Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

14. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1927

Bücherschau · Amerika

Anlässlich meiner Balkanfahrt habe ich manches Buch gelesen, aber keins gefunden, das ich unbedingt empfehlen könnte. Panait Istrati (einige seiner Romane sind deutsch bei Rütten & Loening, Frankfurt a. M., erschienen) ist zwar ein bedeutender Schriftsteller, als solcher Gorki nahe, aber er gibt kein Bild vom eigentlichen Rumänien. Von dessen geistiger Oberschicht tut dies weit besser die Comtesse de Noailles, welche als Frankreichs größter lebender Dichter gilt und rein rumänischen Blutes ist; desgleichen deren Cousine, die Prinzessin Marthe Bibesco, die allerdings mehr für die oberflächliche Seite der rumänischen Kultur charakteristisch ist. Vom wurzelechten Rumänentum kündet bisher wohl nur die Lyrik — und die liegt in Übersetzungen meines Wissens noch nicht vor. Über die neue Türkei kenne ich noch gar nichts Wesentliches. Noch hat keiner, von dem ich wüßte, das Wesentliche, d. h. den unzerrissenen Zusammenhang mit der alten Türkei in ihrem heroischen Stadium bemerkt. Und darauf kommt es an. Der Ghazi Mustafa Kemal hat sich genau im selben Sinn von Istanbul nach Angora zurückgezogen, wie Dschingis Khan sich immer wieder nach Karakorum zurückzog. — So sei denn in dieser Bücherschau nur noch darauf hin, gewiesen, was ich zur Vorbereitung meiner Amerikareise las. Diese Vorbereitungen dazu beschäftigen mich so sehr — ich muss u. a. für viele amerikanische Zeitungen auf englisch schreiben, und bei der gebundenen Marschroute, auf der sich da sogar Geister befinden, denen absolute Freiheit zugesichert wird, verursacht das große Mühe — dass ich im letzten halben Jahr überhaupt viel weniger gelesen habe als sonst. Und jetzt habe ich so wenig Zeit, dass ich nicht so ausführlich sein kann, als ich sollte. Mehr denn je muss ich mich dieses Mal mit dem Hinwerfen von Schlaglichtern begnügen, welche denen vielleicht helfen werden, welche die fraglichen Bücher selbst studieren wollen. Unter denen, welche ich las, möchte ich nun die folgenden besonders empfehlen: an erster Stelle André Siegfrieds America comes of age (New York, Harcourt, Brace & Co., ursprünglich ist das Buch aber französisch erschienen) und Adolf Halfeld Amerika und der Amerikanismus (Eugen Diederichs); dann Sinclair Lewis’ Babbit, das ja in deutscher Übersetzung schon weit bekannt ist, den Sammelband Civilization in the United States, an inquity by thirty Americans (New York, Harcourt, Brace & Co.), die Bücher Sticks and Stones und The golden Day von Lewis Mumford (New York, Boni & Liveright), Judge Lindsays The Revolt of modern Youth (deutsch unter dem Titel Die Revolution der modernen Jugend bei der deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschienen) und Hermann Georg Scheffauers Das Land Gottes (Hannover, Paul Stegemann Verlag).

Der Grundeindruck und der Hauptgesichtspunkt, unter denen allein das heutige Amerika zu verstehen ist, ist der, dass die von Puritanern und den Pilgervätern gegründete Kultur zusammenbricht und etwas ganz Neues wird. Alle kultivierten Kritiker sind äußerst pessimistisch; in dieser Hinsicht ist der empfohlene ganz ausgezeichnete Sammelband besonders charakteristisch. Es besteht ganz unzweifelhaft die Gefahr, dass das traditionelle Amerika historisch zu sein aufhört. Zu sehr steht es heute in Abwehrstellung zur gesamten übrigen Welt; das Höchstideal des hohen standard of living unter hochmütiger Abschließung von allen anderen, welche sämtlich arm sind, bedeutet, aus der Perspektive der Jahrtausende gesehen, eine ähnlich ohnmächtige Gebärde reaktionärer Gesinnung, wie es in Deutschland der Kapp-Putsch war. (Von der unwahrscheinlichen amerikanischen Prosperität gibt das empfohlene Buch von Siegfried das beste Bild; ein skizzenhaftes, aber gleichfalls sehr gutes ein Artikel Professor Bonns im Juniheft der Neuen Rundschau.)

Was wird nun aber Neues in Amerika? Die Grundlinien zeichnete C. G. Jung in seinem Tagungsvortrag. Die betreffenden Stellen sollte jeder lesen und meditieren. Es entsteht jenseits des Ozeans offenbar eine hybride Kultur, psychisch aus europäischen, indianischen und afrikanischen Elementen zusammengesetzt. Jung nennt den jüngsten Amerikaner geradezu einen Europäer mit indianischer Seele und Negermanieren. Eben darauf beruht natürlich Amerikas Zukunftsmöglichkeit — stellte sein Fall nur eine Kopie Europas dar, so wäre er hoffnungslos: die große indische Kultur entstand aus der Vermählung des arischen Eroberergeists mit dem von Indien und seiner Urbevölkerung. Gleichsinnig erwuchs die griechische Kultur aus der psychischen Vermählung der nordischen Einwanderer mit den Pelasgern und sonstigen Urvölkern. Aber zunächst stehen zweifelsohne chaotische Zeiten bevor. In dieser Hinsicht nun ist Lindsays Buch das vielleicht interessanteste und wichtigste Dokument dieser Zeit. Nach ihm zu urteilen — und das darf man tun — konvergiert der Zustand der jüngsten Amerikanergeneration mit dem des Bolschewismus auf der ganzen Linie. Die gleiche absolute Nüchternheit. Die gleiche Art, die Liebe als bloße biologische Funktion zu bewerten. Der gleiche unwahrscheinliche Zynismus. Die gleiche Ablehnung aller traditionellen Autorität.

Reiner Tatsachenglaube. Diese Generation hat, in Ortegas Sprache, nur Vitalität und Geist, überhaupt keine Seele. Alles wird in Funktion der materiellen Tatsachen beurteilt. Dort führt die Reaktion gegen den Puritanismus zu ebenso Extremem, wie in Russland die Reaktion gegen den Zarismus. Es herrscht auch dieselbe Leugnung der Individualität und des Werts. Das Ideal der Normalcy bedeutet genau das gleiche wie in Russland das des Arbeiters und Bauern. Und das des Service wiederum ist kein anderes als das des Kollektivismus, natürlich eines Kollektivismus besonderer Art. Diese Konvergenz Amerikas mit Russland zu verstehen, scheint mir nun von entscheidender Bedeutung zur richtigen Beurteilung dieser Zeit und ihrer Aufgaben.

Für dieses Mal nicht mehr. Mehr werde ich sagen können, nachdem ich mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört habe. Nur noch ein Wort über die amerikanische psychologische Wissenschaft. Für Psychologie erscheint dieses Volk am besten begabt, vielleicht besser als alle Europäer. Der große Bahnbrecher William James war bekanntlich Amerikaner, Morton Prince ist es, und heute scheint Jung jenseits des Ozeans am besten verstanden zu werden. Auf die Schriften von Beatrice M. Hinkle wies ich schon öfters hin. Jetzt hat eine Amerikanerin, Frances G. Wickes, ein sehr beachtenswertes Buch über die innere Welt des Kindes (The inner World of childhood, New York S, London, 1927, D. Appleton & Co.) geschrieben. Es ist populär gehalten. Aber da die Deutschen für die Seele des Kindes ein so miserabel schlechtes Verständnis beweisen — der überwiegenden Mehrzahl ist das Kind nicht mehr als die rohe Skizze eines Erwachsenen, der allein Wert hätte — so möchte ich eine deutsche Ausgabe dieses Buches sehr empfehlen. Es kann vielen Vätern und Müttern zum erstenmal die Augen öffnen.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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