Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
12. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926
Zum Verhältnis von Eltern und Kindern
Es ist wahrscheinlich, dass ich ähnlich, wie das Problem der Ehe, auch das der Erziehung einmal ausführlich vom Standpunkt der Schule der Weisheit behandeln werde. Da ich dazu aber so bald kaum Zeit finden dürfte, möchte ich einige Gesichtspunkte, die mir allgemeingültig scheinen, schon jetzt in skizzenhafter Kürze der Öffentlichkeit mitteilen.
Im Aufsatz Ehe und Selbstentwicklung
des Ehe-Buchs hat Alphonse Maeder gezeigt, dass das äußere Verhältnis der Gatten zwei in jedem Menschen lebende komplementäre Pole des Menschenwesens in der Herausstellung symbolisiert, und dass die Ehe zur Integrierung des Selbstes führen kann, insoweit der Einzelne, ob Mann, ob Frau, die Projektion in sich zurückbezieht und daran zum Menschen erwächst. — Dass Vater und Mutter noch ungleich wichtigere Pole im Menscheninnern symbolisieren, hat die Psychoanalyse längst schon festgestellt. Aber eine wichtige Folgerung aus ihren Erkenntnissen hat sie meines Wissens bisher noch nicht gezogen. Dies ist die folgende. Wie der Mensch überhaupt über die Herausstellung zu sich selbst gelangt, so der Künstler über sein Werk, allgemeiner der Strebende über sein Ideal, so ist der Kindeszustand wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass hier alle bestimmenden Zentren außerhalb seines Ichkreises liegen. Dass dies beim Kind im Mutterleib der Fall ist, und später im Sinn der Führungsbedürftigkeit, liegt auf der Hand. Aber das Gleiche ist in dem schwerer verständlichen Sinn der Fall, dass Vater und Mutter für das Kind recht eigentlich sind, was später persönliche Geist- und Seelenfunktionen leisten. Dessen Persönlichkeit ist aus dem Zusammenhang mit den Eltern ohne gewaltsame Abstraktion überhaupt nicht loszulösen. Hierauf beruht die ausschlaggebende Bedeutung der frühesten Kindheitserlebnisse. Hierauf die Gefahr den Sinn entstellender oder zerstörender Elterneindrücke: was äußeres Erleben zu sein scheint, bedeutet in Wahrheit einen Prozess im eigenen Kindesinnern.
Nun stellt sich die Frage: wenn dem also ist, wie sollen sich Vater und Mutter grundsätzlich zum Kind verhalten? Die Antwort kann nur folgendermaßen lauten: die Mutter hat das Prinzip der Intimität, der Vater das der Distanz zu verkörpern. Diese Grundsätze gelten unbedingt. Alles andere, was man sagen kann, bedeutet demgegenüber sekundäre Zutat.
Über die Aufgabe der Mutter brauche ich hier nichts zu sagen; ihr Sinn liegt auf der Hand. Dagegen bedarf die den Vater betreffende These eingehende Erläuterung, denn heute heißt es ja gerade, die autoritäre Einstellung des Vaters hätte sich ad absurdum geführt. Das hat sie allerdings. Aber nicht weil ihr Sinn falsch wäre — sie hat sich ja durch Jahrtausende bewährt — sondern weil die traditionelle Verkörperung dieses Sinns den heutigen psychologischen Verhältnissen nicht entspricht. Dass die Dinge so und nicht anders liegen, beweist das Gegenbeispiel derer, die ihr Vaterschaftsverhältnis in Funktion der Intimität verstehen. Es gibt Analytiker, die ihre Kinder von Hause aus analysieren und sich, umgekehrt, nahezu von Hause aus von ihnen analysieren lassen: der Erfolg ist der, dass diese auf beispiellose Weise haltlos werden, ohne jede Distanz irgendwem oder irgend etwas gegenüber, ohne Fähigkeit zur Eigenführung und nur ihrerseits als mögliche Psychoanalytiker nicht zukunftslos. Ein anderes Beispiel bietet die österreichische Aristokratie, innerhalb derer die meines Wissens glücklichsten
Familienverhältnisse herrschen, insofern die geringsten Spannungen bestehen, was hauptsächlich darauf zurückgeht, dass die Väter nahezu wie Mütter zu ihren Kindern stehen. Die Produkte dieser Erziehung haben nun in der Regel mehr Frauen- als Männertugenden; sie sind selten fähig, ihr Schicksal initiatorisch zu gestalten. Keine Klasse der Welt hat, im Verhältnis zu ihrer Begabung, je weniger bedeutende Männer hervorgebracht, denn wohlgemerkt, der österreichische Aristokrat ist durchaus nicht typischerweise unbegabt, er ist vielmehr meist feinsinnig und oft sehr talentiert, aber es gebricht ihm an Initiative und Mark. — Hängt dies nun wirklich mit sinnwidriger Erziehung zusammen? Gewiss nicht ausschließlich, aber in so hohem Grad, dass wir im heutigen Zusammenhang ohne Gewaltsamkeit von den anderen bestimmenden Ursachen absehen können. Die Dinge liegen hier grundsätzlich folgendermaßen. Die Prinzipien der Intimität und Distanz, die alles psychische Geschehen regieren, haben den Eigen-Sinn, dass auf ersterem die organische Kohäsion beruht, und auf letzterem die Spannung, dank welcher kinetische Energie entsteht. Ohne Spannung nicht allein keine Produktivität, sondern auch keine Beherrschung des allgemeinen Gefüges von einem bestimmenden Zentrum her. Der Mensch ist genau insoweit Mann im Gegensatz zur naturhaften Frau, als in seiner Psyche die demokratische Republik der Kohäsion einer Hierarchie regierender Geisteskräfte unterworfen ist. Er ist weiter genau insoweit Mensch im Unterschied vom Tier: Mann und Weib bedeuten in diesem Zusammenhang nicht ewige Gegensätze, sondern das, was ursprünglich als männlicher Geschlechtscharakter erscheint, sublimiert sich im Verfolg der Entwicklung zum geistigen Prinzipe überhaupt, weshalb es durchaus in der Ordnung ist, dass die sich entwickelnde Frau sich in gewisser Beziehung vermännlicht. Von hier aus ermessen wir nun sofort, welche Rolle dem Vater in der Erziehung zukommt. Beim Kinde haben das eigene männliche und weibliche Prinzip ihre Bezugszentren außerhalb, in den Personen von Vater und Mutter. Soviel Distanz der Vater gegenüber dem Kinde zu halten weiß, soviel Überlegenheit gegenüber der Triebnatur entwickelt sich von selbst in diesem. Andererseits erfordert die Distanziertheit des Vaters korrelative Intimität von Seiten der Mutter, denn diese verkörpert im Sinnbild die eigene Kohäsion, woraus sich denn erklärt, warum Enttäuschung an der Mutter schier ausnahmslos schwere innere Verbildungen nach sich zieht. Doch über die Bedeutung der Mutter, deren Rolle eigentlich niemand missversteht, will ich mich, noch einmal, hier nicht ausbreiten. Bleiben wir also beim Vater. Wir sahen an den Beispielen des Analytikers und des österreichischen Aristokraten, wie verderblich die Folgen dessen sind, dass der Vater gleichsam Mutterstelle übernimmt. Umgekehrt gehören die stärksten Männer der Geschichte typischerweise Zeiten an, wo der Vater wesentlich autoritär war, und sind nahezu alle bedeutenden Männer aller Zeiten Familien entsprossen, in denen nicht österreichische Harmonie herrschte, sondern ein starkes Spannungsverhältnis in irgendeiner Form; sei es, dass der Vater hart war (Friedrich Wilhelm I. gegenüber Friedrich dem Großen) oder die Mutter das männliche Prinzip verkörperte (Lätitia gegenüber Napoleon I.) oder ein gespanntes Verhältnis zwischen den Eltern der Kinderseele eine entsprechende Spannung induzierte. Demgegenüber liegt freilich der Einwand nahe, dass unglückliche Familienverhältnisse noch häufiger pathologische Zustände zeitigen. Allerdings rede ich jenen hier keineswegs das Wort; wirken sie auf große Begabungen in der Regel fruchtbar, so sind sie im Fall gewöhnlicher Kinder ebenso regelmäßig contraindiziert. Ich führte den Extremfall der großen Begabung nur als extremes Beispiel an. Im Falle jener bedeuten unglückliche Verhältnisse nämlich das gleiche, wie im Normalfall das Vorhandensein normaler Spannung. Was nun unter dieser zu verstehen sei, machen die Beispiele Englands und Chinas vielleicht am schnellsten klar. Im modernen England tritt das patriarchalische Autoritätsprinzip kaum je in Kraft. Dafür wird dort der eigene Wille selbstverständlich gelten gelassen im Rahmen der Sitte. Da diese nun Höflichkeit, Reserve und Rücksichtnahme verlangt, so hat die tatsächliche Übermacht des Vaters vom Standpunkt des Kindes zur unwillkürlichen Folge, dass die Reserve des Vaters die dem Sinne nach gleiche Wirkung erzielt, wie die Behauptung der Autorität, nur mit dem Vorzug, dass sich der Junge von Hause aus nicht gebunden fühlt, sondern frei. — Im alten China tat dies der Sohn erst, nachdem sein Vater tot war; daher die geringere Initiative des chinesischen Volks. Aber andererseits hatte das patriarchalische Verhältnis auch dort keine der üblen Folgen, die der Westen aufwies (weshalb bei uns neuerdings eine richtige Revolution der Jugend ausbrach), weil der chinesische Vater seine unbedingte Autorität im Rahmen einer sittegeforderten Kindesliebe ausübte, welche mögliche Gegenbewegungen im Keim erstickte. Das Kind will ja ursprünglich gehorchen. Den typischen Widerständen, welche der Lernzwang wachruft, wurde aber dadurch in bezug auf den Vater weise vorgebeugt, dass dieser grundsätzlich nicht selbst seinen Sohn unterrichtete, sondern ihn zu dem Zweck einem Freunde übergab. Immerhin hat keine Kindesliebe den Vater je im alten China verhindert, das am Kinde zu schaffen, worin seine eigentliche Aufgabe liegt: Selbstbeherrschung und Distanz gegenüber der eigenen Natur.
Wenden wir uns jetzt dem modernen revolutionierten Westen zu. (Bei der Revolution der Jugend an sich brauchen wir uns überhaupt nicht aufzuhalten: dergleichen ist immer kurzlebig, schon weil die Revolutionäre von gestern typischerweise in irgendeinem Sinn als Konservative enden.) Welches Prinzip muss der moderne Vater befolgen, um in der Seele des Kindes das einzuleiten, was seine Rolle eines Sinnbildes verlangt? Ich weiß keine andere Antwort als die folgende: seine ursprüngliche Einstellung zum Kinde muss der zu einem étranger de distinction gleichen. Was der heute bewusst individualisierte Junge keinesfalls verträgt, ist die Elternauffassung, dass die Kinder den Eltern gleichen und ihnen gehören. Diese ist ja wissenschaftlich ganz unhaltbar. Man vererbt nie sich selbst, sondern als unpersönliche und selbständige Elemente durch ungezählte Generationen fortlebende Gene, und zwar diese als Träger ganz bestimmter Eigenschaften. Vermittelst dieses Überkommenen drückt sich eine jedesmal völlig einzige, aus anderer Region stammende Seele aus, wie ein neuer Gedanke mittels des alten Alphabets. Die Ähnlichkeit mit den Eltern beruht allemal nur auf Einzelheiten und Sondereigenschaften; dass Vater und Mutter als solche in den Kindern fortleben, ist reiner Aberglaube. Diesen Aberglauben teilt heute nun, ob er um die Vererbungsgesetze weiß oder nicht, kein Junger mehr; und dass viele Eltern an ihm noch festhalten, ist die eigentliche Ursache von deren extremer Oppositionsstellung. Es ist heute deswegen unbedingt erforderlich, dass die Eltern in den Kindern grundsätzlich und von Hause aus völlig selbständige Wesen sehen; und dazu wählte ich die extreme Formel étranger de distinction, weil in Anbetracht der ererbten Vorstellung der Identität der Kinder mit den Eltern nur extreme Akzentlegung auf die Einzigartigkeit die Eltern dazu bringen kann, sich zu den Kindern richtig zu verhalten.
Wie ist nun unter den neuen Umständen der ewig sinngemäße Einfluss der Eltern auf die Kinder auszuüben? Die Rolle der Mutter verlangt kaum eine Neuverkörperung, sie hat bloß mehr bewussten Nachdruck auf die Einzigartigkeit der Kinder zu legen, als bisher. Der Vater hingegen hat sich allerdings wesentlich umzustellen. Vom Missverständnis des Analytiker- und Mutter-Vaters können wir, da wir es schon erledigten, hier absehen. Aber die Reaktion auf die sinnwidrige Patriarchenstellung hat neuerdings viele Väter dazu verführt, sich wie gleichaltrige Kameraden und Freunde ihrer Söhne zu geben. Dies ist es, was fortan grundsätzlich aufhören sollte. Der moderne Vater soll, ähnlich wie in England und im alten China, gerade jetzt, mehr denn je, seine erzieherische Aufgabe in der Distanzeinhaltung sehen. Denn der emanzipierte Junge läuft mehr als irgendein traditionell Gebundener Gefahr, das Element der Distanz in der eigenen Seele nicht auszubilden. Dies beweist völlig eindeutig die Wirkung aller Teilnahme an Jugendbewegungen, mit der einzigen Ausnahme des pfadfinderischen, wie diese sich außerhalb Deutschlands gestaltet haben. Deren Frontsoldaten erweisen sich später beinahe ausnahmslos als besonders undiszipliniert und innerlich ungebildet, weshalb sie sich denn später besonders gern zur verjährten Unteroffiziersdisziplin bekennen. Deren Führer hinwiederum entwickeln die Eigenschaften nicht von überlegenen Führern freier Menschen, sondern entweder von Diktatoren oder von formalistischen Advokaten, weshalb ich mir kaum vorstellen kann, dass irgendein bisheriger Jugendführer im Zukunftsleben der Nation eine führende Rolle in ersprießlichem Sinne spielen wird. Es ist aber überhaupt ein Missverständnis, von den Jugendverbänden wirklich Erneuerndes zu erwarten: wesentlich erzieht einzig die Kinderstube. Was aus einem Menschen wird, entscheidet sich grundsätzlich vor seinen achten Lebensjahr. Hier also gilt es anzusetzen, wenn die folgenden Generationen besser werden sollen, als die heute erwachsenden. Desto mehr, als die Einheitsschule, diese unpädagogischste, verderblichste Erfindung aller Zeiten, eigentliche Bildung
vom Schuleintritt an ohnehin vereitelt. Damit gelange ich denn zum modernen Vaterproblem zurück und wiederhole: Mehr als je früher hat der moderne Vater darauf zu sehen, dass er durch sein Verhalten das Prinzip der Distanz der Kindesseele einbildet. Er muss es nur heute nicht in Form des besitzenden Patriarchen, sondern des Fürsten dem étranger de distinction gegenüber tun. Er muss streng jede Eigenart respektieren, er darf unter keinen Umständen den Willen zu brechen trachten. Desto unbedingter aber muss er die Distanz wahren und durch Niederlegung unüberschreitbarer Grenzen, die als Sitten zu Fleisch werden, die Selbstbeherrschung im Kinde selbstverständlich werden lassen. Dabei sollte er besonders streng vermeiden, durch Alleserklären und -begründen den Fatumcharakter der Distanz zu schwächen. Die menschliche Freiheit ist nun einmal ein winziges Rädchen im Uhrwerk der Welt. Auch der Freieste hat 90 Prozent des Geschehens als Schicksal hinzunehmen. Insofern ist es Aufgabe des Vaters, auch gerade den Schicksalscharakter seiner Überlegenheit unabgeschwächt zur Geltung zu bringen: so allein verhilft er dem Kind zur richtigen Einstellung im Kosmos und damit zur wahren Freiheit.
Nun mögen Sentimentale fragen: leidet unter der Distanzeinhaltung nicht die Liebe? Alle Erfahrung aller Zeiten beweist das Gegenteil. Das Kind will im Vater den allmächtigen Gott
sehen, denn durch Polarisierung mit diesem allein wird er selbst auf die Dauer selbstbeherrscht. Deswegen liebt das Kind den allzu intimen Vater nicht mehr als den strengen — instinktiv verachtet es ihn. Kein Kind mag es wirklich, wenn der Vater die Funktion der Mutter ausübt. Der Autoritätsverlust der heutigen Väter beruht zu einem nicht geringen Teil darauf, dass die Söhne ihnen ihren Distanzmangel während der entscheidenden Wachstumsjahre nachtragen. Kein Wunder: was damals versäumt ward, ist organisch nie mehr einzuholen. Söhne, die ihre Väter liebten, waren zu den Zeiten am häufigsten, wo die Frage der Kameradschaft sich nicht stellte. Umgekehrt ist Sohnesliebe dort am seltensten, wo Väter sich revolutionären Söhnen anzupassen trachten. Denn Sohnesliebe besteht der Natur der Dinge nach zum allergrößten Teil als Verehrung, und kann nur so bestehen.