es in England nie an Führern. Deshalb vor allem ist der Engländer der neidloseste aller Europäer, denn wo jeder in seinem Dasein selbstverständlich gelten gelassen wird, dort wächst kein Minderwertigkeitsgefühl. Aus diesem einen Grunde beweist der Engländer, wohin er auch gehe, die stärkste werbende Kraft, denn sobald ein Volk seinen Willen ungefährdet fühlt, unterliegt es mit Begeisterung der Suggestion der Superiorität.

Der Engländer ist insofern nur anders eingestellt und seelisch gebildet als der Deutsche; hier kommen Rassenunterschiede nur allenfalls als Erleichterungen oder Erschwerungen in Frage. Es gab auch von jeher einzelne Deutsche, welche, in günstiger Umgebung erwachsen, von den deutschen sogenannten Erbfehlern frei waren. Was nun in Deutschland bisher nur von seltenen Einzelnen galt, sollte allgemach von allen gelten. Das ist zu erreichen. Bei genügend tiefer Einsicht in die Ursachen und den Sinn der deutschen Nationalfehler, von denen dieser Aufsatz handelt, und bei entsprechenden Ansätzen in der Volkserziehung, kann jenen ohne Zweifel auf die Dauer abgeholfen werden.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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