Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit
16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929
Bücherschau · Bernard Shaw · Wegweiser für die intelligente Frau
Es zählen, in der Tat, die meisten, welche die Tradition des 19. Jahrhunderts direkt fortsetzen, überhaupt nicht mehr. So kann ich denn selten ohne befremdetes Lächeln die Kritiken Geistiger über solche lesen, die dem Heute oder Morgen wirklich angehören. In diesem Augenblicke habe ich Bernard Shaws Vermächtnis Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus (deutsch bei S. Fischer in Berlin erschienen) im Auge. Da schreiben Professoren und Literaten mehr oder weniger wohlwollend über die Leistung eines Dilettanten, die aber durchaus nicht nur als Scherz aufzufassen sei
. Du lieber Gott! Shaw ist gewiss kein allseitig begabter Geist. Aber gerade weil er einerseits nur die Tatsachen haarscharf sieht und sie andererseits nur aus der Distanz tiefer, sehr tiefer Ironie beurteilt und deutet, womit er im Rahmen seiner ursprünglichen Begabung bleibt, ist jeder Witz von ihm ein Ernsteres als alle salbungsvolle Kathederweisheit. Die Zeit der bedeutsamen gelehrten Wälzer ist um. Was ich darüber zu sagen habe, ist in der Neuentstehenden Welt geschehen, überdies, in Zuspitzung auf den Gelehrtentypus, im Deutschland-Kapitel meines Spektrum Europas. Fortan zählt nur mehr die Qualität der Subjektivität, die sich des gelehrt zerkäuten Stoffs jeweils bemächtigt. Insofern ist nun Shaws Sozialismus-Buch das eine wirklich hochbedeutsame Werk über Sozialpolitik, das der Westen dem Bolschewismus überhaupt entgegenzustellen hat. Hendrik de Mans Bücher, die ich an dieser Stelle schon empfahl, sind gut. Aber entsprechend der verschobenen Perspektive (s. Ortega) sind sie nicht mehr imstande, den Zeitgeist im großen zu beeinflussen. Shaw nun redet unbefangen als reifer, wissender Mensch in jenem intuitiven Stil, der allein den schöpferischen Kräften dieser Zeit entspricht. So wird sein Buch von Hundertausenden, ja Millionen gelesen werden und wirklich mitschaffen an der Veränderung der Welt. Ortega hat recht, wenn er (in etwas anderen Worten) sagt, dass kein ernst zu nehmender Geist heute in dem Sinne ernst ist, wie es das 19. Jahrhundert war. Gewiss gibt es nicht nur ironischen Stil, welcher gut wäre. Aber es bedeutet die natürliche und notwendige Reaktion auf das Todernste der Vergangenheit, da es gerade jetzt keine nichtironischen und zugleich bedeutsamen Geister geben kann.
Über den Inhalt von Shaws neuem Buch möchte ich nicht viel sagen: dieses sollte wirklich jeder lesen. Sein Hauptvorzug — der wieder auf Shaws tiefe Ironie zurückgeht — liegt vielleicht darin, dass er dem Nicht-Sozialisten eigentlich kaum nahelegt, zum Sozialismus überzutreten. Shaw ist freilich überzeugter Sozialist. Aber entsprechend der höheren Dimension, aus der heraus er lebt, relativiert er sich selbst unbewusst immer genügend, um seinen berechtigten Gegenstandpunkt mitzubestärken. Dies nun tut er, indem er mit letzter Klarheit herausstellt, was Sozialist sowohl als Nicht-Sozialist unbedingt vertreten müssen, wenn sie die Dinge sehen, wie sie wirklich sind, und einen positiven Ausgang der Zeitwirren wollen. Hier nun ist seine zentrale These die: Armut ist eine Krankheit wie die Pocken, die wir nicht länger dulden dürfen, denn sie entwertet den Menschen. Das ist die lautere, unbedingte Wahrheit. Wer die nicht anerkennt, aus Idealismus etwa, der ist im besten Fall ein Vogel Strauß. Hier ist die Alternative einfach: entweder die Nicht-Sozialisten danken freiwillig gegenüber den historischen Materialisten ab. Oder aber sie suchen auf ihre Art das gleiche Problem besser zu lösen. Ich für meine Person habe über die Gesinnung jener, die aus Idealismus gegen materiellen Fortschritt sind, gerade seitdem ich in Amerika war, endgültig den Stab gebrochen. Die psychische Atmosphäre Amerikas ist fast vollkommen frei von Neid, Ressentiment, Missgunst und Kleinlichkeit. Diese schönen Tugenden nehmen in Europa, zumal in Deutschland, direkt proportional dem bewusst bekannten Idealismus zu…
Shaws Buch enthält natürlich, ganz abgesehen von seinem Zentralargument, hunderterlei Belehrendes, Beherzigenswertes und Anregendes. Hierzu gehört besonders viel auch dessen, was nicht für seine sozialistische These spricht. In seiner großen Aufrichtigkeit und Ausdrucksfähigkeit stellt Bernard Shaw gerade auch die Grenzen des Sozialisten wunderbar klar heraus. Mich hat er endgültig davon überzeugt, dass das Heil der Welt nicht im Sieg des Sozialismus lieg. Aber gerade dieses Endergebnis verdanke ich Shaw. Und überdies sehr, sehr viele Erkenntnisse auf Gebieten, die ich aus eigenem Erleben nicht kenne.