Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920
Die Schule der Weisheit
Über das, was die Schule der Weisheit grundsätzlich soll, will ich mich hier nicht auslassen. In der Programmschrift, die zu ihrer Gründung führte, der seither auch in meiner Aufsatzsammlung Philosophie als Kunst
abgedruckten Studie Was uns not tut
habe ich ihren Sinn und ihre Notwendigkeit ausführlich darlegt. Nur den Grundgedanken will ich noch einmal kurz zusammenfassen: ich habe gezeigt, dass es zur Erschaffung einer neuen, höheren Kultur aus dem heutigen inneren Zusammenbruch heraus, welchen der äußere spiegelt, einer Neuverknüpfung von Seele und Geist bedarf, der Neuformung des inneren Menschen von tiefstem Wissen her. Wie nach der Parsifalsage der Speer allein, der die Wunde schlug, dieselbe zu heilen vermag: so wird heute nur Vertiefung desselben Intellekts, der das Leben in seiner bisherigen Gestalt zersetzt hat, dieses wieder aufbauen. Nur eine Neuformung des inneren Menschen von so tiefem Sinn-Verstehen her, dass keinerlei bolschewistische Negation das neue Positive zu gefährden fähig wäre, kann dauernd Heil bringen.
Wir haben uns damit abzufinden, dass die alte Kultur zu Tode getroffen ist. Mögen die Typen, welche diese verkörpern, noch so hoch über den meisten Vertretern des neuen Zeitgeistes stehen — zu einer Heilung der seelisch erkrankten Menschheit werden sie, trotz aller nur möglichen zeitweiligen Reaktion und Restauration, nie mehr die Wege weisen. Hierzu sind solche allein berufen, die aus dem Erkenntniszustand der geistig am weitesten Vorgeschrittenen dieser Zeit heraus zu einer neuen Lebensganzheit gelangt sind. Solche Menschen, solche Führer gilt es heranzubilden. Dieses Ziel muss unmittelbar angestrebt werden. Wer persönlich in erster Linie auf Abbau aus ist, wie dies von den meisten der heutigen Reformer gilt, kann nicht gleichzeitig neu aufbauen, weil es dazu einer anderen Einstellung bedarf. Wem es zunächst um äußere Einrichtungen zu tun ist, der ist zur Menschenbildung ungeschickt. Andererseits: wer unmittelbar die Masse veredeln will, wird Führernaturen nicht fördern. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit besonnenster Arbeitsteilung. Es sind alle Bestrebungen zu begrüßen, die auf irgendeinem Wege, aus tieferer Erkenntnis heraus, eine Besserung des gegenwärtigen Zustands anstreben; alle sollten, anstatt sich zu befehden, Hand in Hand gehen. Aber jede sei sich gleichzeitig darüber klar, dass jedes Bestimmte nur auf bestimmtem Wege erreichbar ist.
Die Schule der Weisheit nun hat sich zum Ziel gesetzt, von der höchsten derzeit erreichten Erkenntnisgrundlage her auf das Sein derer, die sie besuchen, einzuwirken. Sie zielt unmittelbar auf den nächstdenkbaren kulturellen Höhepunkt hin. Daher steht sie grundsätzlich abseits vom heute im größten Umfange stattfindenden Abbauprozess. Sie steht allen nur möglichen Programmen äußerer Zustandsbesserung uninteressiert gegenüber. Was Universitäten und Kirchen, Schulgemeinden und Arbeitsgemeinschaften, was Volkshochschulen und Parteivereinigungen, religiöse Verbände und theosophische Zirkel erreichen können, das ist nicht ihr Gebiet. Nur auf begabte Naturen, denen es auf allseitige Ausbildung ankommt, ist sie berechnet, wer irgendwie einseitige Förderung von ihr erwartet, verkennt ihren Sinn. Sie will, allgemein gesprochen, denen, die als Führer des neuen Zeitalters in Frage kommen, dazu verhelfen, solche Ansprüche an sich zu stellen, dass dadurch ein auf die höchsten Erkenntnis-Anforderungen abgestimmter Selbstbildungsprozess in ihnen eingeleitet wird. Insofern ist die Schule der Weisheit eine Philosophenschule, von Philosophen geleitet, und kann nur eine solche sein. Philosoph im wahren Sinne ist nicht der, welcher logische und erkenntniskritische Bücher schreibt — der ist als Typus nur Mann der Wissenschaft — sondern der allein, dessen Leben von überlegener Erkenntnis gelenkt wird. So verstand es Plato, so verstanden und verstehen es die Weisen des Ostens. Deshalb ist der Philosoph allein dazu berufen, von der Erkenntnis her beliebig interessierte Menschen zu Überlegenheit und Führerschaft heranzubilden.
Wie kann dies nun geschehen? — Den Weg weist die allgemeine Wahrheit, dass überall im Universum Gleiches auf Gleiches wirkt. Alles, was einer gleichen Daseinsebene angehört, hängt innig zusammen. Der Einfluss jedes physischen Vorgangs umspannt in seinen Nachwirkungen die Welt. Alles Können und Tun wird durch Nachahmung schließlich allgemein. Im gleichen Sinne stecken Gedanken und Gefühle an. Kein Wissen, kein Können wäre mitteilbar, wenn es sich bei der Aufnahme bloß um den toten Inhalt handelte: diese besteht allemal in der Rezeption des Bewegungsrhythmus, die den Inhalt hervorbringt, weshalb sich Wissen und Können in Wahrheit nicht anders vom Lehrer auf den Schüler fortpflanzen, wie eine körperliche Bewegung andere einleitet. Deshalb kommt es bei allem Lernen so sehr auf die Art des Lehrers an; nur der fördert wirklich, der eben einen Bewegungsimpuls erteilt. Eben dies wird unter Anregung
verstanden: wäre sie nicht das Wesentliche, so könnten toter Stoff und abstrakte Routine die lebendige Persönlichkeit ersetzen, was nachweislich nicht der Fall ist. Genau so nun, wie Wissen und Können sich unmittelbar vom einen auf den andern fortpflanzen, genau so unmittelbar wirkt Sein auf Sein. Jedes Seinsniveau als solches steckt an, im Guten wie im Schlimmen. Aber während Wissen und Können, als äußerliche Betätigungen, sich bis zu einem gewissen Grade mechanisch vermitteln lassen, also unabhängig von allem lebendigen Einfluss, erscheint dies bei der Vermittelung von Lebendigem ausgeschlossen. Dieses gilt schon vom Verstehen, im Unterschied vom bloßen Wissen. Gewiss versteht der Bevorzugte von selbst
, wie denn alles Leben letztlich von selbst zustande kommt; das Genie kann der Belehrung entraten, äußerste Selbstanspannung Begabung ersetzen. Aber die Mehrzahl unter den Verständnisfähigen ist erst auf entsprechende Anregung und Anleitung hin imstande, den toten Stoff durch selbsttätige Sinnesschöpfung zu beleben; solche Anregung kann aber der allein geben, der schon verstanden hat, gemäß dem allgemeinen Gesetz, dass Gleiches Gleiches beeinflusst und hervorruft. Insofern bedarf es zur Sinneserfassung im allgemeinen der Tradition, und dies so sehr, dass die indische Anschauung, welcher die schriftliche Aufzeichnung tiefster Lehren deshalb bedenklich gilt, weil dadurch der Sinn im Buchstaben verlorenzugehen drohte, gegenüber der unserigen, die an den Büchern als solchen alles zu haben wähnt, gerechtfertigt erscheint. Verständniserzeugung ist tatsächlich ein Zeugen, kein mechanisches Mitteilen, und der Begriff eines geistlichen Vaters gegenständlich genug gebildet. Was schon beim Verstehen wahr ist, gilt im höchsten Grade vom Sein. Auch Verstehen ist noch ein relativ Äußerliches, insofern es nicht notwendig den ganzen Menschen betrifft und in Mitleidenschaft zieht; deshalb kann hier ein wirklich anregendes Buch den persönlichen Kontakt ersetzen. Im Falle des Seins ist dies unmöglich. Wohl mag verstehender Geist die Persönlichkeit aus entsprechendem Werk als Bild erschauen — dass deren Sein sich praktisch durch noch so vollständigen Ausdruck übertrüge, ist ausgeschlossen. Denn hier handelt es sich um Übertragung jenes Tiefsten und Letzten, von dem auch das Verstehen nur ein Teilausdruck ist: des allgemeinen Niveaus, der Ursynthese, des Mittelpunktes aller nur möglichen Einzelkräfte. Das Sein
liegt auf eigener, einziger Daseinsebene, kein Zugang führt von anderen auf sie hinüber. Doch auf der seinen wirkt es unmittelbar. Daher die Bedeutung dessen, was man ein Beispiel geben heißt. Dieser durch das Herkommen sanktionierte Ausdruck führt insofern irre, als manche ihn dahin missverstehen, dass es auf das Nachweis- und Sichtbare ankomme. Freilich kommt es auch darauf an, weil das bewundernd Angeschaute automatisch zur Nacheiferung reizt. Aber das eigentlich Schöpferische ist das intime Sein, das als solches überhaupt nicht auf der Bildfläche erscheint. Dieses wirkt ganz unabsichtlich, vom Willen unabhängig, meistens unbewusst unmittelbar auf die gleiche Ebene beim anderen ein. Und nur so kann es überhaupt wirken. Deshalb gibt es zur Seinsbeeinflussung schlechthin nur einen Weg, den des persönlichen Umgangs. Hiermit wäre der mögliche Weg der Schule der Weisheit bestimmt. Er kann in nichts anderem bestehen, als in einem entsprechend geregelten persönlichen Verkehr zwischen entsprechend abgestimmten Menschen. Sollen Persönlichkeiten im Geist des vorhin Geforderten herangebildet werden, so müssen sie sich dazu in das Kraftfeld solcher begeben, die das Ziel entweder schon erreicht haben, oder bewusst nach ihm streben.
Also kann die Schule der Weisheit, ihrem tiefsten Sinne nach, nichts anderes beabsichtigen, als das Niveau eines bestimmten Seins und die Atmosphäre eines bestimmten Wollens festzuhalten. Die Frage, was inhaltlich in ihr gelehrt würde, ist missverständlich: das Sein ist kein Gegenständliches, sondern ein Zuständliches, und dieses soll unmittelbar beeinflusst werden. Deshalb muss auch das Äußerliche unmittelbar so angelegt werden, dass Seinsförderung und sie allein in Frage kommt. Hierzu ist Geschlossenheit der Gesinnung die erste Voraussetzung. Der Plan der Anstalt erwuchs seinerzeit aus der Wirkung meines Reisetagebuchs. Überraschend viele hatten von vornherein das Wesen dieses Buches richtig aufgefasst; als den dichterisch ausgestalteten Ausdruck der inneren Bewegung eines rastlos strebenden Menschen von der Universalität der Erkenntnis her persönlicher Seinsgestaltung zu. Aus dem Verstehen ergab sich der Wunsch, die erkannte mögliche Förderung unmittelbar zu erfahren. Diesem kam ich entgegen, von feinsinnigen Menschenkennern beraten, und so wurde zunächst die Gesinnungsgemeinschaft in der Gesellschaft für Freie Philosophie äußerlich zusammengefasst. Nur für diese Gemeinschaft ist die Schule bestimmt, denn so allein kann die erforderliche Gesinnungseinheit negativ gesichert werden. Die positive Förderung der Mitglieder nun ergibt sich im allgemeinen, um wieder beim Äußerlichen anzuheben, aus einem bestimmten, grundsätzlich festgehaltenen Lebensstil. Wer nach Darmstadt geht, tut dies nicht, um etwas inhaltlich Bestimmtes zu lernen, sondern um persönlich weiterzukommen, in dem er einen bestimmten Lebensrhythmus in sich aufnimmt, der ihn in seiner Fortwirkung zu einem höheren Seinsniveau hinaufentwickelt. Dies kann nur geschehen, wofern er sich von vornherein so einstellt, dass er die erwünschte Förderung auch wirklich erfahren kann. Diese Einstellung nun lässt sich grundsätzlich bestimmen. Sie besteht darin, dass der, welcher hierher lernen kommt, sein ganzes Wesen so öffnet, dass es für Seinsschwingungen und sie allein empfänglich wird. Dazu muss er sich grundsätzlich positiv zum Wesen aller, vom Lehrer bis zu den Mitschülern, verhalten, mit denen er in persönliche Berührung tritt. Unbedingte Ehrfurcht vor der Persönlichkeit ist dessen innerer Ausdruck. Der äußere besteht in der Wahrung der angemessenen Form. Konfuzius lehrt, dass der Weise erst als vollendet gelten darf, dessen Weisheit als Anmut in die Erscheinung tritt: diese tiefwahre Lehre spitzt die Erkenntnis des allgemeinen Sachverhalts nur zu, dass das Sein dort allein vollkommen zum Ausdruck kommt, wo die Sonderäußerungen mit ihm harmonieren. Jede Kraft wirkt auf ihrer Ebene fort; Diskrepanz zwischen Sinn und Ausdruck bedingt daher, dass die Durchschlagskraft jenes durch unangemessene Äußerung behindert wird; hierauf beruht die metaphysische Verwerflichkeit der Lüge. Soll also Sein unmittelbar auf Sein wirken, so ist unerlässliche Vorbedingung dazu, dass der Einzelne sowohl selber unentwegt nach vollkommenem Ausdruck strebt, als durch sein Verhalten zu anderen diesen Gleiches in bezug auf sich ermöglicht. Jeder wird, als Wesen, unbedingt gelten gelassen. Dieses Grundverhalten präzisiert sich nun im besonderen dahin, dass auch von allem Einzelnen grundsätzlich abgesehen wird, was die unmittelbare Seinswirkung hindert. Alle Mitglieder treten sich bewusst als Strebende gegenüber, ohne Rücksicht auf den schon erreichten Zustand, damit die Bewegtheit des Rhythmus sich ohne äußere Hemmung fortpflanzen kann. In der Schule der Weisheit wird grundsätzlich nicht im üblichen Verstande Stellung genommen, weil jeder Standpunkt erstens ein Äußerliches bedeutet, das zum Wesen in keinem notwendigen Verhältnis steht, zweitens in seiner Rückwirkung einen psychischen Panzer schafft, welcher den, der ihn gerade trägt, in seiner Beschränkung festlegt und anderen Schwingungen gegenüber aufnahmeunfähig macht. Debatten sind in der Schule der Weisheit verpönt. Ganz abgesehen davon, dass solche nur deshalb so allgemein beliebt erscheinen, weil sie dem Einzelnen zur Befriedigung seiner Eitelkeit besonders gute Gelegenheit geben und alle Eitelkeit ein Beweis von Unweisheit ist, wirken sie, wo wesentliche Erkenntnis in Frage steht, aus dem Grunde unbedingt schädlich, weil jeder, der beim Anhören eines Anderen in erster Linie daran denkt, wie er steht und was er gegen das Vernommene sagen könnte, sich eben dadurch der möglichen Belehrung, zu deren Erfahrung es unter allen Umständen reiner Hingabe bedarf, innerlich verschließt. Jedes Wortgefecht ist verboten. Alle Unterredungen haben entgegenkommenden oder zusammenarbeitenden Charakter zu tragen. Da die Erlangung wesentlicher Einsicht geistiges Ziel der Schule ist — denn Einsicht besteht in der Kongruenz des Denkens mit dem Sein wird bei Ansichten grundsätzlich nicht verweilt. Rassen-, Partei-, Konfessionsfragen bleiben außer Spiel. Der Schule der Weisheit kommt es nicht darauf an, woher einer stammt, wovon er ausgeht, was er gerade denkt, sondern einzig darauf, wer er werden kann. Der Weise hat keine Standpunkte, sondern er ist einer; er vertritt gar nichts, sondern er verkörpert; er steht naturnotwendig über allen Parteien, denn kein Parteiproblem reicht bis in Wesen hinab. Diese Heranbildung zur Wesentlichkeit geschieht nun automatisch dank dem Einfluss des Lebensstils, der in den obigen Sätzen kurz geschildert wurde. Stellen sich Lehrer und Schüler dergestalt unbefangen zueinander, öffnen sie sich gegenseitig ihre Seelen, so entsteht ganz von selbst ein besonderer Lebensrhythmus, der unmittelbar vom Sein ausgeht und sich in der Fortpflanzung immer mehr verstärkt, so dass in der Schule bald eine psychische Atmosphäre herrschen wird, die jeden Neuhinzukommenden unmittelbar ergreift. Diese wird bald einen solchen Machtfaktor bedeuten, dass der bloße Aufenthalt in ihren Räumen dem empfänglichen Neuling genügen wird, um gefühlsmäßig zu erfassen, was in ihr erstrebt wird. So stellt die Schule der Weisheit, allgemein gesprochen, ein geistig-seelisches Zentrum dar, dessen Wirkung mit seinem bloßen Dasein gegeben ist. Sie vermittelt den lebendigen Kontakt zwischen denen, welche Weisheit im Sinn des neuen Kulturtypus verkörpern, oder nach ihr streben. Die allgemeinen Versammlungen, die für die Mitglieder aller Gemeinschaften in periodischen Abständen vorgesehen sind, haben keinen anderen Zweck, als die besondere Atmosphäre, die einem bestimmten Seinsniveau entspricht, auf alle Teilnehmer einwirken zu lassen. Wer je erfahren hat, wieviel mehr ein in edler Geselligkeit, im persönlichen Verkehr mit bedeutenden Menschen verbrachter Abend für die innere Entwicklung bedeuten kann, als Jahre des rein abstrakten Studiums, der wird solche Versammlungen nicht überflüssig finden. Desto weniger, als sie den Mitgliedern Gelegenheit geben werden, in fördersamster Einstellung persönliche Fühlung mit solchen zu gewinnen, denen sie auf anderem Boden schwer begegnen würden.
Doch bedeutet die Erschaffung einer bestimmten Kulturhöhenatmosphäre nicht die Hauptabsicht, welche der Schule der Weisheit zugrunde liegt. Die Atmosphäre ist die Grundvoraussetzung dazu, damit Wichtigeres erzielt werde. Dieses aber besteht darin, den berufenen Einzelnen nicht allein durch den unwillkürlich unbewussten Einfluss eines bestimmten Lebensstils sowie des Seinsniveaus der leitenden Persönlichkeiten, sondern in intensiver Privatbehandlung zu fördern. Wer in die Gemeinschaft der Schüler aufgenommen ist, hat Anspruch auf individuelle Belehrung durch den Leiter, in intimer Lebensgemeinschaft mit ihm. Hier konvergiert die Idee unserer Anstalt mit denen der Weisheitsschulen der Antike und des Ostens.
Während es sich für viele, sofern sie nur ernsten Kulturwillen haben, lohnen wird, der Gemeinschaft der geistig Verbundenen beizutreten, um an den allgemeinen Mitgliederversammlungen teilzunehmen und die Veröffentlichungen der Schule der Weisheit zu beziehen, sollen Schüler ausschließlich solche werden, welche die höchsten Intensitätsansprüche an sich selbst zu stellen gewillt sind. Denn wenn der allgemeine Einfluss des Seins unwillkürlich wirkt und keine besondere Anspannung, nur Öffnung der Seele seitens dessen, der ihn erfahren will, erfordert, so ist Beschleunigung des inneren Wachstums nur durch straffste Willensanspannung erzielbar. Wer sich zum Weisen entwickeln will, der muss es sich selbst im äußersten Grade schwer machen wollen.
Was den Weisen im Gegensatz zum bloßen Wisser und Könner kennzeichnet, darüber lese man die Schrift Was uns not tut
nach. Hier will ich nur in allgemeinen Umrissen zeigen, was die Schule der Weisheit von allen vorhandenen Lehranstalten, die sonst gleich hohe Ansprüche stellen, unterscheidet. Diese zielen sämtlich auf bestimmte Erkenntnis- oder Könnensinhalte hin, ihr Ziel lässt sich daher abstrakt fassen und als geistigen Gegenstand herausstellen. Ist das Ziel nun Wesensbildung, so kann von ein- für allemal bestimmten Lehrinhalten nicht die Rede sein, denn das unmittelbare Leben, das auf ein erkenntnisbedingtes höheres Niveau hinaufgehoben werden soll, ist überhaupt nicht als Inhalt vom Intellekt zu fassen, sondern nur als Form. Das Lehrziel kann daher nur im Sinne dessen definiert werden, was schon Kant, obschon nicht ganz mit Recht, seinen Schülern zu sagen pflegte: Sie sollen bei mir keine bestimmte Philosophie, sondern denken lernen. Das Sein hat seinen äußeren Exponenten an der Qualität; wie einer lebt, denkt, handelt, arbeitet — gleichviel, was der Inhalt der jeweiligen Betätigung sei entscheidet über sein Niveau. In diesem Wie liegt alles beschlossen; alle Überlegenheit beruht auf ihm. Soll daher das Seinsniveau gehoben werden, so gibt es nur den einen praktischen Weg, in jedem Sonderfall zu zeigen, wie ein beliebiges Dasein, Denken und Tun von einer tieferen Bewusstseinsschicht erfasst und auf diese bezogen wird. Alles lässt sich im Geist des höchsten Wissens treiben, jedes Sonderleben leben; im geringsten Inhalt kann tiefster Sinn sich ausprägen. Aber diesen Sinn gilt es zu erfassen, ihm alle Organe und Kräfte dienstbar machen; vordem ist nichts erreicht. Einer mag die tiefsten Gedanken denken und dabei menschlich oberflächlich bleiben; die besten Absichten hegen und nur Verwerfliches leisten; die erhabensten Anschauungen aufrichtig vertreten, und dabei ein Schelm sein. Der Mensch wird weise erst, wenn er sein Bewusstsein in den Mittelpunkt seines Wesens hinaufgehoben hat, so dass alles Einzelne zu dessen normalem Ausdruck wird. Jetzt ist wohl klar, inwiefern in der Schule der Weisheit keine bestimmte Lehre vermittelt werden soll: alle Bestimmungen erwachsen an der Anwendung; der Sinn
als solcher kann nicht vergegenständlicht werden. Deshalb bekenne ich mich auch nicht, von allgemeingültig entscheidbaren Wissenschaftsfragen abgesehen, zu einer im üblichen Sinn bestimmten Philosophie, obgleich meine Weltanschauung auf ihrer Ebene eindeutig genug ist. Sie liegt nur ein Stockwerk tiefer als die, welche irgendeine Meinung verkörpern, im Reich von deren lebendiger Möglichkeit. Von dieser Möglichkeit her wird der Schüler im Rahmen dessen, was er gerade denkt und tut, bei uns belehrt werden. Er mag eine beliebige Weltanschauung vertreten, beliebigen politischen Programmen anhängen, beliebigen Glaubens sein, beliebigen Interessen leben; er mag jung sein oder alt, Mann oder Weib: in der Schule der Weisheit wird er lernen, ein beliebiges Dasein
auf ein tieferes Sein
zurückbeziehen. Hat er nun diesen Mittelpunkt in sich erreicht, dann amortisieren sich die meisten Irrtümer von selbst. Indessen aber genügt die bloße mitgeteilte innere Bewegung, einen Vertiefungs- und Verwesentlichungsprozess in ihm einzuleiten.
So wird die Belehrung des Schülers in einer intimen und privaten, streng individuellen, der ärztlichen vergleichbaren Behandlung bestehen. Jedem Einzelnen wird, so weit als möglich, sein Weg, nicht ein, erst recht nicht mein Weg zur Vollendung gewiesen, ihm wird gezeigt werden, wie er selbständiger und freier werden kann. Wer mein Schüler wird, wird dies in keinem üblichen Verstande, nur ungern verwende ich das unvermeidbare Wort. Er wird zu meinem Weggenossen im Vollendungsstreben als solchem; deshalb können Alte und Junge, Unreife und Reife gleichmäßig Schüler werden. Sofern ich führen Soll, hat dies nicht den üblichen Sinn, dass ich mir Gefolgschaft heranerziehen, sondern dass ich jeden zur Selbst-Führerschaft heranbilden will. Jede andere Art der Führerschaft lehne ich ab; nur aus Missverständnis könnte solche überhaupt von mir verlangt werden. Ich fühle mich zum Lehren berufen, nicht weil ich das Ziel erreicht hätte, sondern weil ich ein rastlos Strebender bin, unfähig, an irgendeinem Zustand dauernde Befriedigung zu finden, tiefbewusst meiner eigenen Grenzen sowohl als der wesentlichen Vorläufigkeit aller Ergebnisse und Ziele — weil ich ein Nicht-Wissender im Sinne des Sokrates bin und daher fähig, einen Bewegtheits- und keinen Ruhezustand zu übertragen. Denn nur die Bewegtheit regt an, beschleunigt vorhandene Bewegung. Ich fühle mich zum Lehrer berufen, nicht weil ich ein bestimmtes Bekenntnis habe, sondern weil ich ein Feind jedes Dogmenglaubens, jeder Gleichmacherei, jeder Vergewaltigung bin, für jeden wahrhaftigen Lebensausdruck von gleicher Ehrfurcht erfüllt. Und dieses nicht, insofern ich Relativist oder Subjektivist wäre, sondern in aller Sondererscheinung die Möglichkeit sehe, das Absolute zum Ausdruck zu bringen, sofern jene nur ihre spezifische Vollendung erreicht.
Zu dieser spezifischen Vollendung soll in der Schule der Weisheit jedem Schüler, soviel an ihr liegt, der Weg gewiesen werden. Aber er selbst muss ungeheuer viel dazutun. Er muss mit äußerster Willensanspannung mitarbeiten. Vor allem muss er sich, derweil er Schüler ist, ebenso rückhaltlos dem Lehrer hingeben, wie der Patient dem Arzt. Fehlt ihm das Vertrauen dazu, dann bleibe er fort. Ohne dieses Vertrauen ist gar nichts zu erreichen. Was zu Anfang von allen Besuchern der Schule der Weisheit gefordert ward, als die Seinsförderung ermöglichender Lebensstil, gilt im äußersten Maße vom Schüler. Dieser muss sich, solange er als solcher in Darmstadt weilt, zum Lehrer stellen, wie der indische Chélah zu seinem Guru. Jede Anregung muss er rückhaltlos hinnehmen, sich vollkommen eröffnen, gleich vollkommene Offenheit vertragen. Um ihn zu wahrer Selbsteinkehr, zu tieferer Einsicht zu bringen, um den nötigen Selbstbildungsprozess in ihm einzuleiten, muss ich das verlangen können, was der bloße Vortragslauscher so oft unterlässt: dass er mit seinem ganzen Wesen mitarbeite; die Trägheit muss überwunden werden. Schlägt nun der Einfluss des Lehrers überhaupt ein, sind die Grundrichtungen gewiesen, dann ist seine Aufgabe, bis auf weiteres, vollendet — fortschreiten muss der Schüler selbst. Ist er Philosoph, so mag er nun von vertiefter Bewusstseinslage aus an der Universität Philosophie studieren, oder Bücher schreiben, als Politiker und Industrieller praktisch wirken, als Pädagoge die Jugend bilden. Es hat im allgemeinen keinen Zweck, dass einer als Schüler mehr denn höchstens zwei Wochen hintereinander in Darmstadt weilte: länger ist kaum einer der höchsten Anspannung, länger auch nicht der Aufnahme fähig. Er lasse zunächst das Empfangene in sich fortwirken, und kehre wieder, wenn er spürt, dass er indessen einen höheren Zustand erreicht hat. Dieser aber wird allemal nicht in der Rezeption bestimmter Lehren, sondern in der Hebung seines Seinsniveaus bestehen. Was das Lernen des eigentlichen Schülers von dem der übrigen Besucher der Schule unterscheidet, ist nur dies, dass es in seinem Falle nicht bei der unwillkürlichen Beeinflussung durch die Atmosphäre, den Lebensstil der Schule und die Seinsart der sie beherrschenden Persönlichkeiten bleibt, sondern dass er praktisch angewiesen wird, in persönlicher Tätigkeit das erstrebte Niveau in allem Einzeldenken und —tun zu erarbeiten.
Der Plan der Schule der Weisheit dürfte hiermit mit genügender Klarheit umschrieben sein. Sie stellt eine Lebensgemeinschaft dar von bestimmter Einstellung. Das Seinsniveau zu heben bezweckt sie. Der Leiter hat dauernd an ihr seinen Wohnsitz, die Schüler und geistig Verbundenen kommen und gehen. Diese versammeln sich einige Male im Jahre, sei es zu kurzer Tagung oder zu längerer Retraite, die Schüler erscheinen einzeln zu beliebiger Zeit. Alle weilen nur so lang, als sie sich unbedingt aufnahmefähig fühlen, aber kehren womöglich wieder. Was in der Schule geschieht, wird von der Art der Anwesenden abhängen. Während der Versammlungen werden Vorträge gehalten, finden Unterhaltungen in größerem Kreise statt, wird edle Geselligkeit gepflegt. Das eigentliche Lernen der Schüler trägt streng intimen und privaten Charakter. Aber wenn mehrere gleichzeitig in Darmstadt weilen, so wird es wohl von selbst zur alten Peripatetiker-Methode kommen: während mit dem einen geredet wird, hören die anderen zu, durch Fragen und Einwürfe das Gespräch belebend. Da diese Art des Unterrichts ungleich höhere Anforderungen an die Kräfte des Lehrers stellt, wie der energischste Universitätsbetrieb, so ist es klar, dass sich aus der Natur der Sache zeitliche und sonstige Einschränkungen ergeben müssen. Zunächst hat der Lehrer über die Qualifikation zur Aufnahme, die Art und die Dauer des Einzelunterrichts, auf den allein die Mitglieder der Gemeinschaft der Schüler Anspruch haben, allein zu entscheiden. Dann ist es selbstverständlich, dass er allen eben nur als Leiter der Weisheitsschule, in entsprechender Einstellung, nicht als Privatperson zur Verfügung steht, und nur zu bestimmten Stunden. Er kann sich grundsätzlich nur darauf einlassen, was zum Sinn der Schule in unmittelbarer Beziehung steht, wird Fragen der bloßen Neugierde, Auseinandersetzungen und Begutachtungen besonderer Leistungen als solcher a limine abweisen, auch seine Korrespondenz auf ein Mindestmaß einschränken. Alles dieses versteht sich im Grunde von selbst, doch soll es einmal ausgesprochen werden. — Soviel vermag ich schon heute zu sagen; alles Weitere wird Erfahrung ergeben. Da die Schule der Weisheit kein Betrieb
ist und grundsätzlich keiner werden soll, so kann nur das Wenigste an ihr vorausbedacht werden. Sie wird organisch erwachsen, den vorhandenen lebendigen und materiellen Kräften gemäß.
Nun noch ein Wort pro domo. Bei der Gründung und im Betrieb der Schule der Weisheit steht meine Person stark im Vordergrund. Dies kann nicht anders sein, weil es bei aller Seinskultur eben auf das Sein des zum Lehrer Berufenen ankommt, und es zufällig meine Persönlichkeit ist, im Werk zum Ausdruck gebracht, die zur Gründung geführt hat. Wer daran nun dennoch Anstoß nimmt, bedenke, dass mein Sein
in diesem Falle keine andere Rolle spielt, als das Können
beim Universitätslehrer und industriellen Leiter. Auch deren Vorzugstellung muss hingenommen werden. Fürs erste kann ich auch, außer zur geschäftlichen Leitung und den Veröffentlichungen, keine Mitarbeiter heranziehen, weil ich noch von Niemandem mit Sicherheit weiß, dass er die für die Schule der Weisheit erforderliche Einstellung verkörpert, und die geringste Abweichung hierin ihr Ziel gefährden würde. Aber freilich liegt mir daran, so bald als nötig und möglich, entlastet zu werden, und ich zweifle auch nicht, dass, sobald der Sinn meines Wollens in weiteren Kreisen verstanden worden ist, persönliche Beziehungen zu solchen entstehen werden, welche ihrerseits als Lehrer in Frage kämen. Dies erhoffe ich besonders im Sinn zeitweiliger Lehrer. Jede irgendwie bedeutende und von der Erkenntnis her durchgearbeitete Persönlichkeit trägt Züge der Weisheit. Wenn solche nach Darmstadt kommen — die Versammlungen der Gesellschaft für Freie Philosophie haben ja gerade den Zweck, zwischen allen Gleichgesinnten persönliche Fühlung herzustellen — so werden sie gern gebeten werden, ihr Sein ihrerseits mit bewusster Zielsetzung ausstrahlen zu lassen. Aber auch bei dieser Berufung wird das Seinsniveau allein entscheiden; hier erst recht kommt es nicht darauf an, was einer denkt, vertritt oder kann, sondern wer er ist. Deshalb missverstehen mich alle, die aus vorhandener Denk- oder Gesinnungsgemeinschaft den Anspruch auf ein persönliches Verhältnis zur Schule der Weisheit ableiten. Diese hat ein rein praktisches Ziel. Unter keinen Umständen soll in ihr theoretisch verhandelt oder gar geschwätzt werden. So allein kann sie zu einer Schule der Weisheit werden. So allein kann sie zur Keimzelle erwachsen der neuen, höheren Kultur, der unsere Sehnsucht gilt. Diese soll auf erhöhter Erkenntnisgrundlage ruhen; der innere Wert, nicht die Zahl oder die äußere Macht soll sie beherrschen. Wer unmittelbar auf sie abzielt, darf sich auf nichts einlassen, was vom geraden Wege abführen oder das Bewusstsein dessen, was not tut, trüben könnte.