Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
15. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1928
Die Frauen als regierende Kaste
Ich lege unserem Mitgliederkreis hiermit einen Aufsatz, den ich in englischer Sprache für das New Yorker Forum
schrieb, in deutscher Wiedergabe vor, da sein Thema und seine Fragestellung eine besonders scharfe gegenseitige Abgrenzung von Seins- und Könnens-Kultur erlauben.
Zwei der wichtigsten Kennzeichen des Zeitalters der Demokratie sind, wie mir scheint, die folgenden: dass es an Unterschiede auf dem Gebiet des Könnens, nicht aber an Unterschiede auf dem des Seins geglaubt hat und glaubt. Die historischen Ursachen des letztgenannten Unglaubens liegen auf der Hand. Die traditionelle Lebensordnung, welche die siegende Demokratie zerstörte, bestand ganz und gar auf Grund der Voraussetzung, dass es ursprüngliche Seinsunterschiede zwischen den Menschen gibt, die kein Talent und kein Verdienst überbrücken könnten; diese Unterschiede sollten den einzig möglichen Rahmen einer sach- und sinngemäßen sozialen Struktur abgeben; sie sollten endlich ausschließlich durch natürliche Vererbung bedingt sein, es sei denn, dass das Gesetz der göttlichen Gnade das der Natur durchbrach, wie dies im Falle religiöser Berufung, ganz selten auch in dem exzeptioneller weltlicher Größe geschehen sollte. Hier wurzelt die Idee des Gottesgnadentums der Könige und Kaiser. In Wahrheit waren die Gründer aller Dynastien richtige Selfmademen. Doch der Glaube der Zeit verbot es, diese Tatsache anzuerkennen.
Der Grundgedanke der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung war in vielen Hinsichten offenbar verfehlt. Die Vererbung wirkt nicht so sicher und exakt, als jener annahm. Dass die göttliche Gnade sich allemal unausbleiblich im richtigen Augenblick manifestierte, ist zweifelhaft. Vor allen Dingen aber sieht eine Ordnung, die ausschließlich auf Seinsunterschieden beruht, von der rationalen Seite des Lebens ab — und die ist die einzige, über welche Einsicht und Wille Macht haben. Deshalb kann eine Gesellschaft wie die mittelalterliche ihrem Wesen nach nicht fortschrittlich sein. Sie kann keineTüchtigkeitin irgendeinem Sinn als herrschendes Prinzip züchten, sintemalen kein Einzelner sich, auf Grund ihrer Voraussetzung, außerhalb seiner angeborenen Lebensstellung oder über diese hinaus entwickeln kann. Im Falle jedes Einzelnen, dessen angeborene soziale Stellung seinem persönlichen Zustand nicht entspricht, wird sie der Wirklichkeit des Lebens nicht gerecht. Und sie erscheint ungerecht schlechthin, wo immer die als höhere geltenden Kasten nicht tatsächlich ein höheres Niveau verkörpern. Das demokratische Ideal konnte und musste die Welt des Westens erobern, einfach weil die mittelalterliche Hierarchie zu der Zeit, da der Konflikt zwischen der alten und der neuen Ordnung akut ward, die Wahrheit der Wirklichkeit nicht mehr vertrat.
Doch war der Ausdruck des mittelalterlichen Grundgedankens zu der Zeit, als die mittelalterliche Ordnung zusammenbrach, tatsächlich todesreif, und war der Grundgedanke selbst in manchen Hinsichten verfehlt, so war er doch nicht ganz falsch. Lägen die Dinge anders, es würden nicht alle großen Kulturen der Vergangenheit im Rahmen aristokratischer Ordnung geblüht haben. Es gibt tatsächlich eine mögliche Überlegenheit des reinen Seins, unabhängig von allem nachweisbaren Können. Der Seinszustand eines Menschen hängt von der Lage des lebendigen Mittelpunktes ab, der von innen her alle Äußerungen des Lebens bestimmt — und je nachdem, wo dieser liegt, ist ein Mensch ursprünglich über- oder unterlegen. Es ist möglich, einen inneren Standpunkt oberhalb seiner Leidenschaften, seiner Gedanken, seiner Gewohnheiten, seiner Gefühle und Betätigungen einzunehmen und innezuhalten, und zwar nicht nur im Sinne detachierter Ironie, sondern dem aktueller Beherrschung — und von wem dies gilt, der ist jedem, der hier versagt, seinsmäßig überlegen. Es ist möglich, einen inneren Standpunkt oberhalb aller nur möglichen äußeren Norm und Ordnung einzunehmen und innezuhalten, weil das Wahrheits- und Wirklichkeitsgemäße dieser von innen her automatisch ohne bewusstes Gedenken befolgt werden kann, so wie Beethoven und Bach die Gesetze von Harmonie und Kontrapunkt befolgen — und wer also autonom ist, steht als organische Wirklichkeit über jedem Heteronomen. So hat denn auch alles Führertum, das sich für die Dauer bewährte, seinen Seinsgrund im Dasein solch tieferen Seinsmittelpunktes gehabt. Sein wirkt genau so auf Sein, wie jede Kraft auf der gleichen Ebene angehörige andere Kräfte wirkt. Zwischen den Seelen bestehen keine hermetisch abschließenden Scheidewände: wer immer seine eigene Natur beherrscht, beherrscht unwillkürlich die aller anderen, deren Seinsmittelpunkt auf niederer Ebene liegt. Und was vom Führer gilt, gilt ebenso vom Kulturmenschen im Gegensatz zum chaotischen. Vermag er es, die verschiedenen und vielfältigen Strebungen seiner Natur zu koordinieren und zu harmonisieren, was wiederum von der Lage des inneren Seinszentrums abhängt, so steht er ursprünglich und absolut über jedem, der von irgendeinem Sonderausdruck seines Geists oder seiner Seele beherrscht wird, anstatt sie zu beherrschen.
So liegt denn Wahrheit sowohl dem aristokratischen wie dem demokratischen Gedanken zugrunde, welch letzterer nur Unterschiede im Können, nicht jedoch im Sein anerkennt. Dementsprechend endete der Kampf zwischen beiden in Europa überall mit einem Kompromiss. Persönliche Tüchtigkeit erlangte die Möglichkeit, sich auf allen Gebieten zu bewähren. Andererseits wurde auch den Seinsunterschieden auf diese oder jene Weise Rechnung getragen. Doch in einem Lande wurde die unbezweifelbare Wahrheit, dass es Unterschiede im Seinsniveau gibt, vollkommen verkannt und abgewiesen: dieses eine Land ist Amerika. Dort und dort allein ward die ganze soziale Ordnung auf der Voraussetzung aufgebaut, dass die Menschen unter allen Umständen als gleich geboren sind und dass alle Qualitätsunterschiede vom Begriff des Könnens her vollkommen zu verstehen und zu würdigen seien.
Die Weltanschauung Amerikas ist ebenso einseitig und insofern falsch, wie die des Mittelalters. Und die Tatsachen des Lebens beweisen dies von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr. Ja mehr noch: vom Hintergrund der extremen Einseitigkeit der amerikanischen Auffassung hebt sich die Wahrheit des mittelalterlichen Gedankens eindrucksvoller ab als vielleicht je zuvor.
Zunächst hat der Glaube, dass alle Menschen ursprünglich und wesentlich gleich seien, nicht, wie erwartet wurde, zu reicherer individueller Differentiation geführt. Er hat nicht denTypuszum besten derEinzigkeitzerstört, sondern nur zur absoluten Vorherrschaft eines einzigen bestimmten Typs geführt: eines Typs, der mehr oder weniger dem europäischen Mittelstand entspricht. Man begegnet in der Neuen Welt unvergleichlich viel weniger individuellen Verschiedenheiten als in der Alten; und trifft man da selten Menschen an, die unseren niedersten Typen entsprechen, so fehlen unsere höheren desto mehr. Es besteht nun kein Zweifel, dass der Mittelstand einen ganz bestimmten genau umgrenzten Seinstypus repräsentiert. — Zum zweiten: ist einer in den Vereinigten Staatenzufälligeine überlegene Persönlichkeit, so steht seine reale Macht in gar keinem Verhältnis zu seiner offiziellen Stellung, sofern er nur schlau genug ist, sich den demokratischen Vorurteilen scheinbar anzupassen. Seine Macht ist desto mehr außer allem Verhältnis groß, als alle Traditionen fehlen, welche die Tätigkeit des überlegenen Menschen dem allgemeinen Leben harmonisch einzugliedern erlaubten. Diese einzigartige Machtstellung hat wiederum das Seinsniveau und nicht etwa besonderes Können zum Grund. — Und nun gelange ich zum dritten und interessantesten Punkt. Das demokratische Vorurteil übersah in seinem Bild vom Leben die Frau. So fand das instinktive Wissen um die Wahrheit, dass es eben doch Seinsunterschiede gibt, in ihrem Falle eine Äußerungsmöglichkeit. Sollen in Amerika alle Männer gleich sein und konvergieren sie tatsächlich immer mehr einem einzigen Typus zu, so erkennt jeder Amerikaner instinktiv an — wenn nicht in seinen Worten und Gedanken, dann desto mehr in seiner Haltung und seinen Handlungen — dass die Frau einen höheren Seinstyp verkörpert als er.
Und tatsächlich stellen die Frauen im heutigen Amerika eine höhere Kaste dar. Dass sie es so weit bringen konnten, hängt gewiss nicht ausschließlich davon ab, dass der amerikanische Mann sein instinktives Wissen um Seinsunterschiede durch das Ventil allein abzureagieren vermochte, dass die Frau außerhalb des demokratischen Lebensbildes verblieben war — aber sicher liegt hier die psychologische Hauptursache der amerikanischen Frauen-Vorherrschaft. Wäre es anders, so hätte sich die amerikanische Frau nicht schon mehrere Generationen entlang verhältnismäßiger Muße erfreut. Lägen die Dinge anders, die Frau hätte keine Möglichkeit gehabt, eine Kulturtradition zu schaffen. Sonst wäre das Selbstbewusstsein der Frau von dem des Mannes nicht so grundverschieden. Es war die Ehrfurcht des Mannes vor der Frau, die dieses Selbstbewusstsein herangezüchtet hat, genau wie es in aristokratischen Gemeinwesen die Ehrfurcht der niederen vor den höheren Ständen war, welche in den Kindern dieser immer erneut Überlegenheitsgefühl ins Leben rief. Die amerikanische Frau fühlt sich unzweifelhaft in diesem, gerade diesem Sinne überlegen. Und sie ist es. Hierauf beruht denn jene psychologische Vorherrschaft der Frau, in welcher der Schlüssel zu beinahe allen Grundproblemen Amerikas liegt.
So hat sich die Wahrheit, dass es trotz aller Theorien Seins- und nicht nur Könnensunterschiede gibt, auch in Amerika bewährt. Und sie hat es auf gar unterhaltsame Art getan. Alle Männer gelten untereinander für gleich. Doch die Frauen werden naiv als höhere Wesen verehrt. Das heutige Amerika ist ein aristokratisches Gemeinwesen besonderer Art. Es ist ein Land zweier Kasten: die höhere bildet die Frauenwelt als solche, die niedere die Männerwelt. Und die höhere Kaste herrscht auch hier auf dieselbe Art, wie höhere Kasten immer geherrscht haben. Sie braucht ihre Überlegenheit nicht zu beweisen: das höhere Sein wirkt sich als solches aus. Und dies tut es gerade wegen der amerikanischen Religion der Arbeit. Die elementaren Wahrheiten des Lebens bewähren sich eben überall trotz aller Theorie. Eine dieser Wahrheiten besagt, dass der Arbeiter dem Herren immer unterlegen ist — dem Herren als dem Typ, der auf Grund seines höheren Seins Arbeit veranlassen kann. So leistet zwar auch in Amerika das allermeiste der Mann. Aber Geist und Sinn stammen beinahe ausnahmslos von der Frau. Ihr Einfluss steht hinter allen amerikanischen Erziehern; er steht hinter allen amerikanischen Alkoholgegnern. Er ist die Ursache der ungeheuerlichen Menge von Gesetzen und Regeln jenseits des Ozeans. Die Frau schafft und trägt die ganze Kulturtradition. Sie diktiert auch die Moralität, die gerade gelten soll. Wer den wahren Sinn und die Tragweite der Idee der Kaste studieren will, muss heute nicht nach Indien, sondern den Vereinigten Staaten gehen.