Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
14. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1927
Bücherschau · Volk der Denker
Die unbestreitbare Tatsache, dass die Deutschen das moderne Volk der Denker sind, missverstehen die meisten dahin, dass deutsche Philosophie in der Regel besonders wertvoll sei. In Wahrheit folgt aus ihr rein logisch das Gegenteil. Das Gute ist überall Ausnahme. Je mehr eine Anlage vorherrscht, desto häufiger muss sie deshalb in Form des Minderwertigen Ausdruck finden. Zweifelsohne hat England in diesem Sinn, prozentual beurteilt, mehr gute Philosophie hervorgebracht als Deutschland: jenes Volk gebiert so wenig denkende Menschen und bei dem geringen Kurs, den dort Gedankenarbeit hat, gehört zur vitalen Akzentlegung auf sie so viel Initiative und Opfermut, dass nur philosophisch wirklich Begabte sich dazu entschließen, Philosophen zu werden. In Deutschland kommen auf ein gutes philosophisches Buch gewiss eintausend schlechte. Deutschland ist das Land nicht der vorwiegend guten, sondern vorwiegend schlechten philosophischen Literatur.
Es ist nicht zu glauben, was mir monataus, monatein zu lesen zugemutet wird. Gottlob fällt die Sichtung nicht schwer: da der Stil (nicht notwendig der schriftstellerische, wohl aber der Gedankenstil) der eine sichere Exponent geistigen Wertes ist, so kann der überhaupt Urteilsfähige schon aus wenigen Sätzen erschließen, ob es weiterzulesen lohnt. In meinen Tagungszyklen, in Menschen als Sinnbilder und Wiedergeburt habe ich nun zwar schon des öfteren gezeigt, warum und inwiefern der noch so gelehrte Philosoph ob seiner Gelehrsamkeit allein nicht ernst zunehmen ist. Doch sei es auch einmal in dieser von weiteren Kreisen gelesenen Bücherschau
getan. Der Begriff eines Denkers als solchen bezeichnet einen Unbegriff. Goethe wiederholte immer wieder, dass Denken zum Denken nichts nütze
. Denken als solches kompetiert einzig und allein auf formal-logischem Gebiet. Aber alles Substantielle, und darauf allein kommt es doch für die Weltanschauung an, liegt auf anderer Ebene als dieses Formale. Zu diesem muss einer ein lebendiges biologisches Merkweltverhältnis haben, um Beherzigenswertes aussagen zu können. Das hat nun niemand seltener als der typische Denker. Der spekuliert oder schließt dort, wo einzig innere Erfahrung und Wirklichkeits-Erleben zur Erkenntnis führen können. Nikolai Hartmann z. B., ein wirklich gescheiter Denker, lehrt mehr oder weniger, es dürfe keinen Gott geben um der Freiheit willen, und Kerler geht auf der gleichen Linie noch weiter. Wenn es nun aber doch einen Gott gibt? Darüber zu urteilen, ist der bloße Denker ebensowenig berufen, wie die Kuh über Vanille zu urteilen. Wir sollten über diesen denkerischen Formalismus, der viel substanzloser ist, als es der scholastische je war, endlich hinauswachsen.
Wir sollten endlich die absolute Wertlosigkeit jeder Gelehrtenphilosophie als solcher anerkennen. Nicht der Erkenntnistheoretiker, der Begriffszerklauber ist die Krönung der Philosophie, sondern diese Typen haben nur als Monteure gleichsam auf Beachtung Anspruch. Geistiger Wert hat nur geistige Substanz, welche als solche ausstrahlt. Die Bedeutung der reinen Erkenntniskritiker, deren Höchstausdruck Kant bezeichnet, und von denen diese Zeit auch zwei wirklich bedeutende hervorgebracht hat, nämlich Bergson und Husserl, ist nie mehr als eine negative, regulative. Ob einer als Philosoph beachtenswert ist, hängt, unabhängig davon, ob er nun den Anforderungen der Wissenschaft standhält oder nicht, einzig und allein an seinem persönlichen Charisma. Letztlich wissen das nun auch dieselben lieben Deutschen, die bewusst die Menschheitspyramide im reflektierenden Gelehrten gipfeln lassen, genau. Sonst würden sie Goethe nicht dermaßen feiern, und zwar gerade nicht als Dichter, sondern als denkenden Menschen. Er war eben die große deutsche Ausnahme. Sein Lebenszentrum lag nicht in der herausgestellten Erkenntnis, sondern in seinem persönlichen Leben. Selbstverständlich war da, bei der Qualität seines Seins und Geistes, jede Äußerung von ihm bedeutsamer als alle nur mögliche gelehrte Theorie. — Aber Goethe ist nun einmal tot. Und dass sich heute beinahe jeder, welcher schreibt, auf ihn beruft, ruft ihn ins Leben nicht zurück. Worauf es ankäme, ist, dass jeder Deutsche, der Goethe verehrt, für sich erkennte, warum Goethe so groß ist und so allgemein verehrt wird: er wird es als einer, dessen Lebenszentrum in sich lag, nicht in der herausgestellten Erkenntnis. Dementsprechend sollte sich da jeder dazu erziehen, über Lebende zu urteilen. Denn es ist doch allzu bescheiden, von Hause aus anzuerkennen, dass die Nachwelt gescheiter sein müsse als jene Mitwelt, zu der jeder Lebende verantwortlich mitgehört.