Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

8. - 9. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1924

Heilkunst und Tiefenschau · Hauptgefahr der Psychoanalyse

Hier wäre ich denn schon mitten drin in der Betrachtung der Hauptgefahr, welche psychoanalytische Behandlung verkörpert. Eine Synthese überträgt sich ausschließlich durch Suggestion (so wie ich deren Begriff im Kapitel Der Weg der Schöpferischen Erkenntnis bestimmt habe). Insofern der Arzt notwendig, was immer er behaupte, auf Synthese aus ist, überträgt er zwangsläufig, in höherem oder geringerem Grade, die Synthese, die seinen Geist bestimmt, zugleich mit der, die er im Patienten schaffen will; dies geschieht schon wegen der Übertragung im technischen Verstande und dem Hingabeverhältnis, in das sich jeder Kranke, welcher zum Arzt geht, selbstverständlich begibt. Ist sein persönlicher Einfluß nun ein ungünstiger, oder legt er den Nachdruck im Patienten falsch, so muß er ihn verbilden. Erweist sich dieser als stark genug, um den ärztlichen Einfluß zu vertragen, so ist dies sehr erfreulich, ändert aber nichts an dem Problem und nimmt dem Analytiker nichts von seiner Verantwortung. Und hier läßt sich der allgemeine Satz verfechten, daß jeder Analytiker schädigend wirken muß, der in seiner Weltanschauung den Hauptnachdruck auf das Triebleben legt und darauf hinarbeitet, auch im Bewußtsein des Patienten den Nachdruck auf dieses zu legen. Gewiß spielt das Triebleben die Hauptrolle nicht allein bei allen ernstlichen Erkrankungen, sondern auch als Wurzel alles höheren Lebens; aber dieses fällt mit jenem nicht zusammen. Um im Zusammenhang richtig zu funktionieren, muß es vielmehr dort bleiben, wo die Natur seine äußeren Ausdrucksmittel placiert hat, d. h. unten und im Verborgenen. Alle Kulturvölker aller Zeiten haben in der Verkehrung dieses Verhältnisses Schamlosigkeit und Sünde gesehen. Insofern nun der Analytiker-Einfluß diese Verkehrung auslöst, ist er unmittelbar gemeingefährlich.

Wenn der Analytiker also gefährlich ist — soll man ihn deshalb ganz meiden? Und nach dem Ratschlage mancher, wo Analyse erforderlich erscheint, Selbstanalyse treiben? Letzteres ist erst recht zu widerraten, und zwar aus drei prinzipiellen Gründen. Deren erster ist allbekannt: nur Unbefangenheit tut gut, Nicht-Betonen der Krankheit allein führt zu beschleunigter Heilung. Wer sich zu sich nun dauernd so einstellt, wie der Analytiker dem Patienten gegenüber, auf die Bedeutung jeder Regung, jedes Wortes achtend, der praktiziert eine extremste Form der Hypochondrie. Die sich hieraus ergebende Gefahr ist aber größer als jeder zeitweilige Vorteil, weil Selbstanalyse beinahe so leicht wie das Morphium zur Gewohnheit wird. — Deren zweiter fällt mit der Gefahr zusammen, die in der Akzentverlegung des Bewußtseins auf das Triebleben liegt. Wer bei sich selbst dauernd darauf aufpaßt, was sein Geistes- und Seelenleben vom Trieb-Standpunkte aus bedeutet, der verlegt seine normale Bewußtseinsebene zwangsläufig in die Unter-Welt hinab, und ich habe noch keinen gesehen, den diese Technik, lang genug betrieben, nicht veroberflächlicht hätte. Der dritte und wichtigste der Gründe, welcher gegen die Selbstanalyse spricht, hängt mit dem Zweck der Analyse, der Herstellung einer neuen Synthese, zusammen. Diese ist nämlich ein richtiger lebendiger Schöpfungsvorgang. Und zu solchem gehören, wie die Welt nun einmal geordnet ist, zwei. Das normale Wachstum verläuft allerdings ohne Neu-Befruchtung. Wo indessen Beschleunigung desselben oder gar ein Dimensionswechsel in Frage steht, dort tritt das Polaritätsgesetz in Kraft.

Es gibt nun einmal einen Menschheitskosmos1, der Einzelne steht wesentlich nicht allein; nur aus diesem Grunde führt innere Vereinzelung beinahe zwangsläufig zur Neurose, ist solche in den meisten Fällen durch bloße Belebung des Gemeinschafts­bewußtseins zu heilen. Deshalb setzt jeder Schöpfungsvorgang Anregung voraus. Dementsprechend halten alle tieferen Selbst­vervollkommnungs­systeme den geistigen Führer für völlig unumgänglich, deutet die Katholische Kirche das Verhältnis zwischen jenem und dem von ihm Geführten mit vollem Recht als echtes Verwandtschaftsverhältnis. Wer für sich allein meditiert, kommt auch genau nur insoweit vorwärts, als er ein Höheres über oder in sich innerlich anerkennt, zu dem er sich durch geeignete Mittel in Beziehung setzt — denn das Verhältnis von Ich und Du besteht nicht allein nach außen, sondern auch nach innen zu, zwischen den verschiedenen Schichten möglichen Bewußtseins. Polarisierung ist in diesem Zusammenhang das schlechthin Wesentliche, völlig Unumgängliche. Von hier aus betrachtet bedeutet Selbstanalyse nun genau das gleiche wie Selbstbefriedigung, als welche, ohne notwendig zu schaden, keinesfalls neues Leben schafft, denn sie führt aus der Ich-Sphäre keinesfalls hinaus. Auch mit der Synthese, die aus dem sinnvollen Zusammenwirken von Analytiker und Analysand gegebenenfalls entsteht, wird recht eigentlich ein Kind gemacht. Nein, Analytiker als Beherrscher bestimmter Techniken sind durchaus notwendig, und wir sollen uns nicht davor scheuen, uns im geeigneten Augenblick von solchen helfen zu lassen.

Der Satz Arzt, hilf dir selber entspricht grundsätzlichem Mißverstehen. Aber vom Analytiker ist unbedingt zu verlangen, sofern er sich nicht beim Unterleibs-Technischen strikt bescheiden will, was er in Wahrheit gar nicht kann, da es in der Seele keine abgeschiedenen Organe gibt, daß er persönlich über der Analyse stehe und somit die persönliche Garantie gibt, daß er mit seinem Können keinen Schaden stiftet. Es muß aus moralischen Gründen völlig ausgeschlossen sein, daß ein Analytiker analoge Fehler begeht, wie der Beichtvater, der an der Hand von Liguoris Moraltheologie durch Fragen die Seelen verdirbt. Es muß aus Erkenntnisgründen ausgeschlossen sein, daß er nur das Triebleben als wirklich anerkennt und dadurch die, die sich ihm anvertrauen, herabzieht. Der Analytiker muß als erster anerkennen, daß es den nicht-suggestiv beeinflussenden Analytiker nicht gibt, und daß dieser daher nicht weniger, sondern noch mehr Verantwortung trägt, wie der Beichtvater, weil seine Einstellung noch größere Gefahren in sich birgt. Das heißt aber: der bisherige Analytiker muß zu bestehen aufhören und ganz in den des geistigen Führers aufgehen, dessen Typus die Menschheit seit Jahrtausenden kennt und dessen Grundeigenschaften zumal alle Kirchen als Grundforderungen seit eben so langer Zeit bestimmt haben.

Wie komme ich, als Ergebnis, zu einer so radikalen Forderung? Sie ist leider akut, weil überaus viele heute der Einbildung leben, der Analytiker sei an sich schon der geistige Führer, ja in ihm erlebe der Erlöser-Typus gar seine zeitgemäße Wiederverkörperung. Diese Einbildung bezeichnet eins der größten und verderblichsten Mißverständnisse aller Zeiten. Wer mir bis hierher aufmerksam gefolgt ist, der braucht nur die folgenden kurzen Sätze zu meditieren, um den Zusammenhang vollständig zu verstehen. Eine neue Synthese zu schaffen vermag, gemäß dem früher Ausgeführten, der allein, welcher das Ganze vor den Teilen schaut, vom Ganzen her das Einzelne ordnet, das heißt hier: wer persönlich über der Analyse steht. Gilt dies vom heutigen Analytiker-Typus? — Weiter: jede Persönlichkeitssynthese ist ein geistiger Zusammenhang. Kann der wohl von sich aus eine neue Synthese schaffen, für den es im Menschen kein jenseits des Analysierbaren gibt, wo jeder geistige Führer zwangsläufig seinen eigenen Glauben überträgt? Endlich: kann der, welcher am Leben nur das Triebhafte bemerkt und als wirklich anerkennt, eine Synthese einleiten, deren Mittelpunkt im Spirituellen läge? Es ist dies rein technisch unmöglich. Der Integrationsprozeß der Seele, den der Analytiker einzuleiten vermag, kann freilich Gesundheit schaffen; er kann auch die Persönlichkeit als solche erweitern, insofern er das Triebleben, wo dieses verdrängt ward, ins Bewußtsein zurückbezieht. Über das normale Bewußtsein, nach der Tiefe hin, hinausführen kann er aber weniger als alle anderen Menschen, und dies ist das eine Ziel, auf das alle Selbstvervollkommnung hinstrebt. Der Analytiker im heutigen Verstande ist wesentlich nicht geistiger Führer. Er ist sogar unmittelbar Verführer, wo er mehr anstrebt, als Nervenarzt zu sein. Deshalb, noch einmal, muß er als Typus sterben. Vom heutigen Analytiker darf nur der Techniker bestehen bleiben. Möglichst bald muß es endgültig dahin kommen, daß nur der berufene geistige Führer, der das Freud’sche Instrument nicht anders verwendet, wie der gewissenhafte Arzt das Messer, zur Analyse für berechtigt gilt.

1 Vgl. meine Tagungsvorträge Weltanschauung und Lebensgestaltung im Leuchter 1924.
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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