Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

16. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1929

Bücherschau · Henri Bergson · Die psychische Energie

Wer von den Berühmtheiten dieser Tage gehört sonst noch der Gegenwart und Zukunft an? Es sind ihrer erschreckend wenige. Dass Spengler ein Gestriger ist, habe ich in Menschen als Sinnbilder gezeigt. Sehr viele andere bedeutende deutsche Geister haben sich, so oder anders, in Sackgassen festgefahren, sei es nur in dem Sinn, dass sie rein-deutsch sein wollen, wo nur-Deutschtum fortan bedeutungsloser Provinzialismus ist; eine Bedeutsamkeit geringeren als pan-europäischen Kalibers gibt es nicht mehr. Unter deutschen Schulphilosophen war nur noch Scheler bedeutsam über irgendein Spezialistentum hinaus; und der ist leider tot. An geistigen Wegbereitern der Zukunft sind in Deutschland als Klasse eigentlich nur die Psychoanalytiker im weitesten Verstand zu nennen; sonst nur einsame Einzelne wie Leo Frobenius, Albert Einstein und Albert Schweitzer. Die deutsche Literatur als solche ist heute nicht repräsentativ. Sehr natürlich: nach dem unerhörten Zusammenbruch drücken sich die echtesten Volkskräfte praktisch-konstruktiv aus. Es ist insofern zu früh für eine deutsche Literatur. Kein Wunder daher, dass das Feld im großen und ganzen, von den wenigen bedeutenden Überlebenden der Vorkriegsliteraturperiode abgesehen, die natürlich weiter gelesen werden, Entwurzelten gehört, die eben dem Geist der Liquidation entsprechen. Oder aber Romantikern, die das Heil in irgendeiner möglichst feinen Vergangenheit suchen.

Natürlich gibt es aber auch heute zeitlose Geister. Nur sind deren erschreckend wenige. In England wüßte ich niemand — denn Shaw ist kein zeitloser Geist, wenn er auch gewiss in die Ewigkeit eingehen wird. (Vgl. meine Betrachtung Zeitliche und zeitlose Geister in Philosophie als Kunst; ich verwende hier das Wort zeitlos ausschließlich im dort bestimmten Sinn.) In Italien gibt es niemand. In Russland niemand. In Skandinavien niemand — deren noch lebende Dichter werden meist gewaltig überschätzt. In Spanien lebt Miguel de Unamuno. In Deutschland Stefan George; mir fällt kein zweiter ein, der dem Begriff eines zeitlosen Geists entspräche. Wie ist es nun mit Frankreich? Viele sehen in Paul Valéry einen solchen. Vielleicht ist er es als Dichter, vielleicht sagt seine Dichtung mir persönlich zu wenig, als dass ich darüber urteilen dürfte. Aber mir schmeckt Paul Valéry nach reinem Ende, nicht anders wie Proust; in den Elysäischen Gefilden wird er als Denker jedenfalls seine Zeitgenossen unter den spätgriechischen Sophisten finden. Aber einen zeitlosen Geist hat Frankreich heute doch auch: das ist Henri Bergson. Und auf ihn hin fielen mir diese letzten Betrachtungen ein. Es ist eine der vielen dankenswerten Leistungen Ortegas, dass er den tiefen Sinn der Mode als einer Grundkategorie alles historischen Erlebens aufgezeigt hat. Nun bedeutet das Modern-Sein für die Betreffenden jedesmal ein zeitweiliges Missgeschick. Wer je modern war, muss, laut komischem Gesetz, durch kompensatorische Unmodernität büßen. So ist es auch Bergson ergangen. Trotzdem: er gehört zu den ganz wenigen noch Lebenden, die ganz sicher fortleben werden. Er ist, dank der absoluten Vollendung dessen, was er herausstellt, ein schlechthin zeitloser Geist. Zu ihm wird noch in Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden greifen, wer Geschmack an reiner Geistigkeit hat. Sein Bestes bleiben natürlich seine allbekannten Hauptwerke. Aber auch sein Späteres ist lesenswert. Eugen Diederichs hat soeben seinen Band Die psychische Energie herausgebracht. Die Übersetzung ist nicht schlecht: immerhin, einen Stilisten allerersten Ranges sollte, wer immer kann, im Originale lesen. — Soeben erfahre ich, dass Bergson den Nobelpreis erhalten hat. Diese Nachricht war mir eine reine Freude. Denn im allgemeinen hat es ja den Anschein, als sei das Nobel-Komitee seinerseits zu dem geworden, was alle geistvertretenden Körperschaften auf die Dauer werden: eine Rückversicherung gegen echte Bedeutung, die allenfalls gefördert wird, wenn — ganz gegen Nobels ursprüngliche Intention — baldiger Tod sie unschädlich zu machen verspricht. Insofern kommt ja auch die Ehrung Bergsons — ich will es offen sagen: schamlos spät.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
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