Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920

Vollendung und Glück

Ein biederer Landjunker fragte mich einmal: was ist Bestimmung des Menschen — glücklich zu werden, oder dem Staat zu dienen? Ähnlich verbogen sind die meisten Fragestellungen, die sich mit dem Glücksproblem befassen. Zwei Tatbestände werden allzuoft verkannt: erstens, dass Glück an sich überhaupt nicht Ziel sein kann, zweitens, dass Gleiches von allem Unbefriedigenden gilt. Es gibt kein Glück im allgemeinen, sondern nur bestimmtes Glück; das bestimmte als solches kommt daher allein als Ziel in Frage. Andrerseits sind wir alle unabänderlich persönliche Wesen, weshalb nichts, was wir betreiben, von innen her beseelt erscheint, was nicht von persönlichem Wollen getragen wird.

Es ist tief bedeutsam, dass das vollstausgeschlagene Menschentum, das im Westen je seine Vollendung fand, das griechische, zwischen dem Guten und dem Nützlichen kaum unterschied; und dass umgekehrt der abstrakte Idealist, der gar keine persönlichen Ziele verfolgt, auch seiner Sache selten sinngemäß dient. Es scheint doch seine Schattenseite zu haben, zwischen Pflicht und Neigung praktisch so scharf zu unterscheiden, wie dies seit Kant geschieht. Freilich hatte dieser Recht damit, sittlichen Wert nur der pflichtgemäßen Handlung zuzusprechen, allein er irrte in der einseitigen Wertbetonung des Sittlichen. Indem man nur einen Teil seines Selbst als wertvoll anerkennt, entvitalisiert man sich. Nichts trägt an der Subalternität des jüngsten Deutschentypus so handgreiflich Schuld, wie die Kultur des spezifisch-preußischen Pflichtgefühls. Da die Pflicht vom persönlichen Wesen unabhängig gelten soll, so wird sie allzuleicht mechanisch erfüllt; was einem Menschen wesentlich Pflicht sei, bleibt unerwogen. So funktionierte der Deutsche gleich vollkommen als Rad eines beliebigen Betriebs, schuf er gleich pflichtgemäß Verderbliches wie Edles, sein ganzes Dasein in den Dienst eines Abstraktums stellend, das sein ursprüngliches Leben schließlich erstickte. Eben deshalb erfolgte in den Tagen der Revolution, als die Pflicht von gestern plötzlich nicht mehr galt, entweder würdelos flinke Umstellung oder allgemeine Verwilderung. Auch das irreell Anarchische der deutschen Literatur-Bohème versteht der allein, der es als Komplementärerscheinung des mechanischen Pflichtmenschendaseins würdigt.

Hier wie überall gilt nun der Satz, dass, vom Standpunkt des Lebens her betrachtet, jede höhere Differentiation eine tiefere Integration postuliert, wenn Grundwerte verwirklicht werden sollen, und jede schärfere Explikation hineinmünden muss in eine reichere Implikation. Freilich musste herausgearbeitet werden, was man soll, gegenüber dem naturhaft blinden Wollen der Oberflächenperson; doch nur zu dem Ende, das persönliche Wollen zu vertiefen. Wertvoll wird Pflichtgefühl erst, wenn es mit tiefer Neigung verschmilzt. Um das, was ich meine, durch Paradoxie des Ausdrucks recht deutlich zu machen: ich misstraue jedem, bei dessen Handeln ich keine persönlichen Beweggründe feststellen kann. Entweder er ist ein blutleeres Fragment, oder aber unehrlich; dem vielgerügten englischen Cant, der aufs Moralische geht, steht der deutsche, aufs Ideale bezügliche, gleichwertig gegenüber. Hier behauptet der gerissenste Geschäftsmann, dass es ihm nur um die Sache zu tun ist, er muss es, sofern er seinen Ruf nicht schädigen will. Wo der Idealist nun weder blutleer noch unehrlich ist, fehlt es ihm doch zum mindesten an Persönlichkeit. Auch auf diesen Zusammenhang bezieht sich das Christuswort, dass nur dem, der da hat, gegeben wird. Wer für sich nichts will, es sei denn, er sei bereits entworden im Sinne Eckharts, der kann auch von sich nichts geben, denn der eigentliche Brennpunkt seines Wesens bleibt außer Spiel. Und auch beim Entwerden handelt es sich nie um einen Verlust an Leben, sondern um eine Beziehung seiner Ganzheit auf einen tieferen Mittelpunkt. Der Heilige strebt mit persönlicher Inbrunst an, was ihn im irdischen Verstand verdirbt, und steht insofern dem naiven Egoisten viel, viel näher als dem selbstlosen Pflichtmenschen. — Dieses alles musste ich vorausschicken, um das Glücksproblem ins richtige Licht zu rücken. Ebensowenig wie die Sittlichkeitswerte dürfen die der persönlichen Befriedigung aus dem Gesamtleben herausgegriffen werden. Wohl trifft es zu, dass man nur Gott oder dem Mammon dienen kann, insofern das schlechthin Äußerliche, als Ziel verfolgt, vom Innerlichen abführt. Doch auch die Pflicht, primitiv verstanden, gehört zum Mammon. Um bei der christlichen Ausdrucksweise zu bleiben: allerdings soll man Gott allein dienen, aber ein richtig verstandener Gottesdienst ist zugleich Selbstdienst und Dienst für die Welt. Der Fehler liegt im Zerreißen des Lebenszusammenhangs.

Die praktische Moral aus dem bereits Gesagten ist nun die, dass wir, wird die Frage einmal auf die übliche falsche Weise gestellt, entschieden nach Glück streben sollen. Diese Entscheidung bewahrt uns zum mindesten vor der Hauptklippe auf der Fahrt nach höherem Menschentum: der Entpersönlichung. Dann aber sollen wir uns darüber Klarheit schaffen, worin denn Glück bestehen kann. Gelingt uns aber dies, so stellen wir eben damit fest, dass alle üblichen Scheidungen zwischen Glück, Vollendung, Pflicht usw. auf Missverständnis beruhen.

Hiermit rede ich beileibe nicht der Rehabilitierung altgriechischer Gleichungen, wie: was schön sei, müsse auch gut sein, nur dem Tugendhaften werde Glück zuteil u.ä., das Wort. Diese beruhten auf Wortaberglauben, sind nicht wesentlichen, sondern grammatikalischen Geblüts. Wohl aber gilt die folgende: nur, was persönliches Wollen erfüllt, macht glücklich; da aber andererseits jede Befriedigung als Endzustand das Glück wieder aufhebt, so kann nur das Wollen, das sich in der Erfüllung steigert, dauernde Befriedigung schaffen. Dieses nun gilt ausschließlich von dem, das ohne Unterlass der persönlichen Steigerung und Vollendung dient.

Damit sind gleichsam verschiedene Etagen nicht-missverständlichen Glückstrebens nachgewiesen. Als Sinnen- oder Herzenswesen strebt der Mensch nach der Befriedigung im Liebesglück, und dies mit Recht; wehe dem, der solches bei sich und anderen vereitelt, denn Verbitterung verhäßlicht die Welt. Aber damit dieses Glück dauere, muss es sodann zum Gefäß eines tieferen Strebens werden. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von der Berufstätigkeit, welche den, der sie ausübt, sowohl mechanisch machen als ohne Unterlass menschlich höher entwickeln kann. Wer den Sinn des Daseins versteht, der bringt es dergestalt dahin, dass alles Streben, das zunächst auf ein Endliches ausgeht, zum Körper des Vollendungswillens wird, der allein dauernde Glücksmöglichkeit birgt. Was einen nicht weiterbringt oder gar hinabzieht, befriedigt nie auf lange hinaus; was einen nur satt macht, löst schließlich Ekel aus. Allerdings aber darf von der endlichen Befriedigung nie abgesehen werden, denn alle unmittelbaren Triebe zielen auf Endliches, und ohne sie wären wir nicht. Als abschließende Formulierung des wahren Sachverhalts dürfte mithin die folgende gelten — nur, was im Geist des Vollendungswillens betrieben, zugleich als persönliches Glück jeweilig erstrebt wird, bringt einen weiter und gewährt allein zugleich nie versiegende Befriedigung.

Weil dem so ist, deshalb ist Vervollkommnungsstreben schlechthin allgemein, wo das Leben noch im Aufstieg begriffen ist. Trägt jenes materialistischen Charakter, so bleibt das Wesentliche am Wollenden doch sein Trieb, reichere Betätigungsmöglichkeiten zu erringen. So ist dem Genie des Erwerbs das Geldverdienen wichtiger als das Geld — und man sage, was man wolle: diese Art Yoga, so einseitig entwickelnd sie sei, bringt doch weiter, als mechanische Pflichtleistung. Heute nun, wo die überkommene materielle Kultur zusammenbricht, ist das innerliche Vervollkommnungsstreben eben deshalb allgemeiner und intensiver als jemals seit den fernen Zeiten ähnlich großer Weltkrisen, weil es bewusstermaßen als einziges dauerhaftes Glücksempfinden schafft. Es machte mir einen tiefen Eindruck, als während meines letzten Besuchs in Estland, im vergangenen Sommer, ein dortiger Praktiker, früher der geldgierigsten einer, dem sein Besitz nun genommen war, mit Überzeugung sagte: das größte Glück für uns Balten bedeute doch der Weltkrieg mit seinen verderblichen Folgen; so würden wir sicher nicht zugrunde gehen. Nur ein paar weitere Jahrzehnte des ungefährdeten Reicherwerdens, und wir wären verloren gewesen. Dieser Mann redete gewiss nicht der Askese das Wort. Aber ihm war aufgegangen, dass alles Glück nur im Vollendungsstreben liegt. Nur was einen fördert, kann man dauernd als Segen empfinden. Oder, wie ich’s im Reisetagebuche einmal aussprach:

so wenig Glück als Ziel menschlichen Strebens gelten kann,
so ist es doch das beste Mittel zu seiner Erreichung
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Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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