Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925

Bücherschau · Eine Vision der kommenden Weltordnung · I.

So langsam sie sich vollzieht: die Entwicklung geht schneller vorwärts, als ich’s für möglich gehalten hätte. Dies liegt an nichts anderem als der Übermüdung der Völker nach so vielen Jahren unerhörter Überspannung, die immer mehr und mehr bestimmend in die Erscheinung tritt, wie ja auch der Einzelne die Folgen von Überanstrengung nicht gleich, sondern immer erst später spürt, und oft erst in Form einer Verkürzung der letzten Lebensphase. Den Grad dieser Übermüdung lernte ich erst ganz am vorzeitigen Ende der Poincaré-Ära ermessen: dieses war nämlich vernünftigerweise (und Vernunft konnte bestimmende objektive Einsicht bei den Franzosen keinesfalls voraussetzen) für so bald nicht notwendig. Ist nun Übermüdung ein historisch bestimmendes Moment geworden, dann ergeben sich daraus zwangsläufig bestimmte Folgeerscheinungen. Entkräftung der Mehrheit gibt energisch verbliebenen Minderheiten unverhältnismäßige Macht. Zu solchen Minderheiten gehören auch neue Ideen, die sich in geschwächten Medien erfahrungsgemäß am schnellsten entwickeln. Die fraglichen Minderheiten wollen natürlich Neues, weil sich nur darin altes, hemmendes Karma amortisiert. Neues lässt sich andererseits nur auf dem Boden eines Wirklichen und auf ein Mögliches hin dauerhaft begründen. Dies ergibt denn ebenso zwangsläufig beschleunigten Fortschritt. Bei dieser Skizze des Geschehens lasse ich, der Einfachheit halber, das retardierende Moment, die vielerorts noch sehr mächtigen Reaktionäre aus, da sie das Neuwerden wohl zu verlangsamen, aber nicht mehr zu ändern vermögen.

Was geschieht nun zur Zeit, von hoher Warte aus gesehen? Wo überhaupt Bewegung statt hat, die auf historische Bedeutung Anspruch erheben kann, dort hält sie nicht eine, sondern zwei entgegengesetzte Grundrichtungen ein, entsprechend der mehr rationalen oder irrationalen Gesinnung ihrer Vertreter. Die rationaldenkenden Energischen erkennen immer mehr, dass seit Krieg und Versailler Vertrag die Gleichung Europa von den alten Ansätzen aus nicht mehr aufgeht. Alle Staaten ohne Ausnahme sind durch so schwere Verpflichtungen gebunden, dass sie diese im allergünstigsten Falle gerade nur erfüllen können; für frische Initiativen fehlt geistiges wie materielles Kapital. Andererseits kann die Wirtschaft, sich selbst überlassen, Europa zweifelsohne sanieren. Insofern ein Wirtschaftskonzern keine unmöglichen Verpflichtungen eingegangen ist, wie dies alle Staaten getan haben, ist er allen von Haus aus überlegen. Und ist ein großer Konzern gar übernational fundiert, so stellt er eine solche Großmacht dar, wie kein heutiger Staat mehr eine ist. Diese Wahrheit, gemäß welcher die großen Wirtschaftsführer schon lange disponieren, wird seit der neuerdings erfolgten Entspannung allen verstandbegabten Menschen mehr und mehr bewusst, welcher Einsicht entsprechend die praktischen unter ihnen ihre Energien immer mehr eben in der Wirtschaft investieren, die heute Zukunfts­möglichkeiten in sich trägt, wie nie vorher, wenn nicht überall im Sinn des Reichtums, so desto mehr der Macht. Was wird nun geschehen, wenn die meisten großen Energien des geschwächten Europas auf diesem Gebiete tätig geworden sind? Dann kann es nicht ausbleiben, dass ein neues Mächtenetz erwächst, demgegenüber das frühere politische kaum mehr zählen wird. (Die erste, sich immer mehr bestätigende Charakteristik der neu entstehenden wirtschaftsbestimmten Welt enthält der Vortrag Wirtschaft und Weisheit meines Buches Politik, Wirtschaft, Weisheit, Darmstadt 1922.) Diese Mächte nun werden grundsätzlich übernationalen Charakter tragen. Überfremdung jedes großen Unternehmens ist bei der heutigen Verteilung von Kapital, Intelligenz und Arbeitskraft auf die verschiedenen Völker unvermeidlich. Dies Überfremdung muss ihrerseits bei allen Verträgen von Land zu Land zu einer Wertbetonung des gemeinsamen Interesses führen. Dem gleichen Ziel führt zwangsläufig die für jedes europäische Land bestehende Unmöglichkeit zu, fortan noch als geschlossener Handelsstaat zu prosperieren. So sind denn alle rational denkenden Energischen heute, ob bewusst oder unbewusst, dabei, das Völkerleben auf eine Basis zu stellen, welche die Probleme der bisherigen zwischenstaatlichen Politik grundsätzlich erledigte. Dazu gehören an erster Stelle die bisherigen Staatsgrenzen als Bedeutsamkeiten: sie hatten ihren guten Sinn, solange der Zeitfaktor im Verkehr eine genügende Rolle spielte: jetzt, wo man in zwei Tagen über den Ozean fliegen kann, werden die alten Verhältnisse als Wirklichkeiten, von diesem Standpunkt betrachtet, eigentlich nur noch durch das Zeitraubende des Paßvisums aufrechterhalten. In der Idee ist das Primat im Völkerleben von der Politik auf die Wirtschaft bereits übergegangen. Tatsächlich ist es noch nicht so. Desto gebieterischer treibt ihr Machtinstinkt die Wirtschaftler dazu an, die Umsetzung der Idee in die Wirklichkeit zu beschleunigen. Wäre nicht das passiert, wofür das Wort Weltrevolution keine zu groß klingende Bezeichnung abgibt, so würden die wirtschaftlich Mächtigen ganz gewiss nicht zögern, ihr Privatinteresse in diesem Entwicklungsprozess auf Kosten aller anderen Erwägungen durchzusetzen. So müssen sie mit einer öffentlichen Meinung rechnen, in welcher der soziale und der Billigkeitsgedanke eine entscheidende Rolle spielen, wofür die ganze Menschheitszukunft, nebenbei bemerkt, den sozialistischen Perioden der jüngsten Geschichte Europas zu Dank verpflichtet ist. Dies führt denn dahin, dass die Wirtschaftskonzerne aus wohlverstandenem Selbstinteresse das in allen Hinsichten Vernünftige und Ersprießliche anstreben, genau wie England so oft in der Geschichte aus wohlverstandenem Egoismus zum Heil Europas gewaltet hat. Genau wie die Engländer als Weltbeherrscher, so wollen jetzt die Wirtschaftler offiziell nur deshalb in letzter Instanz bestimmen, um allen das Leben erträglicher zu machen. Was sie nun wollen, führt zwangsläufig zuletzt zu Zusammenschlüssen gewaltigsten Formats, die, sobald sie perfekt wären, sowohl die Probleme des Weltkriegs wie die des Versailler Vertrags tatsächlich erledigen würden. Soweit rational gedacht wird, ist eben unter heutigen Verhältnissen schlechterdings nichts anderes als ein weltumspannender Staatenbund anzustreben, zu dem die Vereinigten Staaten Europas nur eine Vorstufe oder ein Teilziel darstellen. Insofern arbeiten alle rational und praktisch Denkenden, denen es um Zukunft zu tun ist, auf noch so verschiedenen Wegen dem Ziel eines übernationalen Zusammenschlusses zu. Zu weichen Denkenden natürlich auch die Geistigen gehören, die sich gewiss schon in absehbarer Zeit zu einer Kultur-Internationale zusammenschließen werden.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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