Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
15. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1928
Bücherschau · Nachruf: Chamberlain, Wolkoff, Dahlke, Scheler
Kurz nacheinander sind mehrere der bedeutendsten Geister unserer Zeit heimgegangen. Zuerst starb Houston Stewart Chamberlain. Dies ist zwar schon längere Zeit her. Doch da ich im letzten Hefte dieser Mitteilungen nicht dazu kam, ihm den beabsichtigten Nachruf zu widmen, so setze ich jetzt das her, was ich zu seinem 70. Geburtstag schrieb. Diesen Bemerkungen habe ich nichts hinzuzufügen, außer dass das Heimgehen dieses Mannes, dem ich mehr verdanke, als irgend einem anderen, mich in tiefe Trauer versetzt hat.
Erschüttert denke ich an die Zeiten zurück, wo der Ruhm seiner Grundlagen des 19. Jahrhunderts seinen Zenit erreicht hatte und Chamberlain selbst ein Mann von strahlender Kraft und mächtigem Temperament war. Ihm ist nie wirklich Gerechtigkeit widerfahren. Wie es jedem ergeht, dessen Anlage irgend einem zeitlichen Bedürfnis entgegenkommt, war er zeitweilig zu modern, um in seiner Tiefe erfasst zu werden, und ist er später entsprechend vergessen worden. Aber Chamberlain ist viel mehr, als die Welt von ihm weiß. Trotz seines großen Schriftstellertalents hat er sein Wesentliches eigentlich nie ganz ausdrücken können. Er war eine ganz große Persönlichkeit von beinahe Goethescher Weite. Ein Geist, umfassend wie nur ganz Wenige in Europa, zumal er kein Gelehrter, sondern eigentlich ein Mann der Tat war. Als Mann der Tat hat er ja schließlich auch gewirkt. Seine Grundlagen des 19. Jahrhunderts haben mitbestimmt am Schicksal des deutschen Volkes.
Und was er über Kant, Goethe und andere Geistesgrößen angeblichpopulärgeschrieben hat, war in Wahrheit darauf angelegt, deren Tiefstes für das ganze Volk fruchtbar zu machen. So veranlagte Geister sind notwendig zeitlich insofern, als sie in ihrer Wirkung verglühen. Aber dies ändert nichts an ihrer wesentlichen Größe, wo diese vorliegt. Und Chamberlain gehört nun einmal zu den Menschen größten Formats, die mir begegnet sind. Dies zu sagen, liegt mir besonders am Herzen, weil ich sachlich schon seit 1905 von ihm abgerückt bin und mit den letzten Phasen seines Denkens, zumal seines politischen Denkens, in keiner Weise sympathisieren konnte. Chamberlains Größe beruht auf seiner Anregungskraft. Diese Anregungskraft ist in Deutschland Hunderttausenden zugute gekommen, und wenn die Großen der Geistesgeschichte dem deutschen Volke heute mehr bedeuten, als vor 30 Jahren, so ist dies vor allem Chamberlain zu danken. Aber am anregendsten und förderndsten war er freilich als persönlicher Freund, und ich beklage es, dass ihn nur so Wenige in seiner besten Zeit gekannt haben. Sicher hätte er vielen eben das oder ebensoviel bedeuten können, wie seinerzeit mir. Als ich 1901 nach Wien kam, als junger Geologe, meiner eigentlichen Sendung völlig unbewusst, da war es die Freundschaft Chamberlains, die mir zu mir selbst den Weg wies. Unermüdlich war er in seinem Bestreben, das Schlummernde in mit zu wecken, das Wachsende zu fördern. In meinen Pariser Jahren von 1903-1905 schrieb er mir einmal die Woche einen langen pädagogischen Brief. Er war recht eigentlich ein Lehrer im Sinne von Goethes Wanderjahren. Und was das Wesentliche ist: die Schroffheiten und Einseitigkeiten, die seine Schriften so vielfach kennzeichnen, traten beim Menschen und Freund so gut wie gar nicht hervor. Da spürte man nur Verständnis, Größe und Wärme. Möchten Chamberlains Schriften von denen, welche sie angehen, weiter gelesen werden. Sein Kant-Buch (F. Bruckmann Verlag) zumal ist noch immer bei weitem die beste Einführung für Laien in den Geist der Philosophie. Vielleicht interessiert es die Leser, dass dieses Werk ursprünglich mir, dem damals 25jährigen, gewidmet war.
Der zweite Heimgegangene, dessen ich zu gedenken habe, ist Alexander Wolkoff. Was seine überpersönliche Bedeutung betrifft, so kann ich nur auf die Würdigung hinweisen, die ich ihm im 5. Heft, S. 76 ff., dieser Mitteilungen zuteil werden ließ. Mir bedeutete er während des letzten Jahrzehntes so viel, wie kein zweiter Mann. Er war der Einzige unter geistig Schaffenden, dem ich mich als Seinstypus verwandt fühlte. Und nach dem Zusammenbruch des alten Russlands, welcher uns beide von unserer Vergangenheit abschnitt, war es mir eine Wohltat, gerade mit ihm von Zeit zu Zeit in dem ihm erhalten gebliebenen Venezianer Palaste Zwiesprache zu pflegen. Bald sollen seine Lebenserinnerungen auf englisch erscheinen. Auf sie sei schon heute die Aufmerksamkeit gelenkt: fast alle künstlerischen Größen Russlands und Europas, zumal Wagner, Liszt, Tolstoi, Rubinstein, Whistler, Robert Browning, Eleonora Duse hat Wolkoff nahe gekannt, und in seinen Erinnerungen gibt er von vielen unter ihnen eine so tief dringende Charakteristik, wie sie nur ein Mensch seines Kalibers geben konnte.
Dann ist Paul Dahlke gestorben. Er war unstreitig ein großer Mensch, ganz abgesehen von seiner Bedeutung als Buddhist. Alles eher als sympathisch: bis zur scheinbaren Gefühlsleere nüchtern, verstandesklar und doch ein fanatisch Gläubiger zugleich. Trotzdem hatte er das Charisma eines Heilers. Er war bekanntlich homöopathischer Arzt. Der Zulauf, den er genoß, war dermaßen groß, dass er dank seinen ärztlichen Einnahmen allein das Buddhistische Haus in Frohnau bauen, dessen Unterhalt bestreiten und seine Schriften herausgeben konnte. Wie ich einmal Dr. Heinrich Meng gegenüber mein Erstaunen darob äußerte, dass solch ein Mensch ein Heiler sein könne, sagte mir dieser: man kann Dahlke eigentlich nur verstehen, wenn man — Lenin kannte. Auch dieser war bis zur Dürftigkeit nüchtern und kalt. Auch er war ein Fanatiker. Und trotzdem… Dahlke war jedenfalls durchaus echt. Wenn seine Heilfähigkeit dann erst (wie er mir erzählte) als wirkliche Kraft einsetzte, als er sich zum Buddhismus bekehrt hatte, so bedeutet das eben dies: die persönlich richtige Gleichung zwischen Glauben, Denken und Sein war erreicht. Kurz vor seinem Tode hat er denn noch eine Synthese seines Buddhisten- und seines Arzttums herausgestellt: im Buche Heilkunde und Weltanschauung, das der Stuttgarter Hippokrates-Verlag veröffentlicht hat. Ich las es mit unmittelbarer Ergriffenheit und bin überzeugt, dass es jedem ernsten Menschen ebenso ergehen muss. Eine Geschlossenheit tritt einem da entgegen, vom Gehalte bis zum Stil, wie ich ihr nur ganz selten begegnet bin. Und ein ganz tiefes Wissen um den Weg des Lebens, das man anerkennen muss, auch wenn man Dahlkes buddhistische Voraussetzungen nicht teilt. Ist überdies die, dass alles Leben letzthin auf Ernährung herauskommt, nicht unter allen Umständen eine ausgezeichnete ärztliche Arbeitshypothese? Wie ließe sich Medikation besser begründen? — Ich wundere mich übrigens, dass Dahlkes nächster ärztlicher Freund, Heinrich Meng, dessen Nachruf an Dahlke alle die, welche dessen ärztliche Leistung besonders interessiert, in der Juli-Nummer 1928 der Deutschen Zeitschrift für Homöopathie
nachlesen sollten, nicht den Mut auf gebracht hat — anders kann ich es nicht nennen — Paul Dahlke als großen Mann hinzustellen. Dergleichen zu tun, wo Anlass vorliegt, erscheint mir Pflicht, denn die Allermeisten bemerken von sich aus keine Niveauunterschiede.
Paul Dahlkes Bedeutung als Denker und Buddhist habe ich im 10. Heft dieser Mitteilungen ausführlich gewürdigt. Es ist nicht anzunehmen, dass seine Lehre weitere Kreise erobern wird. Echter Buddhismus ist nichts für Europäer. Doch da Dahlkes Buddhismus den weitaus echtesten darstellt, von dem ich seit langem wüßte, so hoffe ich, dass seine Jüngerschaft recht bald seine sämtlichen Werke herausgeben möchte. Was ein Geist ist, tritt in allen seinen Äußerungen hervor; und zwar am meisten, wo das, wofür er in den Augen anderer steht, ihm nicht bewusstes Ziel ist. So erhellt das, was Buddhismus eigentlich ist, vielleicht am klarsten aus Paul Dahlkes Betrachtungen über zeitliche und moderne Erscheinungen.
Endlich ist Max Scheler gestorben. Ob die deutschen Universitätskreise sich in absehbarer Zeit dazu bequemen werden, ihn als den anzuerkennen, der er wirklich war? Ich denke nicht an die üblichen Post-mortem-Feierungen. Die bedeuten selten anderes als eine Überkompensation durch den Tod erledigten Neids. Ich frage mich, ob Universitätskreise bald einsehen werden, dass Scheler ein Geist war nahezu Schelling’schen Formats. Er war gewiss nicht gleich tief im Metaphysischen verwurzelt wie dieser; er war vor allem ein außerordentlicher Intellekt. Aber sein Geist war doch unverhältnismäßig reicher als der irgend eines lebenden Universitätslehrers; und dass gerade er heimgegangen ist, bedeutet für Deutschland einen unersetzlichen Verlust. Zumal er seine Vollendung noch lange nicht erreicht hatte. Schelers bisher vollendetste Schöpfung — das sage ich mit Stolz — war sein Vortrag Die Sonderstellung des Menschen
auf unserer Tagung Mensch und Erde
(die der Verlag Reichl jetzt als Sonderbüchlein herausbringt); wenn keine andere, so wird diese Schrift von ihm fortleben. Nun ist es die Aufgabe seiner tapferen Frau, die schon die letzten Jahre entlang alle eigentlich redaktionelle Arbeit von sich aus leistete, den ungeheuren Nachlass in Form zu bringen. Soweit dies irgend jemand befriedigend vermag, wird Marie Scheler es können.
Noch ein Wort über den Menschen Scheler. (Seine Persönlichkeit und seinen Typus habe ich bereits im 10. Heft dieser Mitteilungen, S. 46 ff., behandelt.) Scheler war wie wenige liebenswert, denn er war eine durch und durch generöse Natur. Woraus erklärt sich die unverhältnismäßige Weite der Kreise, die er bereits befruchtet hat? Gewiss nicht aus seiner sachlichen
Leistung. Dazu schrieb Scheler zu schwer, an zu unzugänglichen Stellen und auch nicht gut genug. Sie erklärt sich aus dem, was ich Schelers Sanyassi-Zeit heißen möchte.
Während mehrerer Jahre zog er, wie ein richtiger indischer Wanderer, von Stadt zu Stadt, bei Freunden zu Gast weilend. Derweil schenkte er von seinem Geiste jedem, der ihm lauschen wollte. Heute hat das gedruckte Wort den Höhepunkt möglicher Tiefenwirkung überschritten. Wenn alles sofort überall auf Erden zu lesen ist, passt niemand mehr auf das Mitgeteilte auf. Deshalb sind heute Vorträge tausendmal wichtiger als Bücher, bedeutet persönliche Wirksamkeit in relativ beschränktem Kreis für die wahre Wirkung mehr als die größte Publizität. Zu dieser allgemeinen Wahrheit nun liefert Max Scheler eine besonders lehrreiche Illustration. Seine große Wirkung bei Lebzeiten geht ohne jede Frage auf sein persönliches Schenken im mündlichen Verkehr zurück. Und hiermit kehre ich zu seinem Liebenswerten zurück. Er war ein Mensch eines selten reich ausgeschlagenen Herzens. Er war, obgleich im Letzten ein tief unglücklicher Mensch, ein Mensch seltener möglicher Lebensfreude. So hatte er menschlichen Kontakt mit all den Vielen, die ihn umgaben oder zu denen es ihn trieb. Und dieser Kontakt war das eigentliche Vehikel seiner Wirkung.