Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
12. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1926
Bücherschau · Dichtung
Wolkoff sagte mir einmal, als wir von Tolstoi, den er gut kannte, redeten: le roman, c’est l’esprit des autres. Gleich Wolkoff, habe auch ich wenig Sinn für Erzählungen an sich. Wozu das wiedergeben, was schon einmal ist? Nur höchste, durchgeistigste Kunst verdient den Nimbus, den neuerdings alle hat. Unter Künstlern ist nur der allergrößte mehr als Unterhalter, jeder mittelmäßige scheint mir weniger ernst zu nehmen als andere Menschen. Denn als Künstler überhaupt ist er nur ein Wesen besonderer Medialität und in seinem Wiederzählen müssen sehe ich an sich nicht mehr als eine Art neurotischen Zwangs. Es erzählen nun wirklich die allermeisten nur wieder: ganz wenige Romane gibt es, die nicht wesentlich Schlüsselromane wären. Dichtern (im weitesten Sinn) fällt in der Regel außerordentlich wenig von selber ein. Sie stellen heraus, was sie gesehen und gehört haben, bestenfalls, was andere in ihnen anregten. Tun sie dies mit Meisterschaft, so sind sie insofern freilich ehrwürdig und bedeutsam. Doch auch nur insofern. Tolstoi war auch wesentlich ein Mann der bloßen Wiedergabe; niemand hat mehr aufgepasst und notiert als gerade er, vielleicht keine seiner Gestalten ist erfunden. Aber er war überdies ein großer Mensch. So hat er seine Künstleranlage durchdrungen und überwunden, und darauf vor allem beruht sein Wert.
Dichtung ist nur dann geistig wertvoll, wenn sie eine besondere, anlagebedingte Form bedeutet, den Sinn herauszustellen; also über die Natur hinauszuführen oder ihr einen tieferen Sinn zu geben. Heute weiß ich nur einen Lebenden, der obzwar als Dichter keiner ersten Ranges, dies wahrhaftig vermag: Miguel de Unamuno. Dessen Novellen (deutsch bei Meyer & Jessen in München erschienen) sind wahre Visionen des Dämonischen, insofern außerhalb Spaniens der Malerei Daumiers verwandt, in Spanien selbst dem Goya, der die Cartons im Prado erschuf. Ich kenne nicht alles von ihm, aber was ich kenne, stellt ihn als Geist hoch über alle mir bekannten lebenden Dichter. Otto von Taube hat nicht Unrecht, wenn er ihn innerhalb gewisser Grenzen als Gestalter mit Michelangelo vergleicht. Die heutigen Russen sind zum größten Teil Artisten, D’Annunzio ist zwar eine begnadete Sprachbegabung, doch im übrigen Rhetor und Komödiant. George Bernard Shaw ist groß, doch als Weiser, nicht als Dichter. Galsworthy ist freilich Sinneserfasser, seine Forsyte Saga rechne ich zu den bedeutendsten Zeitromanen dieser Zeit; aber sein geistiges und persönliches Kaliber ist nicht erheblich genug, um ihm überzeitliche Bedeutung zu sichern. Die so berühmte Norwegerin Undset (vgl. ihre Kristin Lavranstocher, Frankfurt, Rütten & Loening) wird meines Erachtens gewaltig überschätzt. Sie überträgt nur moderne Schwachheitsproblematik mit nicht ungewöhnlicher Kunst auf eine Zeit, die wesentlich anderen, größeren Geistes war, und diese Übertragung allein bedeutet ein Missverständnis, das nicht hätte vorkommen dürfen. Wenn die Skandinaven heute meist so sind, wie ihre Literatur sie darstellt, so liegt das daran, dass die besten unter ihnen als Wikinger außer Landes gingen, nachgeblieben ist nur gleichsam der Bodensatz, und aus ihm hat sich der heutige Typus entwickelt. — Wie steht es nun mit Deutschland? Hier gibt es meines Wissens nur einen Dichter, der wesentlich mehr als Dichter ist: Stefan George. In ihm lebt wahre seherische Größe. Die anderen aber, die mehr zu sein beanspruchen oder für mehr gehalten werden, als Künstler… Leopold Ziegler schrieb einmal von Hermann Stehr, er sei mehr als Dostojewski und daraufhin las ich ihn: selten hat deutscher Sinn für das Anheimelnde und Kleine zu so grotesker Verkennung der wahren Verhältnisse geführt. Stehr, allerdings ein echter Dichter und ein tiefes Gemüt, verhält sich zu Dostojewski nicht etwa wie Meissonier zu Rembrandt, sondern wie eine Grasmücke zu einem Kontinent. — Von Deutschlands wirklich großen Schriftstellern gilt gottlob allgemein, dass sie nicht mehr zu sein beanspruchen, als was sie wirklich sind. Thomas Manns sehr große Bedeutung wurzelt in seiner Meisterschaft und dem Ernst, mit dem er seine Person in ihren Dienst stellt. Es ist der Flaubert der deutschen Literatur; ihm ist das Schreiben ein Sakrament, und vielleicht nie hat ein Deutscher je zu seiner Kunst gleich priesterlich-verantwortungsvoll gestanden. Thomas Mann ist insofern wahrhaft vorbildlich. — Doch nun zu Jakob Wassermann, der mir den äußeren Anlass gibt, diese Gedankensplitter niederzuschreiben. Von Hause aus hat er den Vorzug außerordentlicher Klugheit und glänzender Technik; hätte ich mich noch vor wenigen Wochen über ihn zu äußern gehabt, so wäre dem von meinem Standpunkt wenig hinzuzufügen gewesen. Nun aber hat er den Laudin und die Seinen geschrieben (S. Fischer Verlag). Und da bleibt mir nichts übrig, als zu sagen: chapeau bas. Einen solchen Roman las ich in deutscher Sprache bisher nicht. Ihm fehlt gewiss die Farbe der Spanier — im Visualisieren sind sie einzig — und der seelische Nuancereichtum der größten Franzosen. Dafür liegt hier zweierlei vor: letztes geistiges Durchdringen des Sinns der Gestalten und visionäre Linienführung. Den Sinneshintergrund der Einzelheiten, die er bildet, sieht er zwar selbst möglicherweise nicht. Aber er zeichnet das, was er sieht, so scharf, dass andere ihn sehen müssen. Und dann steckt wirklich eigener Geist darin. Von Wassermanns Laudin gilt Wolkoffs Wort Le roman, c’est l’esprit des autres, ausnahmsweise nicht. Es gilt nicht, selbst wenn auch der Laudin, wie manche behaupten, ein Schlüsselroman sein sollte.