Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
1. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1920
Bücherschau · Cassirer, Wust, Gomperz, Husserl
Die Rubrik, die ich hiermit eröffne, soll nicht zur Aufgabe haben, über Neuerscheinungen im allgemeinen zu orientieren; sie soll eine Gemeinschaft schaffen, an der Hand lesenswerter Schriften, für eine bestimmte Art, des Lesens. Wer nach Vollendung oder Weisheit strebt, liest niemals, um ein Werk gelesen zu haben; noch weniger, um Stellung zu nehmen; noch viel weniger, um kritisch zu urteilen: er liest einzig zum Zwecke innerer Förderung. Deshalb wird er sich, sofern er fühlt, dass ein Buch ihn irgendwie weiterbringen kann, bis auf weiteres rein hingebend verhalten. So allein nämlich können dessen positive Einflüsse sich in ihm auswirken. Sogar ein schlechtes Buch nützt in der Regel mehr, wenn es in diesem Geist gelesen wird, als ein gutes, das man bloß äußerlich zur Kenntnis nimmt oder von vornherein als passives Objekt seziert. Denn die Meinungsverschiedenheit versteht sich, wo sie vorliegt, immer von selbst: niemand wird dadurch genützt, dass sie betont wird; dagegen kann vorzeitige Einstellung auf deren Beachtung Förderung vereiteln. Flaubert pflegte seinen Schülern als Grundmaxime den Satz zu lehren: ne pas conclure
. So verdanke ich meine schnellsten Fortschritte meiner Jugendgewohnheit, unter keinen Umständen Stellung zu nehmen, bevor ich nicht gewiss war, dass mein persönlicher Standpunkt der objektiv beste war — was bei einem Zwanziger nur ausnahmsweise galt. So bin ich nicht vorzeitig auskristallisiert, sondern fortgewachsen, durch immer neue fördernde Einflüsse gespeist, bis dass mein geistiger Organismus seine endgültige Gestalt gefunden hatte. — In diesem Geiste möchte ich auch die unter den Freunden meines Strebens, die es noch nicht verstehen, lesen lehren; aus ihm heraus mögen jedesmal meine Bemerkungen zu Büchern verstanden werden. Wenn ich einen Autor lobe, so wird dies nie bedeuten, dass ich seiner Ansicht sei — diese Frage wird meinerseits selten je gestellt, denn Ansichten haben scheint mir immer überflüssig, und echte, endgültige Erkenntnis wird nur selten erreicht — sondern dass ich es für lohnend erachte, ihn eine Wegstrecke entlang im Geiste zu begleiten.
Viele meinen, man solle nur die ganz großen Autoren lesen, so unter Philosophen Plato, Kant, Schopenhauer, Hegel; die modernen zu kennen, sei nicht notwendig, weil diese doch weitaus kleinere Geister wären. In der Kunst ist vielleicht wirklich nur die größte kennenswert; bei allen Schriften, die Erkenntnis vermitteln oder vermitteln sollen, liegt die Sache anders — hier ist Grundbedingung, dass das Problem und seine etwaige Lösung verstanden würden, Verständnis setzt das Vorhandensein entsprechender Organe voraus, in Gestalt eines Gefüges von Verstandenem, dieses aber ist notwendig ein anderes zu jeder Zeit. Das Kantische Problem, soweit es ewig ist, können wir von Kants Position aus nicht mehr ganz deutlich sehen; zuviel ist seither gedacht worden, das, ohne dass er es weiß, dem geistigen Organismus jedes innewohnt. Wir müssen von moderner Basis ausgehen, um zum Alten ein lebendiges Verhältnis zu gewinnen. Hieraus folgt, dass es seinen guten Grund hat, wenn jedes Jahrzehnt neue Bücher über alte Themen zeitigt. Ob es dem alten an sich besser gerecht werde oder nicht — es macht dieses jedenfalls der neuen Generation zugänglicher, als frühere Werke vermöchten. Deshalb ist es für den, der nach persönlicher Erkenntnis strebt, nicht allein nützlich, sondern geboten, die zeitgenössische Literatur zu verfolgen. Und es kann ihm da geschehen, dass er auf Darstellungen stößt, die ihm an Klarheit unüberbietbar scheinen. Unüberbietbar nämlich in dem Sinn, dass die Probleme den Verständnismitteln seiner Zeit vollkommen entsprechend gefasst und auseinandergesetzt erscheinen. Dies gilt heute, in bezug auf die kritisch-philosophische Literatur, von Ernst Cassirer. Daher möchte ich dessen Schriften (Das Erkenntnisproblem, 3 Bände; Substanzbegriff und Funktionsbegriff; Freiheit und Form; Idee und Gestalt, alle bei Bruno Cassirer, Berlin W 35, verlegt) allen denen besonders empfehlen, die in die philosophische Problematik eingeführt werden wollen. Wieweit Cassirer neue und entscheidende Problemlösungen bringt, will ich hier nicht untersuchen. Aber ganz wunderbar feinsinnig hat er sich in das Leben der Begriffswelt eingefühlt, und wer speziell zu Leibniz und Schelling einen Führer wünscht, könnte schwer einen besseren finden. Gleiches gilt in bezug auf die so schwierigen Probleme der höheren Logik und Mathematik. — Wer eine im oben skizzierten Sinne zeitgemäße Einführung in die Metaphysik zu lesen wünscht, dem empfehle ich sehr warm Peter Wusts Büchlein Die Auferstehung der Metaphysik
(Leipzig 1920, Felix Meiner), das eine ausgezeichnete Psychologie des metaphysischen Strebens in seiner geschichtlichen Entfaltung gibt. Der Sachkenner mag manche Wertakzente verlegt, manche Zusammenstellungen gewaltsam finden: wer weniger urteilen als lernen will, dem wird Wusts Gedankenfolge beim Verständnis der Notwendigkeiten der Weltanschauungsfolge von großer Hilfe sein. Mir — wenigstens ist es so ergangen. — Zur Frage der Weltanschauungslehre selbst — denn auch sie lässt sich natürlich systematisieren — habe ich jüngst ein älteres Werk mit Gewinn zum erstenmal gelesen: Heinrich Gomperz Weltanschauungslehre
(Jena 1905, Eugen Diederichs). Originell erscheint es nur in dem Teil, der das Problem der Sinneserfassung behandelt. Aber klärend, belehrend ist es durchaus. — Bei allen diesen Schriften handelt es sich um Einführendes oder leichtverständlich Belehrendes. Wer nun Philosophie im Sinn der Geistesaskese treiben will, als Übung in richtigem Selbstdenken, den kann ich auf keinen besseren verweisen als auf Edmund Husserl (vor allem dessen Logische Studien, 2 Bände). Er ist bei weitem der intensivste Denker Deutschlands. Wem es gelingt, ihn ganz zu verstehen und ihm mühelos nachzudenken, der hat schon viel erreicht. Hier nehme ich in keiner Weise zu Husserls Denkergebnissen Stellung: ich rede nur von der Qualität seines Denkens, und diese bezeichnet das eigentlich Fördernde an jedem philosophischen Lehrer.