Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
13. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1927
Bücherschau · Alfredo Oriani · Rivolta ideale
Ich persönlich bin in der Tat überzeugt, dass die Ära überschätzten Arbeitsethos zur Neige geht. Sie dokumentierte sich mit am stärksten bei den Deutschen, diesen, nächst den Ägyptern, begeistertsten Arbeitern der Weltgeschichte. Aber auch unter Deutschen sind schon Anzeichen der Wandlung spürbar. Jedenfalls werden sie, wie alle Gleichgesinnten, aufhören müssen, im gleichen Tempo weiterzumachen, weil übertriebenes Arbeiten sich zwangsläufig ad absurdum führt. Eine Form solchen ad absurdum-Führens war der Weltkrieg, in den sich die Deutschen buchstäblich hineingearbeitet hatten: einerseits war allen Anderen angst und bange geworden, andererseits fanden sie selbst vor lauter Arbeit keine Zeit zum Nachdenken und keinen inneren Standpunkt zu souveräner Überschau. Die Nachkriegs-Form des ad absurdum-Führens übertriebener Arbeit dürfte aus drei Komponenten zusammengesetzt sein: dem immer schnelleren Erfolg — in der modernen Welt rentiert gute Arbeit sich so schnell, während andererseits Gleiches nicht dauernd Gewinn bringt, dass die Arbeitenden gezwungen sein werden, irgendeinmal Feierabend zu machen; sonst ruinieren sie entweder Andere oder sich selbst. Das zweite Gegen-Motiv gegenüber übertriebener Arbeit liegt in der immer größeren Solidarisierung der arbeitenden Welt. Bald wird die Weltindustrie eine Zunft darstellen, die auf die Dauer jedem nur ein bestimmtes Pensum Arbeit erlauben und überhaupt kaum minder schroffe Schranken jeder Willkür setzen wird, wie es nur je die mittelalterlichen Zünfte taten. Dann werden Maschinen gerade solche Arbeit, die am meisten Zeit nahm, immer vollständiger ersetzen; was nunmehr gefordert werden wird, ist nicht eigentlich Arbeitskraft sondern Führerbefähigung, d. h. Schnelligkeit, Urteilssicherheit, Entschlusskraft und Intuition, auf welcher Stufe immer. Endlich wird die psychologische Reaktion gegen ein so lange Zeit alleinherrschendes Arbeitsethos zwangsläufig eine stärkere werden müssen, als wir sie je erlebten. Ganz gewiss wird Russland, gerade wegen seines heutigen Fron-Lebens, nicht ewig in der Arbeit das Höchste sehen. In Amerika nimmt schon ein sehr weltfremder Idealismus, ja Donquichotismus unter denen, die sich’s materiell leisten können, überhand. Der Engländer war immer wesentlich arbeitsscheu — daher zum Teil, so paradox es klinge, seine Konsequenz im Heranzüchten von Führerbefähigung: er musste niederes durch höheres Können ersetzen. Was nun die Deutschen betrifft, so hege ich die Hoffnung, dass sie nach zwei Gründerperioden doch genug eines Lebens haben könnten, das an das der Juden im Ägypterland gemahnt. Erst schufteten sie sträflingsmäßig von 1871 bis 1914 und wurden dadurch maßlos reich. Nachdem der Weltkrieg ihnen alles genommen, schuften sie noch sträflingsmäßiger; und da sie inzwischen klüger geworden sind, und ihre blinden Feinde sie, indem sie ihnen die Möglichkeit nahmen, auf verjährte Art nach Macht zu streben, zu richtiger Einfügung in die neue Ordnung gezwungen haben, so werden sie sehr bald noch sehr viel reicher werden, als sie jemals waren. Aber dann werden sie sich umstellen müssen, wenn sie kein zweites 1918 erleben wollen; nur im Zusammenleben mit allen Völkern ist fortan noch Gedeihen möglich. Zusammenleben nun setzt gerade der Arbeit Grenzen. So werden die Deutschen ihr einseitiges Arbeitsethos früh oder spät, wohl oder übel, durch ein anderes ersetzen müssen.
Dies kann nur das Ethos des Herrentums sein, wie es im Westen bisher am schönsten in der Kalokagathie des hellenischen Freien und in der vornehmen Lebensform des englischen Gentleman in die Erscheinung trat. Nun, wenn die westliche Welt wieder einmal herrschaftlich gesonnen sein wird, dann, aber erst dann kann wieder eine große Zeit unter uns beginnen. Denn alle Arbeit als Arbeit ist subaltern. Nichts Wesentliches geschah jemals durch sie. Alle wichtigen Entscheidungen fielen von jeher jenseits der bloßen Beschäftigungsmöglichkeit. Kein wesentlich schöpferischer Geist war jemals wesentlich Arbeiter. Selbstverständlich musste auch er arbeiten — dies gehört nun einmal zum Schicksal, wie ja auch das Herz dauernd arbeiten muss — drei Viertel alles Lebens bestehen unabwendbar in irgendeiner Art von Routine. Aber nicht auf der Arbeit liegt beim Schöpferischen der Akzent. Wohl arbeitet er meist mehr als der Sterile, aber er tut es, als täte er es nicht; nie sieht er in seinem Arbeiten ein Ideal. Er weiß vielmehr: wo Arbeit nicht bloße Ausführung bedeutet, hindert sie die Auswirkung des Wesentlichen. Allerdings wird Muße im griechischen und englischen Sinn kaum je mehr allgemeine Lebensform auf Erden werden können; dazu ist die Unterlage möglichen freien Lebens zu kompliziert geworden. Aber die erforderliche Arbeit wird anderseits immer weniger Aufmerksamkeit beanspruchen. Die Gehirne werden so durchgebildet sein, dass sie in zehnmal kürzerer Zeit das Zehnfache dessen erledigen, was früher gelang. Im Übrigen wird über die Arbeit diskret hinweggeglitten werden. Diesem höheren Zustand bereitet die Chauffeur-Zeit nun den Weg. Schon der Chauffeur ist wesentlich schnell, intuitiv und souverän. Schon er arbeitet wesentlich mit Resultanten. Aber in der Regel ist er noch arg mechanistisch. Was werden kann, wenn dieser Typus sich über sich selbst erhebt, beweist sein erster schöpferischer Führer, Mussolini. Tag für Tag fällt ihm Neues ein; Tag für Tag schafft er, wie selbstverständlich, neue Lebensformen. Und sie alle konvergieren, auf der Basis höherer Arbeitsleistung natürlich, als sie bisher in Italien üblich war, beim Ziel eines neuen Herrenmenschentums.
Wie Mussolini geworden ist, verfolge man an der höchst interessanten Lebensbeschreibung, die im Paul List Verlag erschienen ist. Die sollte jeder lesen, denn sie zeigt, wie sehr auch Mussolini von Hause aus Chauffeur
ist — triebstark, primitiv und rücksichtslos. Aber noch interessanter ist es, die geistigen Grundlagen dieses Lebens kennenzulernen. Mir war von Hause aus klar, dass Mussolini von irgendeiner Weltanschauung, die er nicht erschaffen, ausging. Denn metaphysisch, überhaupt theoretisch ist er nicht produktiv und nicht einmal begabt. Von welcher Weltanschauung ging er nun aus? Die Kenntnis Nietzsches und Machiavellis genügt lange nicht, um die fascistische Wirklichkeit zu erklären. Was Mussolini sonst an Allbekanntem gelesen, kann ihm nicht viel von dem gegeben haben, was sich heute auswirkt. Da schickte mir eine italienische Freundin, die von meinem Suchen wusste, Alfredo Orianis Rivolta ideale (Bologna, Licinio Capelli). Und nun sah ich, wer des Fascismus geistige Grundlagen erschuf. Am Anfang dieses Jahrhunderts hat der früh verstorbene Oriani alles das gedacht und in leidenschaftlicher Sprache ausgesprochen, was der beste Geist des Fascismus heute vertritt. Er hat in politischem Zusammenhang gezeigt, inwiefern nur Persönliches zählt, weshalb jeder getrost den Mut zu seiner Subjektivität habe. Er hat die neue Autoritätsidee fundiert. Er hat den Begriff der liberalen Philanthropie zerstört, der kommenden klassenlosen Welt einen neuen Ehrbegriff gegeben. Er hat gezeigt, dass die moderne Proletarierbewegung nur ein Embryonalstadium bedeutet. Er hat Italien vor allem seine wesentlich heidnische Seele im Spiegel vorgehalten. — Oriani sollte bald übersetzt werden. Ich kenne nur das zitierte Buch, vielleicht hat er noch Wichtigeres geschrieben. Jedenfalls haben alle heutigen fascistenführer ihn gelesen. So war es denn wieder ein Philosoph, zu dem die spätere politische Wirklichkeit als zu ihrem geistigen Vater aufzublicken hat.
Im Augenblick, wo ich die Korrektur beende, höre ich vom Tod Houston Stewart Chamberlains. Von furchtbarem Leiden ist er nunmehr erlöst. Aber dieses Ende ergreift mich doch tief. Dieses Mal kann ich seine Persönlichkeit nicht mehr würdigen. So verweise ich denn auf die Stellen in der autobiographischen Einleitung von Menschen als Sinnbilder, die ihm ein Denkmal setzen.