Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Von der Überschatzung der Mütter · Scholastiker unserer Tage

Neulich las ich bei einem orthodox-jüdischen Schriftsteller eine Bemerkung, die mich nachdenklich stimmte: niemand könne ein stammfremdes Genie verstehen; also könne auch niemand ein stammfremdes Genie beurteilen. Wäre dem letztlich so, dann gäbe es keine Menschheits-Bedeutsamkeit; insofern ist die zitierte Behauptung unzweifelhaft falsch. Doch sie enthält auch Wahres: was Goethe den meisten Deutschen bedeutet, bedeutet er ihnen allein. Also liegt hier ein Problem verborgen.

Die wahre Sachlage ward mir klar, als ich mich zweier Tatsachen auf einmal erinnerte und sie daraufhin zusammenschaute: erstens, dass mir von Kindheit an kein Wort so einleuchtete, wie das von Jesus an Maria gerichtete Weib, was habe ich mit dir zu schaffen; und zweitens, dass außerordentlich viele Deutsche unserer Zeit nur die Schriftsteller tief finden, welche von dem künden, was sie nach Goethes Vorgang die Mütter heißen — welche Schriftsteller mir wiederum, falls sie nicht auch andere Qualitäten haben, wenig sagen. Es gibt in der Tat zwei Arten Tiefe: Tiefe im Sinn des Geists, und Tiefe im Sinn der Erde.

Am Streit der Scholastiker unserer Tage, wie sich nun Geist und Seele oder Leben genau zueinander verhalten, beteilige ich mich natürlich nicht. Der ganze Sinn dieser Begriffe liegt darin, dass sie Sinn-Bilder eines Wirklichen sind; dieses Wirkliche ist seinerseits nicht mehr zu explizieren, weshalb Definitionen, die den Schein abschließender Klarheit erwecken, nur irreführen. Wer das eine oder andere Prinzip durch Logik oder Spekulation erledigen will, macht sich einfach lächerlich: der Mensch ist nun einmal sowohl das, wofür das Wort Geist steht, als auch das andere, worauf sich die Begriffe Leben und Seele beziehen. Jeder ist gewiss berechtigt, für sich eine seinem eigenen Zustand gemäße praktische Entscheidung zu treffen; so habe ich ein Recht, mich persönlich allein der Geist-Seite der Lebensganzheit zu widmen, weil sie in mir prädominiert und mich das Erdhafte wenig interessiert; ja, ich habe die geistige Pflicht zu dieser Einseitigkeit, denn nur indem ich mich bewusst zu ihr bekenne, erscheint sie im Kosmos richtig eingestellt. Eine sachliche Entscheidung hingegen gegen das eine oder andere Prinzip zu treffen, ist unter allen Umständen sinnwidrig. Sie bedeutet nie mehr wie herausgestellte persönliche Unzulänglichkeit, ja sie bedeutet metaphysische Unbescheidenheit und insofern eine echte Sünde, denn wer sie begeht, bescheidet sich nicht bei dem, was er wirklich ist, nämlich ein unter allen Umständen einseitiges Wesen. Die, welche den Geist befehden, beweisen damit allein, dass sie vom echten, nämlich dem konkreten Geist nichts wissen. Und die grundsätzlichen Feinde der Lebensphilosophie wiederum sind selten Besseres als Vertreter des abgeschnürten Intellekts. Hier wie überall entscheidet die Wirklichkeit allein, die sich an der Wirkung erweist.

Ist Geist nun Wirklichkeit, d. h. Wirklichkeit in einem tieferen Sinn, als der mit Recht als letztlich unzulänglich erkannte Intellekt? Die Geschichte der Inder, denen das Welt-Wesen geistig war und die zu ihm doch eine durchaus erlebnismäßige Beziehung suchten und fanden; die der Hellenen, bevor sie zu Intellektualisten verdarben, und vor allem die der Christenheit beweist es — vom Erleben jedes individuellen großen Geists zu schweigen. Was Jesus unter Geist verstand, das der Fleischwerdung fähige Wort, hat ohne jeden Zweifel die Welt bewegt. Welche eine Erwägung unter anderem auch die Theorie, dass der Geist wesentlich (nicht nur vom Standpunkt des materiellen Machtbegriffes) machtlos sei, erledigt. — Aber ebenso gewiss wirklich sind Seele und Leben im Verstande derer, welche vorzüglich sie als innere Wirklichkeit erleben und sie deshalb für wesenhafter halten als den Geist. Ja ebenso gewiss gibt es sogar eine tiefe Wirklichkeit des Leibes oder des Bluts, wie sie heute allein Unamuno überzeugend vertritt, die aber der antike Mensch — von früheren zu schweigen — typischerweise tief erlebte. Und hier sei gleich ein Wichtiges hinzubemerkt: dass Leib und Seele eine wesentliche oder ursprüngliche Einheit darstellen, können nur tatsachen- und sinnfremde Theoretiker behaupten: sie können eins werden, wie denn Vereinheitlichung und Vereinzigung auf allen Ebenen das Ziel des inneren Fortschritts darstellt, weil das eigentliche Wesen des Menschen ein schlechthin Einziges ist. Von Hause aus sind Physis und Psyche nicht dasselbe, und sie korrespondieren nicht einmal genau. Die moderne Psychologie führt vielmehr zu einer Bestätigung der altindischen und altchristlichen Vorstellungen, wonach der Mensch eine vom Körper reinlich zu scheidende Psyche hat. Und wenn die moderne Lehre vom Ausdruck andererseits wiederum zu einem Neu-Verstehen der Symbolik der sichtbaren Gestalt führt, so tut sie’s nur eben bezüglich des Ausdrucks, d. h. der Verkörperung eines an sich nicht Körperlichen. Das letzte fassbare Wort liegt hier, wie überall im Leben, im Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck beschlossen. Und dies besagt in diesem Zusammenhang, dass Leib sowohl als Seele Ausdrucksmittel eines in bezug auf beide Jenseitigen darstellen, die entsprechend benutzt werden können, oder auch nicht.

Nun, Chamberlain pflegte zu sagen, das einzige unbedingte Menschenrecht sei das Recht auf die eigene Dummheit; so hat jeder gewiss ein Recht auf seine organisch unüberwindlichen Vorurteile. Und da solche immer schnell durchschaut werden, so bedeuten die schiefen Verallgemeinerungen derer, die nur Geist oder nur Seele oder nur Materie gelten lassen, letzten Endes weniger Verhüllungen als Verdeutlichungen des wahren Tatbestands. Immerhin ist es schade, wenn von Hause aus Wirklichkeitsbewusste Geister — so partiell die betreffende Wirklichkeit auch sei — sich in scholastischen Streitigkeiten erschöpfen. Dies liegt am Byzantinismus, in dem der traditionelle deutsche Idealismus unaufhaltsam erstarrt — ein Schicksal, dem jede geistige Lebensform, die ihre inneren Möglichkeiten erschöpfte, nach unwandelbarem Naturgesetz unabwendbar verfällt. Dass Theorien, wonach der Grund der Welt ein transzendentes Sollen sei, oder nach der es keinen Gott geben könne, weil dies der Würde des freien Menschen widerspräche (wenn es nun aber doch einen Gott gibt?!), aus gleicher Gesinnung hervorgehen, wie die Streitigkeiten zwischen Homousiern und Homocusiern, ist klar. Aber nicht anders steht es mit den modernen Geistfeinden und den Verherrlichern des Irrationalen. Sie konstruieren nur aus gleicher Gesinnung von einer andern Seite her. Hier liegt wohl die versöhnende Rettung in der transzendent-feindlichen Tatsachenschau von C. G. Jung: insofern er nie mehr behauptet, als er von seinem (gleichfalls einseitigen) Standpunkt wirklich übersehen und beurteilen kann, erfüllt er eine ähnliche Aufgabe, wie seinerzeit Kant. Geist, Seele, Gott als bloß psychologische Funktionen zu verstehen, beweist gewiss nicht letztgültige Einsicht: immerhin sind sie in erster Linie psychologische Wirklichkeiten; und diese eine Feststellung erledigt auf alle Fälle alle schiefe Erkenntnistheorie. Von unserer heutigen Bewusstseinslage aus kommt C. G. Jung eine ähnliche Bedeutung zu, wie seinerzeit Kant, welcher auch kein Metaphysiker war, aber eben deshalb die Grenzen möglicher Natur und möglicher Metaphysik so klar überschaute.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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