Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

10. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1925

Bücherschau · Brehms Tierleben

Auch diese Bücherschau, und gerade diese, weil sie fast durchweg Schwieriges behandelt, will ich mit Leichterem abschließen. Den Übergang schafft eben der Begriff der Echtheit, die ich im Schlussvortrag zur Tagung 1924 ausführlich behandelte, und der auch den Grundton zu den vorhergehenden Betrachtungen gab. Wenn Kultur, und Geistesmenschen nur ausnahmsweise echt sind in dem Sinn, dass Sinn und Ausdruck, Person und Sache sich genau entsprechen, so sind schon Naturvölker fast immer echt. Diese deshalb als ein Höheres zu verehren, wie dies sogar Klages und Frobenius bis zu einem gewissen Grade tun, ist freilich verfehlt — wenn uns die Echtheit, den Primitiven selbstverständlich, zum schwer erreichbaren Ideal geworden ist, so beweist dies nichts anderes, als dass wir, reicher und vielfältiger begabt, höhere Aufgaben zu erfüllen haben; genau wie der geistige Wert jeder Harmonie von der Art ihrer Komponenten abhängt, so ist’s auch mit der Echtheit. Andererseits tut es aber freilich gerade uns besonders gut, uns zeitweilig in primitive Vollendung zu versenken, da diese, in ihrer Einfachheit, die Anforderungen eines Meditationssymbols am besten erfüllt. Nur rate ich da, beim Urmenschen nicht stehen zu bleiben, sondern gleich das Tier zu betrachten; und zwar das wilde Tier, nicht das gezähmte, am allerwenigsten den dem Menschen am meisten angeglichenen Hund. So habe ich meine beste Erziehung durch den Verkehr mit wilden Tieren genossen, welche zu hegen bis zu meiner Studentenzeit meine liebste Beschäftigung war. Hierzu hatte mir aber in frühester Kindheit Brehms Tierleben den ersten Anstoß gegeben, woraus meine Eltern mir allabendlich vorzulesen pflegten. Dieser Tage nun erhielt ich die kleine Reclam Ausgabe dieses klassischen Werks in die Hand. Und da dachte ich mir: darin sollten doch alle die recht häufig lesen, die von nichts anderem mehr wissen, als den Problemen differenzierter Kultur. Würde ihnen dies nicht schneller zum Realisieren der elementaren Lebensprobleme verhelfen, als alles Studium abstrakter Philosophie? Was man heute unter Vertierung versteht, ist ja gerade nicht tierisch, sondern allzu menschlich. Unter Tieren gibt es keine Neronen und Messalinen, keine Orgien und keine richtige Grausamkeit. Solche kommen nur unter desintegrierten Menschen d. h. solchen vor, in denen bestimmte Triebe die Harmonie des Ganzen sprengten. Das Tier gerade ist immer einheitlich, in sich geschlossen, instinktsicher und dem Kosmos harmonisch eingefügt. Vor ein paar Jahren hatte ich in Amsterdam Gelegenheit, einen greisen Orang-Utang zu bewundern: an dessen Menschenähnlichkeit ward mir damals besonders klar, wie fern wir unserer spezifischen Vollendung stehen. Denn mehr als irgendein Mensch, dem ich begegnet, glich er, mit seinem langen weißen Bart und seinen trotz ihrer Rundheit so überaus markanten Zügen, dem Urbild des chinesischen Weisen, in welchem Tiefe und Anmut eins geworden sind.

Ja, jeder, welcher Zeit hat, nehme doch Brehms Tierleben des öfteren zur Hand, das ja in seiner Reclams-Ausgabe jedem erschwinglich ist. Und dann lasse er seinen Geist auch möglichst oft, um seine Grenzen noch genauer zu erkennen, in die Riesenzeit der Vorwelt zurückschweifen. Dazu gibt es heute einen besonders anregenden Führer: das Buch Edgar Dacqué’s Urwelt, Sage und Dichtung (München, Oldenbourg Verlag). Ich weiß nicht, ob es wahr spricht; ob der Mensch wirklich nicht die Krone physischer Schöpfung, sondern vielmehr einen uralten, bis zu mesozoischen Formen zurückreichenden Atavismus darstellt; ob die Menschenhand wirklich mit der des permischen Chirotheriums am meisten Verwandtschaft zeigt. Aber es stimmt doch sehr nachdenklich, wenn Dacqué die außerordentliche Ähnlichkeit der Ungeheuer, von welchen Sagen und Mythen künden, mit wirklichen Vorweltriesen so überzeugend dartut, dass der Laie kaum Gegenargumente findet; und wenn er daraus auf das ungeheure Alter der Menschheit schließt, womit er sich zur indischen, im Gegensatz zur westlichen Geschichtsepochenrechnung bekennt. Es lehrt einem endlich Bescheidenheit, wenn man die bloße Möglichkeit erwägt, dass wir, die vermeintlich so Schnellen, unfasslich lange Zeiträume gebraucht haben, um unseren heutigen, vom Standpunkt unserer eigenen Möglichkeiten so vorläufigen Zustand zu erreichen… Inwieweit sind wir anderen Geschöpfen überhaupt überlegen? Es ist gar nicht so leicht zu bestimmen. Ja, ohne metaphysische Voraussetzungen gelangte einer leicht dazu, nicht dem Menschen, sondern anderen Wesen die Krone zuzuerkennen. René Quinton unternahm seinerzeit den Nachweis (In L’Eau de Mer, Milieu organique, Paris, Alcan), dass unter rein biologischen Voraussetzungen der Vogel über dem Menschen steht. Wie dem auch sei: vom menschlichen Standpunkt sind wohl alle Geschöpfe wunderbarer organisiert als wir, denn was wir selbst sind und können, imponiert uns kaum. Es gibt jetzt ein Werk, das in ganz einzigartig anregender Weise in die Wunderwelt der organischen Schöpfung einführt. Dies ist Richard Goldschmidts Ascaris, eine Einführung in die Wissenschaft vom Leben für Jedermann (Leipzig, Theodor-Thomas-Verlag). Selten las ich ein Werk, das gleichzeitig so lehrreich, spannend, verständlich und unterhaltend war. Es sollte bald keinen auf Bildung Anspruch erhebenden Menschen geben, welcher Ascaris nicht gelesen hätte.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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