Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Bücherschau · José Ortega y Gasset · Die Aufgabe unserer Zeit

Schon im zwölften Heft dieser Mitteilungen gab ich, im Anschluss an meine Spanienfahrt, eine Charakteristik José Ortega y Gassets. Seither sind einige seiner Essays in einem Die Aufgabe unserer Zeit betitelten Sammelband im Verlag der Neuen Schweizer Rundschau in Zürich erschienen, und zwar in so glänzender deutscher Übersetzung (Helene Weyl ist dafür verantwortlich), dass ich nicht umhin konnte, diesen in einem Zuge durchzulesen. Dabei bemerkte ich denn, dass ich den einleitenden Essay, dessen Sondertitel das ganze Buch benennt, bisher nicht kannte. Um dieses allein willen nun möchte ich es jedem empfehlen, welcher mitschaffen will an der Aufgabe dieser Zeit. Denn noch nirgends fand ich klarer ausgesprochen, warum das heute Bedeutsame so ganz anderen Geistes ist, als das, was, aus der Vergangenheit herübergenommen, zumal in Deutschland noch immer für bedeutsam gilt. Ortega benutzt dazu den Begriff des Perspektivismus: jede neue Epoche lebe, kraft ihrer besonderen Lebensmodalität, aus einer besonderen Dimension heraus und sehe deshalb die Welt in besonderer Perspektive. Was nun aber unsere Zeit auszeichne, ist, dass sie sich dieser Relativität jeder nur möglichen Perspektive bewusst geworden ist; was jedoch keinen absoluten Relativismus bedinge, sondern nur einen Absolutismus von mehr Dimensionen, wie ihn die früheren Absolutismen hatten. Hier lägen die Dinge grundsätzlich ebenso wie in bezug auf Raum und Zeit gemäß der Relativitätstheorie.

Diese Fassung kann ich als richtigen Ansatz zum Verständnis auch dessen, was ich vertrete, anerkennen. Auch von mir gilt in erster Linie, dass meine Perspektive eine andere ist als die der Vertreter der Vergangenheit. Aber ich stehe absolut nicht einzig da: einem Ortega z. B. fühle ich mich nahe verwandt. Wie ich dessen Theorie der Perspektive las, hatte ich sogar ein intim-anheimelndes Gefühl: mit 23 Jahren, im Gefüge der Welt, versuchte auch ich eine Philosophie der Perspektive zu begründen; meine Methode hieß ich, spezifiziert, die projektive. Aber bei mir blieb es bei einer mehr als unvollkommenen Skizze. Diese Art der Analyse liegt mir viel weniger als Ortega y Gasset.

Ich wünsche dessen hier empfohlenem Buch recht viele Leser. Immer mehr erschreckt es mich, wie sehr das deutsche Denken Gefahr läuft, dem historisch Toten verhaftet zu bleiben. Was noch irgendwie mit dem deutschen Idealismus zusammenhängt, gemahnt immer bedenklicher an den späten Byzantinismus oder an die indische scholastische Philosophie. Denkbegabung als solche gewährleistet ja leider keinen Fortschritt: ihr natürliches Gefälle mündet in der Routine ein. Schöpferisch ist immer allein die Intuition. Dass das meiste echt Schöpferische dieser Zeit einseitig intuitiven Charakter trägt und deshalb auch berechtigten Forderungen des Denkens oft nicht genügt, bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger als dies: dass der Fortschritt heute notwendig durch das Unstetigkeitsmoment der Verjüngung hindurchführt.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
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